KAPITEL 13


RUBY

Am nächsten Morgen erwachte ich in meinem Bett.
Feinsäuberlich zugedeckt, aber noch immer in dem weißen Pullover vom Vortag, auf den mit schwarzem Faden zwei Hände gestickt waren, die sich nacheinander ausstreckten.

Für einen Moment war ich orientierungslos, dann aber prasselten die Erinnerungen des letzten Abends auf mich ein und ließen mich einen Moment in Gedanken an die Decke starren.
Was für ein verwirrender Montag das doch gewesen war.
Wer mich wohl ins Bett getragen hatte?

Ich vermutete Landon oder Tristan. Immerhin war ich zwischen den beiden in Ruhe und Frieden eingeschlafen. Oder war es doch Tyson gewesen?
Nach minutenlangem Nachdenken beschloss ich, dass es mir egal war.

Vorsichtig hob ich mich aus dem Bett – noch immer klapprig auf den Beinen – zog mir eine der neuen Jeanshosen an, huschte aus der Tür in den Flur und dann hinab ins Erdgeschoss.

An diesem Dienstag fühlte ich mich von einer Last befreit.
Ich konnte es nicht beschreiben, aber ich hatte tatsächlich nichts in meinem Kopf, das mir ernsthaft Kummer bereitete.
Lächelnd nahm ich die Sonne entgegen, die in der Eingangshalle durch die bunten Glasfenster der Haustür schien, stellte mich extra in die Strahlen und nahm den Schauer, der mir über den Rücken lief mit einem zufriedenen Seufzen entgegen.
Einen Moment stand ich reglos da.
Dachte an alles und nichts und erfreute mich daran, dass dieser Tag hell und sonnig zu werden schien.

Mit der Sonne kam die Sehnsucht nach einem Spaziergang an der frischen Luft. Barfuß über Wiesen und Felder, durch Wald und Stadt wandern und den Wind spüren, der die Haare aufwehte, während die Vögel in den Baumkronen zwitscherten. Ich vermisste meine Freiheit, die Nächte, die ich abgehauen, mir ein Handy geklaut und auf dem alten Kiosk irgendwo in London in den Himmel gestarrt hatte.
Ich fühlte mich nicht eingesperrt. Ganz im Gegenteil, die Jungs hatten mir eine Freiheit geschenkt, die ich seit über einem Jahr nicht gehabt hatte, aber sie war nicht genug.
Sie war nicht das, was mein Bedürfnis nach Freiheit befriedigte.
Sie war ein Anfang und ich besann mich schnell darauf, dass ich für diesen Anfang mehr als nur dankbar sein sollte.

Mit einer Wolke, die sich vor die Sonne schob und ihre Strahlen davon abhielt, in mein Gesicht zu scheinen, wandte ich mich ab und lief durchs Haus in die Küche.
Dort war niemand.
Und auch im Wohnzimmer, Garten und im Keller konnte ich niemanden entdecken.

War ich allein?
War Tyson noch immer nicht zurück?
Gestern war er ohne ein Wort abgehauen. Seine Miene war eiskalt gewesen und er hatte sich so konsequent und dunkel fortbewegt, dass ich ihm bloß stumm hinterher gesehen hatte.

Gab es Stress im Büro?
Die letzten Tage war er immer mal wieder für einige Stunden außer Haus gewesen, nie aber mit einem Blick wie dem von gestern.
Die meiste Zeit arbeitete Tyson innhäuslich. Seine Zeichnungen und Planungen für neue Gebäude konnte er schließlich überall anfertigen.
Ich wusste aber – schließlich war Tyson Mallion kein unbekannter Name in Londons Szenerie – dass er auch ein Architekturbüro in der Innenstadt besaß, wo er oder einer seiner Mitarbeiter Kunden empfangen konnte.

Tyson war ein geschätzter Mann. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, aber sein Name war am Esstisch mit meinen Eltern das ein oder andere Mal gefallen. Er war jung und erfolgreich und mein Vater musste ihn gemocht haben, wenn er ihm sogar ein ganzes Haus in die Hände gelegt hatte.

