Von Schlaglöchern und den Wilden
Dank der guten Pferde sollte unsere Reise nur zwölf Stunden andauern. Während über uns die Sonne den Himmel entlang wanderte, fuhren wir auf meist holprigen Wegen und durchquerten hin und wieder winzige Dörfer, die zu klein für gute Pflasterstraßen waren.
Die letzte Stunde hatten wir in einem dichten Wald, dessen Bäume kein Sonnenlicht durchließen, verbracht. Eine einschläfernde Dunkelheit hatte sich ausgebreitet und im Wagen herrschte die ganze Zeit über Ruhe. Nur Malina, die gegenüber von mir ihren Kopf auf die Schulter der ebenfalls dösenden Petunia abgelegt hatte, gab ein leises Schnarchen von sich.
Noch blieb mir erspart, das Protokoll für heute Abend durchzugehen, oder eine schnelle Lektion über die Etikette erteilt zu bekommen, dich in an den Tag zu legen hatte.
Nicht, dass ich diese nicht auswendige konnte - ich war besser vorbereitet, als ein Ritter der in den Krieg zog. Trotzdem spürte ich die die Nervosität von Mutter und Charlotte, die beide nur aus dem rechten Fenster starrten und den Bäumen beim Vorbeiziehen zusahen.
Die Anspannung lag in der Luft wie ein dicker Knoten, der sich jeder weiteren Meter, den wir uns Zelos näherten, enger zusammen zog. Meine eingeschlafenen Beine kribbelten und es fühlte sich beinahe so an, als würde ich mit hineingezogen werden in dieses Wirrwarr aus schlechter Stimmung und großen Erwartungen. In meinem Bauch und in meinem Hals schien sich auch etwas zu verknoten und ich merkte ein Hämmern in meiner Brust.
Ich atmete tief ein und hatte die Knoten satt. Die Fahrt würde noch einige Zeit dauern, doch dem Knurren in meinem Magen nach zu urteilen war es wenigstens schon kurz vor Mittag. Es war geplant, nachher anzuhalten und unsere Reiseproviant zu uns zu nehmen. Bis dorthin würde ich mich wohl irgendwie ablenken müssen, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.
Ich dachte zurück an das Frühstück, bei dem Malina kurz vor der Abfahrt gefragt hatte, warum wir denn nicht in einem Gasthaus in den Dörfern zu Mittag essen würden. Mutter war beinahe vor Erschütterung von ihrem Stuhl gefallen und Charlotte hatte die Nase gerümpft, ohne zu antworten. "Malina, bist du noch bei Sinnen?", hatte Mutter geseufzt, "Mal davon abgesehen dass wir in Begleitung der künftigen Königin von Catelis sein werden - was sollen Damen unseres Standes bei solchen-"
Es schien, als hätte sie nicht die richtigen Worte finden können und ich hatte in meinem Kopf vervollständigt, was sie sagen hatte wollen. Bei solchen Wilden; beim schmutzigen Fußvolk. Zwischen den Huren und Ganoven ist es zu gefährlich.
In die Kutsche schien helles Licht, als wir den Waldrand erreichten. In nicht all zu weiter Ferne erkannte ich einen Kirchturm, der mir irgendwie bekannt vorkam und das nächste Dorf ankündigte. Möwen, die am Himmel kreisten, verrieten, dass es sich um eines der unzähligen Fischerdörfer von Catelis handeln musste.
Sofort fühlte ich eine Sehnsucht in mir. Ich hatte bisher nur ein, zwei Mal das Meer zu Gesicht bekommen. Ganz heimlich wünschte ich mir, einmal darin zu schwimmen, so wie ich es von Malina über die Dorfkinder gehört hatte - aber dazu müsste ich schwimmen können, und das tat ich leider nicht. Außerdem kam es für ein Mädchen meines Standes sowieso nicht in Frage.
Weite Felder grenzten direkt an die Straße an und im Vorbeifahren konnte ich einige Arbeiter sehen, die sich in der prallen Sonne bückten. Wie heiß ihnen sein musste!
Der Weg war nach wie vor durchlöchert und unser Wagen wippte passenderweise wild auf und ab wie ein Schiff auf der stürmischen See. Kein Wunder also, dass sich Melina ihren Kopf an der Wand hinter sich stieß und geweckt wurde. Petunia wurde ebenfalls wach und blinzelte aufgebracht, bis sie den Ursprung der Störung ausfindig machen konnte.
