KAPITEL 14
»Halt Stopp! Du willst mir weismachen, dass du keine Tomaten magst? So gar keine?«
Er zog eine so schockierte Miene, als hätte ich ihn persönlich angegriffen.
Ich begann loszulachen.
»Das habe ich nicht gesagt.
Ich kann bloße Tomaten nicht leiden. Wenn man sie würzt und püriert, also als Soße für Pizza oder Nudeln, dann geht es.«
Er schien sich etwas zu beruhigen und nahm die Hand von seinem Herzen.
»Na, immerhin etwas«, übertrieb er und schmunzelte, als ich mit den Augen rollte.
»Du bist dran. Schockiere mich, Tyson Mallion!«, forderte ich ihn auf und sah ihn fordernd an.
Er biss sich auf die Unterlippe und abgesehen davon, dass das verflucht sexy aussah, machte er damit eine echt gute Nachdenker-Grimasse.
»Okay. Aber bitte fall nicht vom Stuhl«, sagte er nach einer Weile, mit einer ziemlich ernstzunehmenden Miene, hinter der sich ein Lachen verbarg. Ich versuchte meine Lippen zu senken – schwierig – um ebenfalls ernst zu wirken.
Er verschränkte die Arme und lehnte sich am Tisch weiter vor. Ich tat es ihm gleich. Tief sahen wir einander in die Augen.
»Ich, Tyson Mallion, ... habe noch nie einen One Direction Song unter der Dusche gehört und ...«
Ich öffnete gespielt geschockt den Mund. Da kam noch mehr?
»Und ich hasse die Musik von Justin Bieber.«
Ich zog geräuschvoll Luft ein, dann kippte ich mit samt dem Stuhl um.
»Ach du Scheiße!«, fluchte Tyson und bückte sich unter den Tisch, um mich am Boden liegen zu sehen.
Zeitgleich brachen wir in lautes Gelächter aus.
So laut, dass die Gläser in den Schränken zu klirren begannen, und so herzlich, dass wir zeitgleich zu weinen begannen.
»Nicht Justin Bieber!«, weinte ich vor Lachen und krümmte mich auf dem Boden. Tyson hatte Mühe und Not sich auf seinem eigenen Stuhl zu halten.
Der Anblick war urkomisch.
»Ich muss dir auch noch was gestehen«, brachte ich in meiner Atemnot hervor.
Tyson ruderte mit der Hand, forderte mich auf, weiterzusprechen.
»Ich hab' noch nie Harry Potter geguckt!«, entfuhr es mir mit einem Glucksen, das Tyson den Rest zu geben schien.
Mit einem geräuschvollen Rums lag er plötzlich neben mir und ragte dabei die Tischdecke mit samt unseren Gläsern auf den Boden. Klirrend schlugen sie auf die weißen Fliesen und blieben dort heil liegen.
Unser Gelächter verstummte, zeitgleich sahen wir zu den Gläsern und dann zurück zueinander. Sekunden war es unheimlich still, dann platzte Tyson in den Schock.
»Ich hab auch noch nie Harry Potter geguckt!«, flüsterte er, als würde er mir eine Geistergeschichte erzählen.
Und schon fingen wir wieder wie die Irren zu lachen an.
Es fühlte es sich an, als wären wir stockbesoffen und high zur selben Zeit, dabei hatten wir lediglich unser Essen gegessen, Leitungswasser getrunken und uns ansonsten seit geschlagenen drei Stunden bestens unterhalten.
»Bist du sicher, dass du nicht doch etwas in dein Essen gemischt hast?«, fragte ich nach Minuten, in denen ich einfach nicht mehr fähig war, zu lachen, weil mir mein Bauch so schrecklich wehtat.
»Du meinst Tomaten?«, prustete Tyson und auch ich fing wieder zu kichern an.
»Ja. Tomaten zum Beispiel. Die können bekanntlich noch mehr als Brechreiz auslösen.«
»Du musst von denen brechen?«
Ich nickte.
Gefühlt ja. So ekelig wie diese Dinger waren. Igitt.
»Ich musste erst einmal von Tomaten brechen. Aber eigentlich waren es keine Tomaten. Es waren Marshmallows, in Form und Farbe einer Tomate. Und Marshmallows, die sind wirklich ganz schlimmes Zeug.«
Er verzog angewidert das Gesicht, als hätte er jahrhundertelange Erfahrungen mit dem Süßkram.
»Marshmallows? Die magst du nicht? Was ist mit Gummibärchen und Lakritzen?«
»Die sind okay«, erleichterte mich Tyson, denn mal ehrlich, wer mochte denn keine Gummibärchen?
»Gut. Ich dachte schon, ich müsste aufstehen und nochmal vom Stuhl fallen. Das wäre ja schlimmer gewesen, als die Tatsache, dass du noch nie One Direction unter der Dusche gehört hast.«
Wir grinsten einander durch die Tischbeine zwischen uns an.