An die Villa hatte ich in den letzten Tagen weniger Gedanken verschwendet, hatte sie förmlich verdrängt.
Aber langsam realisierte ich meine neue Realität, meine Chancen und ich wusste, dass ich mich in den nächsten Tagen und Wochen intensiv mit meiner Zukunft beschäftigen musste.

Ich wusste, dass es bald an der Zeit war, zu der Rubinia Sullivan zu werden, die ich zu sein hatte.
Ich wurde älter, die Zeit rannte und in ein paar Monaten würden sie mich abermals meines Willens entrauben.
Bis dahin musste ich meine Pläne zurechtgelegt, musste den Deal mit Tyson abgeschlossen und mich von den letzten Ketten meiner Vergangenheit losgelöst haben, ehe ich endlich verschwinden konnte.

Bald war ich nicht mehr die siebzehnjährige Ruby, die als das gewalttätige Waisenkind abgestempelt wurde und auf Bewehr durch die Stadt laufen durfte.
Diese Welt wartete auf den Oktober, an dem ich meine Volljährigkeit erreichen würde und sie ihre letzten Gerichtsbeschlüsse durchziehen würden.
Da würden Tage kommen, an denen ich mich mit fremden Menschen zu beschäftigen hatte, denen ich meine Unschuld beweisen oder ein Geständnis auftischen konnte, das mich lebenslang hinter Gitter bringen würde.
Oder ich konnte schweigen und dasselbe erfahren.

Was auch kommen würde, was ich auch tun würde, am Ende würde ich verlieren. Deshalb hatte ich vor, diesen Krieg ohne Angriff schon vorher zu beenden.
Ich sah darin meinen einzigen Ausweg und tief innerlich auch den besten.

Ich werde gehen.
Zu dir, ... Jonas.

xxxx

Heute wirkte er entspannter.
Der Ausdruck von gestern war einem konzentrierten gewichen und wie immer war er vollkommen fokussiert auf sein Tablet.
Ich wusste nicht, warum ich ihn gesucht hatte, aber tief innerlich war ich froh, dass ich ihn gefunden hatte.

Er sah ganz anders aus, als ich ihn kennengelernt hatte.
Heute trug er einen schlichtgrauen Nike-Pullover und dazu eine kurze schwarze Shorts. Er wirkte deutlich jünger und weniger wie ein kühler Geschäftsmann, als jemand, der Leidenschaft für Kunst und Design aufbrachte.

Und wie immer strahlte er Faszination aus.
Perfektion eines Körpers mit dem Haar, das sich auf seinem Kopf krauste, mit den Ringen an seinen Fingern, die er nie abzulegen schien und dem Lederband, das ich um sein Fußgelenk hängen sah.

Wunderschön, das war er.
Wunderschön.

»Du starrst, Rubinia

Der Klang seiner Stimme – rau, dunkel und klar – hallte melodisch in meinen Ohren wieder und ich wusste nicht, was mit mir los war, als ich knapp zu Grinsen begann.

Natürlich hatte er mich bemerkt.
Dieser Mann hatte seine Aufmerksamkeit überall und nirgendwo. Und wenn wir denselben Raum betraten? Dann bemerkten wir einander.
Es war wie ein lustiges und einfaches Spiel, seit wir einander begegnet waren.
Und es war undefiniert, aber perfekt.

Da er mich sowieso bemerkt hatte, schlüpfte ich durch die Tür und schloss sie hinter mir wieder.
Vorsichtig betrat ich den Raum und näherte mich Tyson, der hinter seinem Schreibtisch saß und es in seiner Konzentration nicht eine Sekunde schaffte, mich anzusehen.

»Arbeitest du den ganzen Tag?«, fragte ich und legte den Kopf schief.
Er wollte da weiter machen, wo er angefangen hatte und mich behandeln wie Luft?
Bitte schön. Heute war ein guter Tag und ich würde mir meine – ausnahmsweise vorhandene – gute Laune nicht von diesem Proll kaputt machen.

»Ja«, bestätigte Tyson abgehackt und zog mit seinem Pen ein Sofa über den Bildschirm, um es im 3D-Grundriss eines Hauses zu platzieren.