"Seid Ihr wohlauf?" Malina nickte nur und rieb sich den Hinterkopf. "So viel zu teuren Kutschen und blauen Flecken." Ich konnte nur zustimmend nicken, mir tat langsam nämlich auch alles weh. Dennoch war ich froh, in der Kutsche zu sitzen, und mir nicht auf den Feldern die Haut aufzubrennen.
Das Ereignis hatte Mutter und Charlotte aus ihrer Starre geweckt. "Bis nach Zelos wirst du das aushalten müssen." Wie erwartet gab es kein Mitgefühl von der Gouvernante. Melina schnaubte. "Halten wir wenigstens bald an? Ich verhungere!"
Mutter sah prüfend nach draußen. "Wir erreichen gleich Pallak. Danach bleiben wir stehen."
Plötzlich fiel ein, woher ich den Kirchturm kannte - er war in einem meiner Lehrbücher abgedruckt. Nicht weit von Pallak hatte die letzte Schlacht des Krieges zwischen den Rebellen und der Krone stattgefunden. Obwohl damit der Bürgerkrieg niedergeschlagen worden wurde, hatte es auch uns stark getroffen.
In der Not sollen die Frauen des Dorfes Verwundete in der Kirche versorgt haben, weil nirgendwo sonst Platz gewesen war. Doch unter den Verletzten waren nicht nur die Soldaten von Catelis gewesen, sondern auch die des Feindes. Nachdem der König seine Truppen nach Kriegsende in das Dorf geschickt hatte, um die Fremden aufzutreiben, kamen sie aber mit leeren Händen zurück. Die feindlichen Soldaten seien alle ihren Verletzungen erlegen, kein Einziger hätte überlebt. Die Sache hatte sich damit erledigt - trotzdem munkelte man bis heute, dass die Dorfbewohner ein Geheimnis hüteten.
Etwas riss mich aus meinen Gedanken, als wir Pallak näherkamen. Lautes Geschrei drang von draußen durch die Kutschenwände. Die Kinder des Dorfes empfingen uns brüllend, während sie neben dem Wagen herliefen. Das wir Adelige in unseren teuren Kutschen auftauchten, schien bisher in jeder Gemeinde eine Sensation zu sein. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Während die Bauern von ihrer Arbeit am Feld aufsahen und Kinder uns verfolgten, gaffte ich durch das Fenster mindestens genauso neugierig zurück.
Sie schienen wie von einer anderen Welt zu sein, mit ihrer schlichten Kleidung und den schmutzigen Gesichtern. In meiner Kindheit hatte ich äußerst selten die Gelegenheit gehabt, Westwall zu verlassen - und selbst dann hatte ich ich das einfache Volk nur selten zu Gesicht bekommen. Ganz im Gegensatz zu Malina, die fröhlich aus dem Fenster winkte, als würde sie alte Bekannte treffen.
"Lass das Malina. Das sind Wilde.", murmelte Mutter, ohne überhaupt richtig hinzusehen. Sie gab sich ungewohnt wortkarg, wahrscheinlich, weil ihre Gedanken bei heute Abend waren. Ob sie sich Sorgen machte, dass ich versagen würde?
Auf einmal knallte etwas dumpf. Instinktiv schnellten unsere Blicke zu meiner Schwester, die jedoch mit den Schultern zuckte und zum Fenster deutete. "Das kam von draußen!"
Die Kinder liefen noch immer neben uns her, jedoch hatten sich inzwischen auch Erwachsene dazugesellt. Manche trugen das gleiche Gewand, das die Feldarbeiter anhatten - einfache Hemden aus Leinen oder Wolle und zerschlissene Schuhe. Auch die Frauen hatten keine bunten Seidensamtkleider wie wir, sondern braune Röcke und Schürzen. Sie alle sahen aus, als hätten sie alles stehen und liegen gelassen, um uns zu folgen.
Ich empfand das als aufregend und fühlte mich ein wenig geschmeichelt. Hatte sich etwa schon herumgesprochen, wer ich bin? Eigentlich sollte die Öffentlichkeit noch nicht wissen, dass der Kronprinz demnächst heiraten würde. Ein solches Vorhaben war jedoch unmöglich geheim zu halten, wenn man bedachte, dass die Planungen und Vorbereitungen für das große Hochzeitsfest in Zelos schon vor Wochen begonnen hatten. Die Neuigkeiten dürften sich unter den Angestellten wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Es war eigentlich kaum erstaunlich, dass man sogar in Pallak schon Bescheid wusste.
