Kapitel 2
Ich hatte noch nie von mir behaupten können, Freunde zu haben.
Wie auch?
Der Adel hatte zwar seine kleinen Vorzüge, aber umso mehr Nachteile.
Es gab nur wenig blaublütige Menschen, die wirklich ehrlich sein konnten.
Dein ganzes Leben dreht sich um Macht und Geld, um Ansehen und Vermögen.
Da bleibt nicht viel Platz für Freunde.
Für wahre Freunde.
Freunde hatte jeder, bei denen musste man sich aber nicht wundern, wenn sie einen hintergangen.
Wahre Freunde waren selten.
Ein Geschenk, welches mir nie geschenkt wurde.
„Immer aufrecht gehen, vor den Älteren knicksen und ja nicht die Kontinenz verlieren.", konstant schneller werdend lief meine Gouvernante nun schon geschlagenen dreißig Minuten, vor meinem Bett hin und her.
Ein Wunder, dass sie mit ihrer Körperfülle nicht schon längst umgekippt war.
Die Frau hatte eine Ausdauer.
In der kurzen Zeit fielen ihr immer mehr Verhaltensregeln ein, welche sie lautstark vor mir kundtat.
Anscheinend versuchte sie damit die sogenannte schlechte Erziehung (wie meine Mutter es nannte) wett zu machen.
Immerhin schein ich aber gut genug zu sein, um ein Jahr zu überspringen.
Wie meine Gouvernante mir später erklärt hatte, wurde man nämlich mit 16 Jahren in St. Lenox eingeschult.
Da ich aber nun schon fast 17 Jahre alt war, fehlte mir ein Schuljahr.
Dieses Fehlende konnte ich aber durch meinen vielen Hausunterricht wettmachen und somit regelrecht übersprungen.
Weswegen ich heute schon mit dem zweiten Jahr beginnen würde.
Naja, der Unterricht beginnt erst morgen, aber heute werden die neuen Schüler begrüßt.
Darunter auch ich, leider.
St. Lenox bestand aus einem Mädchen- und Jungenpensionat, welche in getrennten Gebäuden geführt wurden.
Die Jungen und Mädchen wurden überwiegend separat unterrichtet, bei manchen Fächern aber auch gemeinsam.
„Einen Fuß vor den anderen, keine Schimpfwörter und wehe ich höre von schlüpfrigen Party!", diktierte Mrs. Clark weiter.
„Denken sie, ich merke mir das alles?", lachte ich.
Mein Tief von gestern Früh hatte ich überstanden und war nun zuversichtlich, dass ich dort die totale Außenseiterin sein würde.
In Folge dessen würden mich meine Eltern wieder von diesem Internat nehmen und alles wäre perfekt.
„Dann schreib mit!", rief meine Gouvernante aufgebracht.
Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu, „Wir leben im Zwanzigsten Jahrhundert. Keine Partys, keine Drogen, keine Jungs. Verstanden."
„Aber nein, da ist noch so viel mehr zu beachten.", murmelte Mrs. Clark aufgebracht und fing wieder an, Verhaltensregeln aufzuzählen.
Ich ignorierte sie einfach und lies den Blick durch meine Gemächer schweifen.
Hier lebte ich nun schon seit meiner Geburt, aber jetzt erst bemerkte ich, dass ich die Räume nie wirklich in seinen Einzelheiten wahrgenommen hatte.
Da war zum Beispiel die große Flügeltür (wie sie überall im Palais vorhanden war), welche den Eintritt zu meinem Reich gewährte.
Als erstes viel dem Besucher das große Himmelbett auf, welches einen großen Teil des Raumes einnahm.
Die Wand, in der die Tür eingelassen wurde, säumte unzählige Bücherregale.
Auf der linken Seite des Raumes, befand sich eine riesige Fensterfront, in welcher ein Erker die Mitte zierte.
Auf der rechten Seite, konnte man eine Tür erkennen, welche zu meinem separaten Kleiderschrank führte.
An der gegenüberliegenden Wand stand mein Himmelbett, links von ihm befand sich eine weitere Tür zum Badezimmer.
„Lilia Sophie Luis Constance, Baroness von Sachsen! Hörst du mir überhaupt zu."
„Ja Cessl.", brummt ich, während ich mich in die Kissen warf.
Mrs. Clark schüttelte gespielt ärgerlich den Kopf, „Ich bin deine Gouvernante, rede mit mir gefälligst höflich."