»Hast du gerade viel zu tun?«, fragte ich weiter und kam ihm immer näher.

»Ja«, wiederholte er sich und ich konnte nicht sagen, ob er mir ernsthaft zuhörte und darauf antwortete oder einfach nur so tat, als würden wir eine ziemlich schlechte Konversation führen.

»Störe ich?«

Für eine Sekunde hielt er inne. Ich war direkt neben ihm stehen geblieben und blickte ihm über die Schulter.
Er besann sich schnell, schüttelte den Kopf und drehte ihn dann in meine Richtung.

»Was willst du, Ruby?«, beteiligte er sich endlich und schenkte mir seine Aufmerksamkeit. Ich wusste nicht, wieso ich sie hatte haben wollen, aber jetzt gefiel sie mir.

Tysons Augen wanderten über mein Gesicht, musterten meine neue Kleidung und ich glühte unter seinem Blick, als würde ich wieder in den Sonnenstrahlen von eben stehen.
Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, als mir eine Idee kam, von der ich nicht wusste, wie gewagt und dumm sie war und woher sie kam. Tyson hob fragend eine Augenbraue.

Er konnte gar nicht reagieren, da hatte ich mich schon auf seinen Schoß gesetzt und es mir auf seinen Oberschenkeln bequem gemacht.
Er zog scharf die Luft ein. Ich grinste einfach weiter.

»Dich nerven«, antwortete ich schließlich auf seine Frage und sah ihn an. »Sieht man das nicht?«
Seine Lippen zuckten, als er mein Gesicht sah.

»Nein, sieht man überhaupt nicht«, antwortete er und rollte ironisch mit den Augen, machte aber keine Anstalten, mich loswerden zu wollen.
Stattdessen drehte er seinen Schreibtischstuhl so, dass wir beide auf das aufgestellte Tablet sehen konnten.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte er, während er den Stift wieder zur Hand nahm und weitermachte, als würde ich ihm auf dem Schoß überhaupt keine Umstände machen.

»Wie ein Stein. Und du?«

»Gar nicht. Ich hatte gestern noch etwas Wichtiges zu erledigen, das ein wenig länger gedauert hat, als angedacht.«

Ich nickte stumm. Dann musste es ja mächtig schief gelaufen sein, wenn er die ganze Nacht weggewesen war.

»Und anstatt jetzt zu schlafen, hast du dich entschlossen, einfach einen Tag dranzuhängen?«

Seine Augen huschten für eine einzige Sekunde zu mir.

»Exakt«, nickte er und wandte sich wieder dem Tablet zu.
Eine Weile beobachtete ich ihn, musterte was er tat und versuchte das System zu analysieren.
Es schien einfach.

Das Haus war vorgefertigt und mit einem einzigen Klick zoomte das Programm sich in den Raum, den man drehen und wenden konnte, wie man wollte, um an Wände, Decke und Boden gewünschtes Interieur in allen möglichen Farben und Formen einzusetzen.

»Wird das ein neues Haus?«, fragte ich und beobachtete gespannt, wie Tyson mit wenigen Handgriffen einen Teppich in einen Cremeton färbte, in ein Fenster Maße eintippte und den Teppich schließlich in einem der Räume platzierte. Darauf kamen eine Eckcouch in Hellgrau und ein Fernseher an die gegenüberliegende Wand. Direkt darunter baute er ein weißes Regal und links und rechts vom TV zwei weiße Vitrinen.
Im Handumdrehen hatte er einen Raum dekoriert, mit Pflanzen, Gemälden und Licht ausgestattet und alles aufeinander abgestimmt.
Dabei arbeitete er mit pingeligen Details. Dieser Mann ließ nichts aus, war vollkommen fokussiert und dennoch so entspannt wie eh und je.

Sein Gesicht war reglos und ernst. Und trotzdem bekam ich das Gefühl, dass ihm seine Berufung unfassbaren Spaß machte.

»Ja. Der Rohbau steht. Es wird eine nette, kleine Hütte in einem Vorort von London.
Das Pärchen will im nächsten Halbjahr einziehen.
Wird langsam Zeit, dass ich mich an die Arbeit mache«, antwortete er ein wenig verspätet, aber immerhin.

