KAPITEL 1


RUBY

Vor Jahren war hier mal ein Kiosk. Genau hier, da, wo ich war.

Hatte man in der Gosse einen Pfennig gefunden, dann kam man hierher und kaufte sich einen von diesen tollen Regenbogenlutschern mit Kaugummi im Inneren.

Kinderaugen leuchteten, wenn sie an den Schaufenstern vorbeiliefen und nachts von den Süßigkeitenregalen träumten, aus deren Vielfalt man sich an guten Tagen eine eigene bunte Tüte zusammenstellen durfte.

Ich erinnerte mich an Tage meines jüngeren Ichs, das sich bettelnd an meine Mum klammerte, sobald wir in diesem Teil der Stadt waren und etwas zu erledigen hatten.
Ich erinnerte mich an ihre Augen, die versuchten den meinen auszuweichen, weil ich als Kind einen Dackelblick drauf hatte, der jeden erweichte.
Ich erinnerte mich an Mums klägliche Versuche, stark zu bleiben, sich nicht zu erweichen und mir meinen Willen zu lassen.
Ich erinnerte mich an jedes einzelne Mal, an dem ich dennoch gewann.

Die Erinnerungen waren auch nach Jahren nicht verblasst.
Sie waren nur ein wenig in den Hintergrund geschoben, weil sie sich nie wieder auffrischten.

Alles im Leben hatte sein Ende.

Und je älter ich wurde, desto weniger wichtig wurden mir die Süßigkeiten, desto weniger musste meine Mutter sich erweichen lassen und desto weniger oft kamen wir her.

Der Kioskbesitzer starb irgendwann.
Er war ein netter Mann gewesen.
Aber er hatte niemanden gehabt, der sein Geschäft fortführte und so schloss sich der Kiosk für immer.

Er nahm seine Süßigkeiten mit ins Grab.

Ich trauerte nie darum.

Obwohl ich das vielleicht hätte tun sollen, wo ich doch in meiner frühen Kindheit so viel Kraft dafür aufgewendet hatte, an seine Kaubonbons und Gummibärchen heranzukommen.

Merkwürdig wie das Leben spielte, nicht?

Was wichtig war, wurde  unwichtig.
Was gut war, wurde ungut.
Was war, wurde nie wieder.
Was jetzt war, war morgen schon ... nur noch gestern.

Der Mensch verlor viel mehr in seinem Leben, als er glaubte zu verlieren.

Tage.
Zeit.
Jahre.
Seine Kindheit, seine Jugend, seine Ersten-Male, vielleicht seine ersten Freunde, seine erste große Liebe ...

Der Mensch verlor viel mehr, als er glaubte zu verlieren, weil auf alles Vergangene etwas Neues folgte.
Etwas, das alles andere verblassen ließ, etwas, das ihn nicht dazu veranlasste, zu vermissen.

Und so lief das Leben.

Es nahm uns Dinge weg, die wir nicht einmal bemerkten.

Die wir erst verloren wussten, als sie längst verloren waren.

Verrückt.

Das Leben war verrückt.

Es war unberechenbar, krank, ein Psychopath, ein Mörder.

Ein verdammter Mörder.

Und ich hasste das Leben.
Ich hasste das Leben dafür, dass es existierte und, dass es mir etwas genommen hatte, das ich sehr wohl vermisste. Ich hasste es, weil es mich nicht wenigstens auch genommen hatte.

Ich hasste dieses Leben so sehr, das konnte mir niemand glauben.
Nicht einmal Mister Bust, der glaubte, alles über mich zu wissen, obwohl er der Ahnungsloseste von allen war.

Ein nutzloser Psychologe.

Einer von denen, die viel von sich hielten, weil sie drei Jahre lang Hausarbeiten über die angebliche Psyche des Menschen studiert hatten und jetzt glaubten, sie hätten auf alles eine Antwort.

Lächerlich.

Er war ein lächerlicher Mann.
Und mit ihm all die Bullen und Ärzte und Richter und Sozialarbeiter, die mir in den letzten Monaten begegnet waren.

Alles lächerliche Menschen.

Alles Menschen, die zu viel von sich hielten, die glaubten, einem Menschen all seine Rechte nehmen zu können, über ihn bestimmen zu können, zu wissen, was für ihn das Beste war.

Als hätten sie eine Ahnung.
Als hätten sie auch nur die leiseste Ahnung.

Ich hasste sie.
Ich hasste sie alle gleichermaßen.

Und wenn ich mir eines geschworen hatte, dann, dass sie alles, was sie mir in den letzten Monaten angetan hatten, faustdick zurückbekommen würden.
Sie würden für all das bezahlen, was geschehen war.
Sie würden hochgradig dafür bezahlen.

»Ruby, komm sofort da herunter!«, durchbrach eine schrille Stimme die wunderbare Stille und ich seufzte innerlich, als ich in die Tiefe sah und Miss Jane auf dem Bürgersteig vor dem Eingang des alten Kiosks entdeckte.

Die Hände tief in ihrem steinalten Mantel vergraben und wie immer ihre hässlich bunten Stulpen und Wollmützen tragend, sah sie mit grimmiger Miene zu mir herauf und blendete mich mit dem scheußlich grellen Licht ihrer Taschenlampe.