»Keine Angst, Rubs. Heute musst du vor Schrecken noch nicht sterben.«
Er zwinkerte mir kokett zu, dann erhob er sich elegant, legte die Tischdecke wieder provisorisch auf die Holzplatte, stellte die Gläser darauf und umrundete den Tisch, um auf mich zuzukommen.
Hilfsbereit streckte er eine seiner Hände nach mir aus.
»Puh. Ich hatte mein Leben schon an mir vorbeiziehen sehen«, murmelte ich erschöpft und ließ mich träge auf die Beine ziehen. Tyson grinste mich an.
»Erliegt da jemand dem Essenskoma nach einer wirklich guten Mahlzeit?«, fragte er mich und machte nicht den Anschein, mich loslassen zu wollen, hatte er erst einmal meine Hände ergriffen.
»Aber hallo!«, sagte ich und streichelte über meinen Pullover, der das entstandene Food-Baby bedeckte.
Tyson folgte meiner Hand.
»Ich glaube, ich bin in der siebten Woche«, kicherte ich.
Tyson lächelte sanft.
»Wenn es ein Mädchen wird, nennen wir es Amara. An einen Jungen wollen wir gar nicht denken«, antwortete er und brachte mich zum Schmunzeln.
»Wer sagt denn, dass du der Vater bist?«, fragte ich und wandte meinen Blick von meinem Bäuchlein hoch zu Tyson. Er folgte meinem Kopf und sah mir in die Augen.
Sein Blick war so offenherzig, dass ich glaubte, verloren zu gehen. Die Küche verschwamm.
»Ich sage das. Ganz einfach«, bestimmte Tyson und klang höchst überzeugt. Ich zog eine Augenbraue in die Höhe.
Er grinste mir frech in die Augen.
»Amara also? Und wenn es doch ein Junge wird?«, mutmaßte ich.
Tyson überlegte.
»Vielleicht Tyson Junior?«
Ich schüttelte bestimmend mit dem Kopf.
»Auf gar keinen Fall. Wie wäre es mit Cillian oder Amaury?«
»Amaury? Klingt Französisch.«
Ich lächelte.
»Es ist Französisch. Und bedeutet so viel wie "Der mächtiger Herrscher"«, verriet ich.
Tyson schien sich den Namen unseres imaginären Kindes auf der Zunge zergehen zu lassen.
»Amara und Amaury. Gefällt mir«, gab er nach Sekunden sein Einverständnis und grinste von der einen Wange zur anderen. Ich fragte mich just in dieser Sekunde, wie wir urplötzlich zu dieser Art von Gespräch gekommen waren, seit wann wir Händchen hielten und so viel Spaß miteinander haben konnten.
Es hatte sich nichts verändert.
Aber irgendwie hatte sich auch alles verändert.
Wir hatten uns verändert.
Aber nur für den Moment.
Sicher nur für einen Moment.
Ich sah hinauf zu Tyson,
durchdrang seine Augen mit meinen eigenen und fand mein Spiegelbild in seinen Pupillen, die mich sanft und aufmerksam, beinahe einbildend liebevoll fokussierten.
Ja ... ganz bestimmt nur für einen Moment.
xxxx
»Ulala! Was geht denn hier ab? Haben wir was verpasst?«
Stunden später platzten in einer Horde alle restlichen Mitglieder der Mallion Familie ins Wohnzimmer, in das wir nach dem Spektakel in der Küche gewandert waren.
Landon und Tristan trugen schwarz-weiße Trikots. Ich hatte schon mitbekommen, dass sie im Basketballteam ihrer Uni spielten und das gar nicht mal so schlecht, wie ich hörte.
Jonah und Louis trugen ihre übliche Schuluniform, die aus schwarzer Anzughose, weißen Hemden und einem schwarzen Jackett mit dem Logo ihrer Privatschule in Kensington bestand.
Sogar dieses triste Outfit rockten die gut aussehenden jungen Männer und ich mochte verflucht sein, wenn ihnen die Mädchen auf dem Schulhof nicht in Scharen hinterherliefen.
»Hey, Jungs!«, grüßte ich freundlich und hob meine Hand, um ein Winken anzudeuten.
Tyson nickte lediglich.
Urplötzlich war er nicht mehr so gesprächig und ich wusste sofort, dass der Moment jetzt vorbei war.
Ich hatte darauf gewartet.
Ich hatte es gewusst.
In Sekundenschnelle war sein eiskalter und gleichgültiger Blick wieder auf seinem Gesicht aufgezogen und ließ nicht für eine Sekunde den Glauben aufkommen, dass er etwas für mich übrig haben konnte.