»Es sieht schön aus.«

Das tat es wirklich.
Es war ein Holzhaus mit hohen Decken und bodentiefen Fenstern. Die Haustür war ein halbrundes Tor und so wie Tyson einrichtete, blechte dieses Pärchen nicht nur eine Menge Geld, sondern würde auch in ein ziemlich geschmackvolles Heim ziehen.

»Was meinst du? Eher eine weiße Küche im Landhausstil? Oder ein dunkler Kontrast mit schwarz?«, wandte sich Tyson an mich. Ich überlegte eine Sekunde, aber eigentlich lag mir eine Antwort auf der Zunge.

»Landhaus. Eindeutig. Aber wieso nicht in einem etwas milderen Ton? Beige würde super zu den Wänden passen und um es kontrastreicher zu machen, würde ich ein wenig Farbe mit einspielen. Wie wäre es mit Mint?«

»Mint?«
Er hob überrascht eine Augenbraue. Ich klaute ihm kurzerhand seinen Stift und besaß die Frechheit die Objekte auszuwählen, die ich nehmen und kombinieren würde. Ich rechnete mit Protest, aber wieder überraschte mich Tyson und überließ mir widerstandslos das Feld.

Ich probierte mich am Bauen der Küche, während er sich nach einigen Sekunden entspannt zurücklehnte und mich dabei mit sich zog.
Mein Rücken lehnte sich gegen seine Brust und ich musste das Tablett mit auf meinen eigenen Schoß ziehen, um weiterarbeiten zu können.

Mit dieser aufgeschlossenen Nähe hatte ich nicht gerechnet. Aber Tyson schien erschöpft und müde und gerade ziemlich bequem zu sitzen, als das ich mich beschweren wollte.
Für einen Moment schloss er die Augen, war wohl doch müder, als er zugeben wollte und legte sein Kinn auf meiner Schulter ab, um seinen Kopf an meinen zu lehnen und einen Moment zu dösen.
Ich ließ ihn machen.
Es störte mich nicht.
Komischerweise störte ich mich an gar nichts und genoß den Moment vielmehr.

Tyson strahlte für mich nicht mehr, als Geborgenheit und Wärme aus. Gefühle, die ich nicht verdrängen wollte.
Nicht heute.
Nicht jetzt.

Während er mich also an sich zog und wir die Umstände zu unseren Gunsten drehten, vergaßen, dass wir uns gerade einmal zwei Wochen kannten und weniger als nichts für den jeweils anderen waren, richtete ich die Küche ein, färbte die Insel in dem Mintgrün, das ich vorgeschlagen hatte und setzte, weil es anfing Spaß zu machen, auch in die anderen Räume ein paar Objekte ein.

Ich kicherte leise, als ich am Ende meiner Arbeit ein Feld entdeckte, das Personen in die Räume integrierte.
Die zweidimensionalen Figuren mit Aktenkoffer oder diejenigen, die mehr einem Schatten glichen, taten es mir an und kurzerhand hatte ich eine ganze Armee von ihnen in die Skizzen eingefügt.
Drei von ihnen saßen im Badezimmer, einen hatte ich an den Schornstein gehängt und der Rest feierte eine Party auf der Küche.
Ich kam aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, so lustig sah das Bild aus. Erst als sich zwei Arme um meinen Körper schlangen und mich bestimmend umfassten, schreckte ich zusammen und drehte meinen Kopf in Tysons Richtung, um festzustellen, dass er wieder aufgewacht war und mich mit einem Glitzern in den Augen musterte.

Beobachtete er mich schon lange?
Ich konnte es nicht sagen.
Ich verlor mich in dem Moment, in dem sich unsere Augen trafen und ich realisierte, wie nah wir einander waren. Unsere Gesichter schwebten nur Zentimeter voreinander, wie gestern konnte ich Tysons Atem auf meiner Haut spüren und bekam eine Gänsehaut, wenn ich nur daran dachte, dass er mich fest umschlungen an sich hielt und ich ihm nicht entkommen konnte, nicht entkommen wollte.