Ich setzte mein bestes Lächeln auf und sah nach draußen, bereit, die Freude meiner Anhängerschaft zu erwidern. Doch als ich mir die Gesichter der Dorfbewohner näher ansah und ein zweiter Knall ertönte, wurde mir klar, dass ich mich geirrt haben musste.
Die in die Luft gestreckten Hände, die ich als freundliches Winken empfunden hatte, waren in Wirklichkeit geballte Fäuste, und das vermeintliche Jubeln ein Schwall aus zornigen Rufen und Beleidigungen. Die vereinzelten Kracher entwickelten sich langsam zu einem Prasseln.
Mein Lächeln rutschte mir aus dem Gesicht und mir war, als würde mir das Blut in den Adern gefrieren. "Seht nur - sie werfen mit Steinen auf uns!", rief ich noch, dann klirrte es und Glasscherben regneten auf Malina und mich nieder.
Wir alle schrien auf. Meiner Mutter war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen und Charlotte versuchte, sich zu ducken. Ich wusste gar nicht, wohin mit mir. Der Wagen war für eine Kutsche geräumig, aber jetzt fühlte er sich wie eine Falle an. Ich spürte einen brennenden Schmerz auf meiner Wange.
Die Fäuste der Meute und weitere Steine trommelten direkt neben meinen Kopf an die Außenseite der linken Wand. Mein Herz pochte im rasenden Takt mit ihnen. Ich versuchte, mir die Scherben von den Kleidern zu klopfen, doch war dabei wenig erfolgreich. Durch die zerbrochene Glasscheibe waren jetzt die panischen Rufe des Kutschers zu hören. Er versuchte, die Pferde anzutreiben, schneller zu werden. Inzwischen hatten wir das Dorf erreicht. Nur langsam schob sich die Kutsche zwischen den kleinen Häuschen durch - anscheinend wurde uns der Weg versperrt. Die Menge tobte. Wie eine ohrenbetäubende Welle schwappten ihre Schreie durch das Fenster.
"Amara! Malina!" Petunia hatte sich nach vorne gebeugt und versuchte, den Lärm zu übertönen. "Macht die Vorhänge zu!" Ich sah meine Schwester an, die mit großen Augen da saß und sich nicht rührte, als wäre sie versteinert. In ihrem Haar hatten sich tausende kleine Scherben verfangen. "Schwester?" Ich beugte mich vor und griff nach ihrer Hand. Noch immer keine Regung. Mit zitternden Händen griff ich nach beiden Vorhängen und zog sie über das Fenster. Auf der rechten Seite taten meine Mutter und Charlotte mir nach.
Es wurde dunkel - so dunkel, dass ich weder Malina vor mir und Mutter neben mir sehen konnte. Wir saßen in der Finsternis und die Geräusche von draußen drangen noch immer zu uns durch. Niemand sprach ein Wort. Die Luft wurde von hastigem Atmen erfüllt und jemand, ich vermutete Mutter, wimmerte leise. Da nahm die Kutsche wieder ein wenig an Geschwindigkeit auf, aber die Dorfbewohner ließen weiterhin nicht von uns ab.
In meinem Kopf drehte sich alles. Er fühlte sich an, als würde er von dem Pochen und Trommeln gleich explodieren. "Bitte lass es aufhören", schoss mir wiederholt durch die Gedanken, die ich beinahe nicht hören konnte, "Bitte." Ich kauerte mich auf der Bank zusammen und drückte die Hände auf meine Ohren. Mit zugepressten Augen betete ich nur, dass unsere Kutsche heile blieb.
Auf einmal hört ich, wie sich der Lärm draußen langsam beruhigte. Der Kutscher musste wieder freie Fahrt haben, denn wir wurden von Schlaglöchern durchgeschüttelt, über die wir viel zu schnell rasten. Bis es draußen still wurde, dauerte es noch eine Weile, doch selbst dann ließen wir die Vorhänge geschlossen und wagten es nicht, uns zu rühren. Die Angst schnürte mir die Kehle zu.
Schließlich hielten wir an und jemand klopfte an die rechte Tür.
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