Ich grinste, „Das beruht aber nur auf Gegenseitigkeit."
Cecile Clark (oder eher Cessl) kannte ich, genauso wie Arthur, schon seit meiner Geburt.
Sie war eine gemütliche Ü50 jährige Dame, welche mehr für mich wie eine Mutter war, als eine Gouvernante.
Arthur und Cessl waren wie eine kleine Ersatzfamilie für mich, vor der Nacht, hatten meine Eltern nie wirklich Zeit für mich.
Meine Mutter zwar immer noch nicht, aber mein Vater wenigstens etwas mehr.
Lachend warf ich ihr ein Kissen zu, welches sie mit Leichtigkeit fing, damit aber ihren Lauf unterbrach.
Ich werde die beiden unheimlich vermissen.
Wir warfen uns noch ein paar Mal das Kissen hin und her, bis meine Mutter den Raum betrat.
Sie musterte das Geschehen missbilligend.
Die Krönung war, als ich sie direkt im Gesicht traf.
„In zehn Minuten ist die Limousine fertig.", zischte Mum verbissen.
An der Tür fügte sie noch ein, „Ich hoffen in St. Lenox werden sie dir dieses Verhalten austreiben.", hinzu, bevor sie ging.
Einen Moment blickten Cessl und ich uns nur stumm an, dann prusteten wir los.
„Ach Spätzchen, ich werde dich vermissen.", seufzte Cessl wehmütig.
Ich erhob mich von meinem Bett und drückte sie fest an mich, bei ihr musste ich keine Angst haben, dass sie mich verletzte.
Sie war es auch, welche mich nach der Nacht fest an sich drückte und keinen Widerspruch duldete.
„Ich glaube du musst runter, sonst wird deine Mutter noch fuchsig.", Cessl löste sich aus der Umarmung und schob mich zur Tür.
„Sie ist jetzt schon fuchsig.", murmelte ich betrübt.
Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich mein Leben vermissen würde.
Oder eher die Personen in diesem.
„Ich werde dir von hier aus winken.", versuchte mich meine Gouvernante aufzuheitern.
Ich nickte, drückte ihr einen Schmatzer auf die pausbäckige Wange und verschwand dann im Flur.
Noch einmal sog ich den Geruch des Palais in mich auf, verabschiedete mich innerlich von dem Gebäude bis ich letztendlich vor der Eingangstür stehen blieb.
Eine schwarze Limousine wartete vor der langen Steintreppe auf mein Einsteigen.
Während Arthur die letzten Koffer einlud, verabschiedete ich mich von meinen Eltern.
Meiner Mutter schenkte ich ein knappes Kopfnicken, meinem Vater eine knappe Umarmung.
Ich wollte nicht im Streit gehen, doch ich hatte Vater sein schnelles Einknicken noch nicht ganz verziehen.
Zum Abschied reichte mir mein Vater einen Brief, „Der ist für die Leiterin des Pensionats, richte ihr die besten Grüße aus. Wir danken ihr sehr, für ihre schnelle Antwort."
Meine Mutter übergab mir ebenfalls einen kleinen Brief, zusammen mit einem Päckchen, „Gib die Sachen bitte Constance. Sie wird wissen, wann sie es benutzen soll."
Verständnislos blickte ich sie an, „Wer ist Constance?"
Das Gesicht meiner Mutter erhellte ein Lächeln, „Connie ist die Leiterin, welche dein Vater gerade erwähnt hatte. Wir beide waren früher unzertrennlich."
Ich nickte verstehend, „Okay."
„Die Limousine ist bereit, Lady Lilia.", rief Arthur von der Fahrerseite aus.
„Natürlich.", ich verstaute die Präsente in meiner Umhängetasche.
Unbeholfen blieb ich bei der Autotür stehen, „Bye dann."
Sie würden nicht mit mir nach St. Lenox fahren, natürlich nicht.
„Auf Widersehen, Lilia.", antworteten meine Eltern synchronen, als hätten sie diesen Satz schon den ganzen Tag geübt.
Vielleicht war es auch so.
Kurz bevor ich die Autotür zuschlug, winkte ich nochmals Cessl. Ich bezweifelte nämlich stark, dass sie mich durch die abgedunkelten Fenster sehen würde.
Letztendlich schloss ich trotzdem die Autotür und lies mich in die weichen Sitze fallen.
„Wie lang brauchen wir nach St. Lenox?", fragte ich missmutig.
„Vier Stunden."
Resigniert schloss ich die Augen, dass konnte eine lange Fahrt werden.
