Von Entstellungen und Knicksen
Die Ruhe, die uns umgab, war herrlich. Ich schloss die Augen und ließ eine leichte Briese mein Haar durchwehen. Über uns war das Geäst einer großen Linde, die langsam im Wind schaukelte. Die Straße hatte uns wieder weg vom Meer geführt, doch das Salz in der Luft war noch immer auf meiner Zunge zu schmecken.
Ich kauerte auf einem kleinen Klappstuhl neben der Kutsche und versuchte, möglichst mühelos eine elegante Sitzposition zu finden. Der Fahrer inspizierte gerade das zerbrochene Fenster und Petunia kramte in einer der vielen Reisetaschen.
"Eine Frechheit war das! Eine Zumutung!" Mutter marschierte energisch vor uns auf und ab. Aus ihrer Hochsteckfrisur hatten sich ein paar honigblonde Strähnen gelöst, die ich von ihr geerbt hatte. So wie die bernsteinfarbenen Augen, die gerade wütend funkelnden. "Wenn erst Eckhard- ja, wenn erst König Zelindo davon erfahren wird - dann wird dieses Dorf von.. von.. Monstern sehen, mit wem sie es zu tun haben!" Von Charlotte kam nur ein zustimmendes Stöhnen, sie beklagte sich über Übelkeit und saß ebenfalls auf einem Klappstuhl, den Hut mit ihren blassen Händen umklammert.
Meine Schwester hatte sich ein paar Schritte weiter in das hohe Gras gesetzt und schrieb in ihrem Notizbuch. Sie hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen. Der Angriff musste sie sehr mitgenommen haben, was mich wunderte, wo sie doch beinahe ihre ganze Kindheit zwischen einfachen Fußvolk verbracht hatte.
Mir saß der Schock zumindest ebenfalls noch tief in den Knochen, weswegen ich vom mitgebrachten Brot und Käse kaum etwas hinunter bekam. Obwohl mir mit dem Treffen mit Cornelius etwas noch viel Größeres bevorstand, schwirrte mir im Kopf herum, was gerade in Pallak passiert war. Mich beschäftigten so viele Fragen. Wieso waren die Dorfbewohner so in Aufruhr gewesen? War es allein die Tatsache gewesen, dass wir offensichtlich dem Adelsstand angehörten, oder - und meine zweite Vermutung ließ mich schlucken - war es etwa wegen mir?
Das war doch unmöglich! Ich war noch nicht mal in Zelos angekommen um dem Hof vorgestellt zu werden, geschweige denn dem Volk. Ausgeschlossen, dass ich Grund für den Zorn der Pallaker war. In meinen Lehrbüchern hatte ich oft gelesen, dass nach Kriegen Unruhen im Volk nichts ungewöhnliches waren. Außerdem war Pallak bekannterweise berüchtigt dafür, eine Abneigung gegen die Königsfamilie zu haben. Diese Tatsache musste irgendetwas mit dem Angriff zu tun haben, da war ich mir sicher.
"Meine Güte Amara, du bist ja vollkommen entstellt!", sagte meine Mutter in diesem Moment entsetzt. Sie schien ihren Redefluss beendet und deshalb die Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche gelenkt zu haben: Mich und der Kratzer auf meiner linken Wange.
Petunia schnellte hoch und ich vernahm ein leises, gekichertes "Gefunden!" Dann drehte sie sich zu uns um und trat mit gesenkten Kopf vor. "Mit Verlaub, Hoheit. Ich habe Arzneien dabei." Mutter nickte. "Ich will, dass sie bis zur Hochzeit makellos ist. Sie soll sich nicht blamieren."
Die Bemerkung versetze meinem Herz einen kleinen Stich. Ich wusste, dass meine Mutter es eigentlich gut meinte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, nie gut genug sein zu können, egal, wie sehr ich mich an alle Vorschriften hielt. Sogar meine Gouvernante war gnädiger als sie, und das, obwohl Malina sie nicht umsonst "Das Biest" nannte. Wäre ich doch bloß nicht am Fenster gesessen!
Petunia begutachtete meine Wunde und reinigte sie sorgsam. "Keine Sorge, Prinzessin. Der Kratzer ist nur oberflächlich, Ihr werdet keine Narbe bekommen", sagte sie mehr zu meiner Mutter als zu mir und trug etwas Salbe auf, die stark nach Kräutern roch.
Ich fand es schon immer seltsam, wenn meine Kammerzofe mich mit Titel ansprach. Es war natürlich nach Vorschrift, doch sie war schon für mich zuständig, seit ich denken konnte. Vor Jahren hatte ich sie endlich überredet, mich wenigstens in meinen Gemächern heimlich zu duzen. Petunia sträubte sich zwar dagegen, aber letzten Endes wusste sie wohl genau so wie ich, dass für mich mehr als nur Teil der Dienerschaft war. Meine Zofe hatte mir meine Kindheitsfreunde ersetzt, sie war wie eine große Schwester für mich.
