Meine 11 Punkte zur Erstellung von Charakteren
Am Anfang des Spiels steht meist die eine große Frage: Was spiele ich?
Das Tolle an RPGs ist, dass wir uns eine Pause von uns selbst nehmen können. Einfach für ein paar Minuten, vielleicht sogar Stunden in eine andere Welt eintauchen. Jemand anderes sein. Dinge tun, die wir sonst nicht tun. Emotionen fühlen, die viel zu melodramatisch fürs echte Leben sind.
Um es zusammenzufassen: In RPGs können wir unsere Fantasien ausleben. Der Charakter, den wir zum Spielen wählen, ist unser Anker in der Traumwelt.
Eine heilige Schrift zur Charaktererstellung gibt es nicht. Zwei Wege habe ich ja bereits in den letzten Kapiteln vorgestellt. Hier sind nun ein paar Ideen, die ich durch Erfahrung und in Gesprächen mit Freunden gesammelt habe. Vielleicht könnt ihr damit etwas anfangen.
1. Ich versuche, immer von der Spielwelt auszugehen und mich im Vorhinein zu informieren. Es gibt kaum etwas frustrierenderes für alle Parteien, als wenn ein Charakter gar nicht ins Konzept passt.
Nehmen wir beispielsweise eine Low-Fantasy-Welt, in der es zwar Magie gibt, aber alle Charaktere nichtmagisch sind und einfache Berufe haben. Gespielt wird in einer Stadt, in der mehrere verschiedene Fantasykulturen nebeneinander existieren. Es gibt z.B. eine religiöse Gruppe, die Wandervögel verehrt und nur im Sommer in der Stadt lebt. Sie vertragen sich überhaupt nicht mit einer Gruppe von Jägern, die unter anderem eben auch Vögel erlegen. Der Spielcharakter muss nicht aus der Stadt kommen - aber es bietet sich einfach an, um schneller in Kontakt mit anderen Charakteren zu kommen. Wir nehmen also einen nichtmagischen Menschencharakter und machen ihn zu einem Mitglied der religiösen Gruppe.
2. Meistens gehe ich als Nächstes von einer Rolle oder einem Beruf aus. Was macht dieser Charakter in seinem Leben? Wie verdient er sein Geld?
Der Charakter reist viel. Vielleicht ist er ein Händler? Ich habe gerade das Gefühl, dass irgendwas mit Sonnenblumen nett wäre. Sagen wir, er bewirtschaftet im Sommer ein Sonnenblumenfeld und verkauft dann die Kerne, das Öl und besonders schöne Blüten.
3. Wie schon angesprochen, macht es Spaß, Beziehungen zu anderen Charakteren zu knüpfen. Man muss nicht sofort alle seine Verknüpfungen kennen - die besten entwickeln sich häufig im Spiel - aber wenn man sich ein wenig im Vorhinein vernetzt, hilft es beim Einstieg.
Durch seinen kulturellen Hintergrund ist der Charakter bereits mit den anderen Mitgliedern der religiösen Gemeinde verknüpft. Vielleicht hat er Verwandte und alte Freunde dort. Zu der Gruppe von Jägern könnte es ebenfalls Verbindungen geben - vielleicht pflegt er eine langjährige Feindschaft mit einer Jägerin (die von einem anderen Spieler gespielt wird)! Die beiden hauen sich immer wieder gegenseitig übers Ohr.
4. Beim Schreiben macht man sich selten Gedanken darüber, aber auch hier lohnt es sich zu fragen, wie Charaktere sprechen und wie sie sich bewegen. Darüber kann man bereits viele Merkmale transportieren.
Der Händler geht ruhig und behäbig, denn er ist bereits weit gereist in seinem Leben. Ob man auf einem Esel oder einem Rennpferd reitet, am Ende kommt man mit beiden zum gleichen Ziel.
5. Ich bin nicht super konsequent mit persönlichen Zielen. Sie ergeben sich meist im Spiel. Oft hat man ja mehrere, manchmal ändern sie sich. Aber ein grobes Ziel für den Anfang kann sehr helfen!