»Ich zähle bis drei und wenn du dann nicht hier unten stehst, Fräulein, dann verdoppeln wir deinen Hausarrest!«, drohte sie mir und zog ihre Lippen schmal zusammen, um irgendwie ernst auszusehen.

Aber das scheiterte kläglich.
Und mit dem amüsierten Lachen, das mir aus dem Mund fiel, schien auch sie das zu bemerken.

»Wir können gerne über „Hausarrest" reden! Ich liebe Hausarrest!«

Ich grinste hämisch auf sie nieder und dachte daran, wie oft sie mir schon mit derselben Sache gedroht, wie oft ich schon Hausarrest bekommen und wie selten ich mich tatsächlich daran gehalten hatte.

Eigentlich bekam ich jeden zweiten Tag drei neue Wochen Hausarrest aufgedrückt und musste theoretisch schon jetzt für die nächsten zehn Jahre im Horrorhaus versauern.
Aber Miss Jane war nur eine der wenigen Personen, deren Worte mir herzlich egal waren und an deren Regeln ich mich nicht hielt.

Sie hatte keine Macht über mich.
Sie hielt an ihren Träumchen fest, damit sie nachts besser schlafen konnte, aber sie hatte keine verdammte Macht über mich.

Sie war nur eine weitere Person, der ich irgendwann die Zunge herausstrecken und auf nimmer Wiedersehen sagen würde, weil sie mir schnurzpiepegal war.

»Hör auf deine Witze zu reißen und komm da gefälligst runter! Es ist bald halb zwei und ich habe keinen Nerv mehr für deine Frechheiten! Sofort!«

Sie wurde ein weniger lauter, aber mich interessierten weniger ihre Worte, als die Art, wie sie redete.
Ihre Stimme zitterte.
Ja, sie zitterte, wie sie es immer tat, wenn sie mich nachts versuchte, zurückzuholen.

Sie zitterte, weil sie Angst hatte.
Angst vor der Nacht, vor der Dunkelheit, vor der Straße, vor den Schatten.

Ungeheure Angst, von der ich mich freute, zu wissen.

Arme, Miss Jane.

»Sonst was? Wollen Sie die Polizei rufen, die Feuerwehr? Was wollen Sie mit mir machen? Kein Taschengeld mehr? Hausarrest?«

Ich lachte laut auf, ehe ich mit einem Satz vom Dach des alten Backsteingebäudes sprang und einige Meter in die Tiefe fiel, ehe ich neben der armseligen Frau landete und sie fragend ansah.

»Sie haben nichts gegen mich in der Hand, haben nichts, das mich interessieren würde, nichts, das mir auch nur einen Hauch von Respekt einflößt. Wofür dann die leeren Drohungen, wofür die Mühe?«

Ich legte fragend meinen Kopf schief.
Sie sah mich erzürnt, aber verstummt an.

Denn ich hatte recht.
Ich hatte so recht.

Sie hielt sich einfach nur für wichtig, glaubte, ich würde sie brauchen.
Irgendwie.
Irgendwo.

Aber ich brauchte sie von allen am wenigsten.
Ich brauchte sie nicht als Ersatz für eine Mutter, die ich nicht länger hatte.
Ich brauchte sie nicht.
Ich brauchte sie nicht zum Reden, brauchte sie nicht, um erzogen oder geliebt zu werden.

Denn ihre Liebe trug überhaupt keinen Wert.
Ihre Erziehung war Mist.
Und sie war nicht und würde niemals – niemals – meine Mutter werden.

Ich hatte eine Mutter.
Und ich wusste, dass sie mich liebte, wo auch immer sie jetzt war.
Und wenn sie es nicht war, die mir etwas vorschrieb, die mir mit Hausarrest drohte, dann tat es niemand.

Miss Jane war ein niemand.

Unsichtbar.

Weniger als Luft, die ich schließlich noch zum Atmen brauchte.

Und ich würde ihr das schon noch einklinkern.
Sie würde es irgendwann verstehen.

Verstehen, dass sie irrelevant war.
Dass sie machen konnte, was sie wollte und mich doch niemals würde erreichen können.

»Es gibt keinen Grund, habe ich recht? Sie machen das, was Sie glauben zu können, Ihren Job, und scheitern dennoch, weil Sie nur mit dem Guten in einem Menschen klarkommen.
Sie sind eine naive Frau, eine Träumerin. Sie haben vergessen, dass nicht jeder mit dem Strom schwimmt, dass nicht jeder einen Engel initiiert und, schlichtweg, dass nicht jeder Mensch, ein guter ist, der sich Ihren Regeln beugt.«

Ich ließ mein aufgespieltes Lächeln fallen und sah ihr emotionslos entgegen.

»Zu schade, dass das System nicht auf das Böse in Menschen vorbereitet ist.
Dass es nicht ausreicht, um Böses gut zu machen.
Dass es und Sie nicht genug sind, um mich zu einer Ihresgleichen zu machen.
Wirklich schade, aber so ist eben mal.

So ist es, wenn es einfach nichts mehr Gutes gibt, für das es sich lohnt, das Böse aufzugeben

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