„Aufwachen, Lady Lilia.", rief Arthur von weiter Ferne.
Warum weckte er mich schonwieder nach fünf Minuten oder waren es doch mehr?
„Wir sind in einer Stunde da."
Verträumt rieb ich mir die Augen, „Da hätten sie mich aber später wecken können."
Im Rückspiegel lächelte Arthur mitleidig, „Sie müssen sich aber noch umziehen."
„Umziehen? In der Limousine?", fragte ich verwirrte.
Unser Butler nickte, „Hat ihre Mutter ihnen nichts gesagt?"
„Nein, hat sie nicht.", zischte ich aufgebracht.
Arthur zuckte mit den Schultern, „Sie müssen sich ihr Festtagskleid anziehen. Es sollte in ihrer Handtasche sein."
Während ich in meiner Tasche kramte, verfluchte ich insgeheim meine Mutter.
Tatsächlich zog eine lange blaue Robe hervor.
Während ich versuchte mich in der Limousine aufzurichten (sie war nicht so hoch, wie man vermuten könnte), lies Arthur bereitwillig die Trennwand herunter.
Das konnte man doch niemanden zumuten!
Leise vor mich hin fluchend, schaffte ich es doch irgendwann das Kleid anzuziehen.
„Vergessen sie nicht ihre Haare aufzumachen.", rief Arthur amüsiert.
Erschrocken zuckte ich zusammen, ich hatte gar nicht gemerkt, dass er die Trennwand wieder herunter gefahren hatte.
Also hatte er auch meine komischen Verrenkungen gesehen.
Na toll, vor dem Butler zum Clown gemacht.
„In der Tasche sind noch Schuhe, ein Tuch und eine Sonnenbrille."
„Eine Sonnenbrille?"
Arthur grinste, „Es wird hell."
„Oh nein.", stöhnte ich.
Das konnte nur eines heißen ... die Presse war da.
Sie stürzte sich auf jede öffentliche Veranstaltung mit auch nur einem Blaublüter.
Das Fest, welches heute St. Lenox veranstaltete, musste ein lang ersehnter Traum für die Presse sein.
Tausende Adelige auf einem Haufen.
Ich zog die Schuhe an, schlang das Tuch um mich und hielt die passende Sonnenbrille bereit.
„Nicht so fest.", tadelte mich Arthur.
Damit meinte er wahrscheinlich das Tuch um meine Schultern, ich hatte es so fest wie möglich um meinen Hals geschlungen.
„Die Quetschungen sind verschwunden, niemand wird sie mehr sehen."
Nervös lockerte ich das Tuch, ich hatte nach der Nacht noch monatelang Striemen von ihm.
Vor allem am Hals, wo er zugedrückt hatte.
Dadurch hatte ich mir angewöhnt ein Tuch zutragen, welches diese versteckten.
„Legen Sie es um ihre Schulter, es wirkt lockerer und Sie entspannter.", wies ich mein Fahrer an.
Ich folgte seinen Anweisungen und krönte mein Outfit mit der eleganten Sonnenbrille.
„Lady Lilia, ich kann mit Stolz sagen, Sie sehen toll aus. Immer schön lächeln und dann im richtigen Augenblick, die Brille abnehmen. Entweder sie werden sie lieben oder hassen."
Geschmeichelt über sein Kompliment errötete ich, „Danke Arthur."
Nach einer langen Stille, in der jeder seinen Gedanken nachging, fing unser Butler wieder an zureden.
„Wir werden gleich ankommen, ich werde Sie vor dem Eingang herauslassen. Ich selbst fahre dann ihr Gepäck abladen. Lassen Sie ihre Tasche hier und nehmen Sie nur ihre Präsente mit."
Ich nickte, „Vielen vielen Dank, Arthur."
Er lächelte mich durch den Rückspiegel hindurch warmherzig an, „Immer Lady Lilia, geben sie nicht auf, egal was passiert. Wir sind alle voller Stolz, zeigen Sie wie umwerfend Sie sind."
Gerührt seufzte ich, „Passen Sie auf Cessl und sich auf."
„Versprochen."
Damit war es besiegelt.
„Wir sind da.", Arthur hielt das Auto an, stieg bei der Fahrerseite aus und öffnete mir wenige Sekunden später die Autotür.
Sofort brach das Blitzlicht herein und lies mich mehrmals blinzeln.
Irgendwoher erklang eine laute Stimme, „Willkommen in St. Lenox."
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