Der Händler liebt Sonnenblumen, aber er würde auch ganz gerne Lavendel anbauen wie seine Mutter früher- nur findet man den in dieser Gegend so selten. Generell möchte er den Leuten mit seinen Produkten eine Freude machen und zur Gemeinschaft beitragen (woraus sich womöglich im Spiel noch neue Ziele ergeben können). Vielleicht hat die religiöse Gruppe, zu der er gehört, noch ein gemeinsames Ziel. Hier können wieder Bezüge zur Spielwelt hergestellt werden.
6. Anfangs habe ich nie darüber nachgedacht, aber RPGs brauchen Spielangebote, am besten auch von Spielerseite. Die Frage ist, was man den anderen Spielern anbieten kann- und damit meine ich nicht zwingend so etwas wie Waren oder Gegenstände (was in manchen RPGs auch funktioniert), sondern zum Beispiel Jobangebote oder ein offenes Ohr. Du kannst den Leuten auch Konflikte anbieten: indem du sie bestiehlst- oder indem du Leute jagst, die stehlen. Beides macht Spaß!
Einerseits bietet der Händler Sonnenblumenprodukte an, andererseits pflegt er als Mitglied seiner Kultur eine gewisse Konfliktbereitschaft gegenüber den Jägern. Hier ist Raum für Streit und Wettkampf!
7. Oft findet man in Steckbriefen den Punkt „Stärken", gefolgt von „Ängsten/Schwächen". Ehrlich gesagt sind Stärken aber langweilig. Man möchte am liebsten alles können, damit man nicht hinter den anderen Spielern zurückfällt und die Antwort auf Schwächen ist dann oft nur ein mageres „ist zu perfektionistisch" oder "hat eine düstere Vergangenheit". Nur sind RPGs keine Bewerbungsgespräche. Im echten Leben haben wir Angst vor unseren Schwächen, aber seht es so: Die Schwächen eurer Charaktere sind Angriffspunkte für andere. Konfliktherde! Dramafabriken! Quellen der Tragödie! Spaß! Ich lasse Stärken in der Regel als Punkt einfach weg. Wenn ich einen Beruf habe, bin ich ja augenscheinlich schon in irgendwas gut.
Meine Lieblingsschwächen sind Impulsivität (weil man dann gut spontan Konflikte anfangen kann), Ängstlichkeit (weil es immer mehr Spaß macht, sich vor gefährlichen Sachen zu gruseln als den Helden zu spielen) und Gutgläubigkeit (weil andere Leute einen dann gut in Konflikte reinreiten können). Außerdem suche ich mir immer gerne eine mehr oder wenige absurde Angst raus, um ein Potential für lustige Szenen zu schaffen. Sagen wir, der Händler hat große Angst vor Käfern. Deswegen braucht er mit seinen Sonnenblumenfeldern ständig Hilfe!
8. Ein weiterer, spaßiger Punkt: Woran hat dein Charakter Freude? Eventuell ergibt sich das auch erst während des Spiels. Bei meinen Charakteren ähneln sich die Punkte - gewisse Dinge machen mir nunmal einfach Spaß.
Meine Charaktere flunkern und petzen gerne (um andere Leute in die Scheiße zu reiten), treiben häufig Schabernack, lieben Süßes und aus irgendeinem Grund rennen sie meist auch gerne. Aber probieren wir mal was anderes: Der Händler liebt natürlich Wanderungen (ansonsten wäre das ein spannender Konflikt mit seiner Kultur). Er genießt außerdem die guten Dinge im Leben, wie Essen, Musik und Tanz und lange Gespräche mit seinen Liebsten.
9. Schließlich denke ich mir zu meinen Charakteren immer etwas Kurioses aus, das sie gegebenenfalls über sich erzählen können. Es ist nie spektakulär, sondern immer ein bisschen albern.