»Na, was hast du angestellt?«, durchbrach er die Stille und streckte aus dem Nichts eine Hand nach mir aus, um mir eine meiner weinroten Strähnen aus dem Gesicht zu streichen.
Mein Mund stand leicht offen, als ich seinen Daumen über meine Wange fahren spürte und das entstehende Prickeln auf meiner Haut willkommen hieß.

Himmel!

Ich versuchte mich zu sammeln. Aber das war schwerer als gedacht, als Tyson einmal damit angefangen hatte, mich zu berühren. Was tat er da?

»Ich-«, setzte ich an, wurde aber von seiner Hand unterbrochen, die von meinem Ohr eine kurvige Linie hinunter zu meinem Hals fahren ließ und seine Fingerkruppen mit ihrer Sänfte meine Haut kitzelten.

»Du?«, hauchte Tyson und half mir dabei nur sehr schelmisch auf die Sprünge, als er urplötzlich wieder höher fuhr und mit dem Daumen über meine Lippen streichelte.

Gott ... was machte er da?

Er senkte seinen Kopf, kam mir näher als nah, als ich immer noch nicht weiter zu sprechen wusste.
Seine linke Hand strich mir mein Haar zur Seite und ich spürte seine Lippen an meinem Ohr. Zittrig atmete ich die Luft ein.

»Hat es dir die Sprache verschlagen, Rubinia?«
Seine leise Stimme ging mir durch Mark und Bein. Sie war heiß und kalt und brachte in meinem Magen etwas gewaltig zum Explodieren, als er mich urplötzlich unter dem Ohr küsste und damit wirklich jeglichen Verstand aus mir hinaus katapultierte.
Noch nie hatte mich ein Mann derartig berührt, nie hatte ich auch nur geahnt, wie gut sich das anfühlen, welche Gefühle es erwecken konnte.

Es war verwirrend und merkwürdig, Tyson so nahe zu sein, aber ich wollte es.
Erschreckenderweise ... gefiel mir das, was er tat.

»Verstehe«, raunte er und strich mit seiner Nasenspitze über meine Halsschlagader, ehe er mich erneut dort küsste und sich währenddessen das Tablet von meinem Schoß schnappte, als würde das, was er mit mir tat, ihn in keinster Weise berühren.
Dabei kannte ich die Wahrheit.

Ich wusste, er genoß das, was er tat.
Er genoß es, mich zu provozieren, um dem Verstand zu bringen, mit mir zu spielen. Denn ich liebte es auf dieselbe Weise.

Tyson ließ von mir ab, kaum hatte er das Tablet zurückerobert. Ich atmete leise und möglichst unauffällig all die angehaltene Luft aus, aber sein aufmerksamer Blick ließ mich wissen, dass ich nichts vor ihm verbergen konnte.

Es dauerte einige Sekunden, bis er seinen feurigen Blick von mir abwandte und auf sein iPad richtete.
Ich biss mir auf die Lippe. Wusste mit einem Mal nicht mehr, wie klug es gewesen war, die eine Person auf die Toilette und die andere unter die Dusche zu stellen, wo doch eigentlich eine wichtige und ernsthafte Arbeit hätte getan werden sollen.
Tysons Ausdruck blieb einige Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, ungerührt und ernst.
Ich glaubte, er würde sauer werden, stattdessen aber wurde ich abermals mit dem Gegenteil überrascht.

Er versuchte gegen sein Grinsen anzukämpfen.
Tatsächlich bekriegte er krampfhaft seine Belustigung, bis er die Person mit dem Schneebesen in der Hand im Schornstein entdeckte und sich nicht mehr halten konnte.

Rau und herzlich, ansteckend und echt begann Tyson loszulachen und füllte innerhalb von Sekunden den Raum mit seinem wunderbar klingenden Gelächter, das ich noch nie in dieser Form gehört hatte.
Mir drohte das Herz stehenzubleiben, so schön war es, dass Tyson lachte und so gut fühlte es sich an, dass er wegen mir lachte.

Und wie er lachte.
Minutenlang schien er sich nicht mehr einzukriegen und erst als eine Lachträne aus seinem rechten Auge auf die geröteten Wangen tropfte, beruhigte er sich langsam wieder.