Der alte Kutscher gesellte uns gebückt zu uns. "Entschuldigt meine Störung, Hoheit, aber ich habe die Scherben aus den Wagen entfernt. Es sollte für Euch keine Gefahr mehr bestehen. Wenn Ihr mir erlaubt, einen Vorschlag zu machen: Wenn wir demnächst aufbrechen, schaffen wir es noch vor Einbruch der Dunkelheit bis nach Zelos."
Wir bestiegen der Reihe nach die Kutsche. Charlotte war offensichtlich wenig begeistert, als sie ihren schlaksigen Körper zwang, aufzustehen. Ihre Gesichtsfarbe glich dem hellen Grün ihres Kleides. "Hervorragend," würgte sie hervor, "in der Zwischenzeit gehen wir das Protokoll für den Empfang noch einmal durch, Amara."
Ich achtete bewusst darauf, mich nicht wieder an das Fenster zu setzen. Stattdessen nahm ich zwischen Petunia und Malina Platz, sodass die Gouvernante sich neben meine Mutter gesellen konnte. Und damit leider direkt mir gegenüber.
Meine Schwester sah kaum von ihrem Notizbuch auf, als sie sich setzte. Ich versuchte, einen Blick von dem, was sie schrieb, zu erhaschen. Doch als würde sie genau wissen, was ich vorhatte, zog sie das Buch gegen ihre Brust und sah mich tadelnd an. "Schnüffeln ist nicht sehr damenhaft, Schwester. Das hat man dir doch beigebracht?"
Ich zog abfällig die Augenbrauen hoch. "Als würde mich interessieren, was da drin steht."
Tatsächlich interessierte mich brennend, was da drin stand, doch das würde ich natürlich nie zugeben.
"Überhaupt erstaunt es mich, dass du schreiben kannst. Aus dem Unterricht wirst du das wohl kaum haben, dazu hättest du anwesend sein müssen. Oder übst du dich gerade an deinen ersten Buchstaben?"
Malina verdrehte nur die Augen. "Selbst wenn, würdest du es nie erfahren."
Bevor ich zurück feuern konnte, unterbrach uns Charlotte. "Ausnahmsweise hat deine Schwester Recht. Schnüffeln ist keine vornehme Angewohnheit." Ich konnte schwören, dass Petunia ein Lächeln über die Lippen huschte.
Mir blieb keine weitere Minute Ruhe, bis mich meine Gouvernante abzufragen begann. Wer hatte als erstes den Raum zu betreten, und wer als letztes? Wen hatte ich wie zu begrüßen? Wann war es mir erlaubt, die Stimme zu erheben - und wann musste ich mich zurück halten? Letzteres ließ sich am einfachsten beantworten: Ich durfte quasi gar nichts sagen, außer ich wurde explizit darum gebeten. Und als Begrüßung war ein Knicks angemessen, wenn es sich um Menschen gleichen Ranges handelte; und ein noch tieferer Knicks, der schon einer Verbeugung nahe kam, galten seiner Majestät dem König und der Königin, sowie meinem Zukünftigen, Cornelius. Dieser würde mir mit hoher Wahrscheinlichkeit die Hand küssen, und dabei hatte ich mit gesenktem Blick an ihm vorbei zu sehen.
Ich beherrschte alles, was ich beherrschen musste, und Charlotte wusste das. Mir war klar, dass die Kontrolle nicht mich, sondern die Nerven meiner Mutter beruhigen sollten. Diese kommentiere nur hin und wieder oder ergänzte, wenn ich etwas ausgelassen hatte.
Glücklicherweise verging so wenigstens die Zeit schneller. Nach ein paar weiteren kurzen Pausen lag die Sonne immer tiefer am Horizont. Die gepflasterte Straße deutete darauf hin, dass es sich um nicht mal eine Stunde handeln durfte, bis wir Zelos erreichen würden.
Der Weg führte uns wieder am Meer entlang und immer wieder kamen wir an Fischerdörfern vorbei, deren Holzhütten direkt in die Buchten gebaut wurden. Von der Straße aus konnte man sehen, wie auf kleinen Booten in der gelben Abendsonne die Netze eingeholt wurden. Der Anblick hätte genau so gut eine Malerei sein können, die man sich um viel Geld auf einer Aktion ersteigerte.
Wenn alles anders gewesen wäre, hätte ich es genossen, wie die salzige Seeluft durch das offene Kutschenfenster blies. Jetzt stieg stattdessen jedes Mal wieder Panik in mir auf, wenn wir an Dorfbewohnern vorbei kamen. Meine Angst blieb glücklicherweise unbegründet, doch ich ärgerte mich darüber. Die Pallaker hatten es geschafft, mich so aus der Fassung zu bringen, dass ich mich kaum auf das Treffen freuen konnte.
Wenn das die große weite Welt war, nach der ich mich immer so gesehnt hatte, dann herzlichen Dank, ich verzichte.
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