Früher sollte der Händler mal in einem Boxkampf antreten, weil er so kräftige Schultern hat. Leute setzten viel Geld auf ihn. Monatelang bereitete er sich darauf vor - doch am Tag des Wettkampfs kippte er nach einem Schlag aus den Latschen, scheinbar tot. Dann, nach einer Minute wachte er plötzlich auf und es ging ihm trotz der Delle in seinem Schädel erstaunlich gut. Seitdem trägt er einen Hut, um die Delle zu verdecken. Seine Boxerkarriere hat er an den Nagel gehängt, denn so viel Glück hat man nur einmal im Leben!
Ich mag diese Kuriosität, weil sie im kompletten Gegensatz zu seiner Arbeit als Sonnenblumenbauer steht. Wir haben nun diesen gutmütigen, ruhigen Händler, den man meist mit einem Strauß Sonnenblumen im Arm sieht. Immer wieder heuert er Leute an, die für ihn auf seinem Feld arbeiten, weil er sich so sehr vor den Käfern fürchtet. Er scheint schon etwas älter zu sein, vielleicht um die vierzig bis sechzig Jahre alt, und er ist gut integriert in seine religiöse Gemeinde. Mit dieser reist er zweimal im Jahr den Wandervögeln hinterher (was in dieser Spielwelt vorgegeben ist). Auf dem ersten Blick sieht er wie ein Kämpfer aus, aber tatsächlich ist er eine liebe Seele, die keiner Fliege was zuleide tun würde. Mit seiner langjährigen Rivalin, der Jägerin, ist er immer im Wettstreit- doch irgendwo in seinem tiefsten Inneren ist sie eigentlich seine älteste und beste Freundin. Sie sprechen es nur nicht aus.
10. Schließlich neige ich noch dazu, Charakteren einen inneren Konflikt (was sie bereuen, was sie verzweifelt suchen...) und ein Ideal (eine moralische Orientierung), zu geben. Meist starte ich mit einer Idee und dann entwickelt sich das im Spiel. Für den Händler würde ich mich bei den Idealen an der vorgegebenen Religion orientieren. Seine innere Traurigkeit könnte sein, dass er verstorbene Verwandte vermisst oder dass er der Jägerin eigentlich gerne sagen würde, wie viel sie ihm bedeutet, er aber zu feige ist, den Konflikt zwischen ihren Gruppen zu überwinden. Vielleicht stehen seine Ideale auch im Konflikt zu seinen Wünschen? Vielleicht ist eines seiner Ideale die Wanderschaft und Freiheit, aber gleichzeitig wünscht er sich auch, sich niederzulassen?
11. Zuletzt denke ich mir noch ein paar ganz kurze Geschichten (Wie hat der Händler die Jägerin getroffen? Welche schöne Erinnerung hat er an Sonnenblumen? Was genau geschah damals rund um den Boxkampf? Wie hat er sich dabei gefühlt?), sein grobes Aussehen (Welche Accessoires/Kleider trägt er, die zu diesen Hintergrundinfos passen? Woran erkennt man ihn wieder? Sind Sonnenblumen vielleicht sein Markenzeichen?) und schließlich noch einen Namen aus. Wenn ich es passend finde, zeichne ich ihn. Und schon haben wir einen spielbereiten Charakter!
Hier nochmal eine Zusammenfassung:
1. Verbindung zur Spielwelt
2. Beruf/Rolle
3. Beziehungen/Verknüpfungen zu anderen Charakteren
4. Sprechweise/Bewegung
5. Ziele
6. Spielangebote
7. Ängste/Schwächen
8. Vorlieben / Quellen der Freude
9. Etwas Kurioses
10. Innerer Konflikt, Ideal
11. Geschichte oder Hintergrund, Aussehen, Name
Zugegeben: Der Charakter ist vielleicht nicht der spannendste, aber ich finde ihn irgendwie sympatisch. Und man kann mit dieser Methode auch sehr viel coolere Charaktere erstellen. :)
Welche Herangehensweise gefällt euch bisher am besten? Macht ihr euch im Vorhinein lieber viele Gedanken oder spielt ihr einfach drauf los?
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