»Ich sehe schon«, setzte er an und legte das Tablet zurück, ehe er seine Arme wieder um mich schlang und so nahe an sich zog, dass kein Blatt mehr zwischen uns passte.
»Das Einrichten von Häusern, beziehungsweise das Platzieren von ziemlich hässlichen Menschen darin, macht dir mächtig Spaß.«

Er schenkte mir ein noch immer zutiefst amüsiertes Lächeln und präsentierte mir die Reihe weißer Zähne in seinem Mund. Ich nickte, mit einer ebenso verkniffenen Miene.
Er war also nicht sauer.
Ganz und gar nicht.

»Ich finde es toll«, gestand Tyson und sah mich ehrlich an. Ich legte den Kopf schief.
Er sah mich ernst an.
»Wirklich. Die Küche sieht fabelhaft aus, mal davon abgesehen, dass die Katze das Spülbecken als Korb zum Schlafen missbraucht.«

Ich kicherte leise.
Tyson sah mich einfach nur an.

Dann irgendwann erhob er sich mit mir in seinen Armen und ließ ein Quietschen aus mir weichen. Mit dieser Bewegung hatte ich nicht gerechnet, dass ich beinahe sofort und etwas verkrampft meine Beinen um Tysons Taille schwang.

Er grinste schelmisch, als er sich so durch das Büro zu Tür bewegte.
Er hatte genau diese Reaktion beabsichtigt.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich.
Er öffnete die Tür und lief durch den Flur zurück in die Eingangshalle und von dort in Richtung Küche.

»Wir zwei werden jetzt etwas essen. Ich mag zwar ziemlich müde sein, aber deinen Magen habe ich dennoch knurren gehört und da es schon knapp ein Uhr ist, wird es allerhöchste Eisenbahn, dass du etwas zwischen die Zähne kriegst.«

Er setzte mich wie am Vortag auf die Kücheninsel direkt neben den Herd und zückte eine Bratpfanne.

»Und ich will keine Widerworte hören. Ich würde das Essen niemals vergiften. Überzeuge dich selbst.«

Und das tat ich.
Als er Kartoffeln zu schälen begann und in Scheiben schnitt, um sie dann in der Pfanne anzubraten, während er sich zusätzlich Zucchini, Paprika und Möhren aus dem Kühlschrank holte und alles der Reihe nach würfelte, um am Ende eine duftende Gemüsepfanne zu haben, beobachtete ich ihn haargenau und sah zusätzlich dabei zu, wie er das Essen, als es fertig war, vor meinen Augen probierte.

Vielleicht schien das ganze albern und ich wusste nicht, für wie lächerlich Tyson mich hielt, weil ich nicht mal darauf vertraute, dass ich unbekümmert essen konnte, aber das alles zählte in diesem Moment nicht.

Er beklagte sich nicht. Nahm meine Worte ernst und demonstrierte mir, dass ich nichts zu befürchten hatte, ich sicher war und er mir niemals etwas tun würde.

Und ich glaubte ihm das für den Moment.
Für den Moment, in dem wir beide uns am Esstisch gegenüber saßen und das frischgekochte und superleckere Essen bis auf den letzten Tropfen aufaßen.

Und ich verspürte Hunger.
Wirklich und tatsächlich hatte ich Hunger, wollte mir nachnehmen und meinen Bauch bis zum letzten Zentimeter ausfüllen.

Und das tat ich.
Pappsatt saß ich Tyson gegenüber und musterte ihn.
Er hatte einen zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht und ich gönnte ihm den kleinen Triumph über mich.

»Danke«, hauchte ich in unsere vollgefressene Stille.
Er schüttelte missbilligend den Kopf.
»Hör auf, dich bei mir zu bedanken. Es war und wird immer selbstverständlich sein.«

Ich senkte den Blick.

Er hatte ja keine Ahnung.

Keine Ahnung, was Selbstverständlichkeit für einen Menschen wie mich bedeutete.

Keine Ahnung, wie unselbstverständlich seine Gesten waren.

Und keine Ahnung, wie dankbar ich ihm war.

Wie unfassbar dankbar.

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