Ich bestaunte seine Fähigkeit, so schnell die Stimmung zu ändern und innerhalb von Millisekunden jede Gefühlsregung von sich fallen zu lassen.
Dieser Mann war ein Meister der Verschwiegenheit und in vielerlei Hinsicht ein Künstler mit Maske.
Aber er konnte nicht alles verbergen.
Nicht mehr.
Nicht mehr vor mir.
Und vielleicht war das das Gefährliche.
»Hey, Ruby-Bubi! Na, Kleines, wie war dein Tag?«
Tristan warf sich auf die zweite Couch und streckte seine Beine lang aus.
Keine zwei Sekunden hockte sich auf der Rest der Mannschaft ins Wohnzimmer und leistete uns Gesellschaft.
Ich sah lächelnd in die Runde.
»Gut. Ich bin heute vom Stuhl im Esszimmer gefallen, wäre beinahe an meiner Lache erstickt ... oh! Und übrigens, werdet ihr alle Onkel von meinem Food-Baby!«, platzte es grinsend aus mir hervor.
Die Anderen begannen bei meiner kindischen Euphorie zu lachen.
Selten hatte ich so geredet wie heute, aber mit einem Mal fühlte ich mich locker und losgelöst, ernsthaft gesprächig.
»Wusste ich es doch. Euch zwei Turteltäubchen kann man nicht allein lassen«, kommentierte Landon und sah mit wackelnden Augenbrauen zwischen Tyson und mir her, der dabei war, die ausgebreiteten Zettel und Pläne auf dem Wohnzimmertisch vor uns, zusammenzufalten.
Ein doofes Grinsen huschte auf seine Lippen, als ich in die Runde fragte, ob das Baby lieber eine Amara oder ein Amaury werden sollte.
»Na, was wohl? Eine Amara natürlich!«, platzte es aus Jonah und er erhielt einstimmiges Nicken von Tristan und Landon.
Nur Louis schüttelte den Kopf.
»Ich bin für einen Sohn. Aber er sollte deine Haare bekommen, Rubs. Weil die sind einfach nur anders cool«, äußerte er sich und erhielt ebenfalls ein Nicken der Runde.
»Jap. Auf jeden Fall. Tyson sieht neben dir einfach nur stinklangweilig aus«, stellten sich die Brüder gegen ihren ältesten, der sein Lächeln mittlerweile wieder hatte fallen lassen.
Ich schüttelte unauffällig den Kopf.
Langweilig.
Ich fand Tyson alles andere als langweilig, aber weil ich wusste, dass man ihn hier nur aufziehen wollte, sagte ich diesbezüglich nichts.
Er selbst schien ebenfalls nichts auf die Worte zu geben.
Er hatte sich mal wieder komplett abgewandt und seinen Blick auf die Papiere gerichtet, die ihm wichtiger zu sein schienen, als die Gespräche mit seinen Brüdern, die, auf meine Frage hin, auch von ihrem Tag berichteten und den Schabernack zu Tisch brachten, den sie heute mal wieder getrieben hatten.
Die Stimmung war so ausgelassen, wie immer. Die Jungs machten es nie langweilig und ich fühlte mich so wohl wie gewohnt, bis von der Kellertreppe urplötzlich dumpfe Schritte zu hören waren und sich einige Sekunden später eine Gestalt im dunklen Anzug in den Türrahmen zum Wohnzimmer stellte und mein Lachen augenblicklich zum Sterben brachte.
Logan.
Seit Samstag hatte er sich nicht mehr blicken lassen. Jetzt war er zurück.
Und wie er zurück war.
Ich hatte sein erzürntes und wütendes Gesicht beinahe vergessen.
Seine rot scheinenden Augen, die wie sofort auf mich gerichtet waren und seine geballten Fäuste.
Aber heute war etwas anders an ihm.
Heute war er nicht nur wütend und sah angewidert auf mich nieder.
Es war etwas anders.
Da klebte Blut.
Frisches Blut.
Überall an ihm.
An seinen Fingern, in seinem Gesicht und mitten auf seinem Hemd.
Ich wollte etwas sagen, aber ich war wie erstarrt und hatte urplötzlich wilde Bilder in meinem Kopf spuken, die mich erschrocken zusammenfahren ließen.
Tyson schien deswegen aus seiner eigenen Starre zu schrecken und bevor ich noch länger auf das ganze Blut starren und mich an jenen Tag, an dem mehr als nur Blut geflossen war, erinnern konnte, stellte er sich in mein Sichtfeld und stemmte sich gegen Logan, um so schnell wie möglich mit ihm aus dem Wohnzimmer zu verschwinden.
Er verließ mich ohne einen letzten Blick, dafür waren in Sekunden alle anderen bei mir und umzingelten mich, um unbewusst das zu vertreiben, was sich niemals ganz vertreiben lassen würde.
Niemals.
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