Von alten Kisten und dem Biest

Es war der Tag der Abreise. Die Dächer des Herrenhauses Westwall, in dem ich aufgewachsen war und dem ich von diesem Tag an den Rücken kehren sollte, überzog noch der morgendliche Tau und die Sonne blitzte gerade erst hinter dem Horizont hervor, um die helle Fassade in ein rötliches Licht zu tauchen.

Mit entschlossenem Schritt bewegte ich mich auf knirschendem Kies in Richtung der Kutsche, die in unserer Einfahrt bereitstand. Dicht hinter mir eilten meine Gouvernante Charlotte und meine Kammerzofe Petunia, die in ihren Reisekleidern und dazu passenden Hüten beinahe wie Zwillinge aussahen. Nur, dass die Gouvernante deutlich älter als Petunia war - und sich auch dementsprechend verhielt.

"Amara, halte deinen Rücken gerade.", hatte sie schon am Morgen vor dem Frühstück mit ihrer scharfen Stimme genörgelt. "Du darfst dir im Schloss keine Fehler erlauben!". Auch jetzt spürte ich ihre Blicke in meinem Rücken und bereitete mich darauf vor, wieder gerügt zu werden. Ich zog meine Schultern nach hinten und hob das Kinn an.

Bevor Charlotte jedoch irgendwas von sich geben konnte, tönte die Stimme meiner Mutter über den Hof. Ich wagte einen kurzen Blick nach hinten. Sie kam auf uns zu gehastet, sodass ihr weiter Rock sich im Wind aufbauschte und sie ihren Hut mit der linken Hand festhalten musste, damit er ihr nicht vom Kopf rutschte. Das stürmische Verhalten war nicht ungewöhnlich für Mutter, doch normalerweise legte sie Wert darauf, sich an die Etikette zu halten - im Gegenteil zu gerade eben. Ich konnte deshalb schon ahnen, was den Aufruhr verursachte - nicht etwa ich war der Grund, sondern meine Schwester Malina.

"Charlotte, ich muss euch sprechen. Dringend."

So gerne ich auch stehen geblieben und mitgehört hätte, was es zu bereden gab - wenn ich eines von Mutter und Charlotte gelernt hatte, dann war es, dass eine Lady ihre Neugier zu verstecken hatte, vor allem was Angelegenheiten betraf, die sie nichts angingen. Darum verlangsamte ich meine Schritte nicht und versuchte mich darauf zu konzentrieren, was vor mir lag.

Es war nun also so weit, ich würde Kronprinz Cornelius höchstpersönlich kennenlernen. Vor Aufregung sprang mir bereits jetzt das Herz beinahe aus der Brust.

Nicht, dass wir uns noch nie begegnet waren. Er war erst drei Jahre alt und ich ein Neugeborenes, als der König mit ihm unser Anwesen aufsuchte, um dem Herzog von Bruck die höchste Ehre zu erweisen: Die Verlobung des zukünftigen Herrschers über das Reich Catelis und dessen Volk mit seiner erst-geborenen Tochter, Amara von Bruck - also mir.

Schon letztes Jahr war ich achtzehn und somit alt genug geworden, um zu heiraten. Die Reise, die mir jetzt bevorstand, ging direkt in das königliche Schloss in die Hauptstadt Zelos, wo ich meinen Verlobten treffen würde. Damit würden auch die Vorbereitungen des Hochzeitsfestes, das mehrere Wochen anhalten würde, beginnen. Meine Gouvernante und Mutter würden mich - zumindest für ein zwei, drei Tage - begleiten, aber nur Petunia würde den Haushalt verlassen und bei mir bleiben.

Mein Vater war erst in dieser Nacht für Geschäfte aufgebrochen und würde mit Malina später nachkommen. Ich würde die beiden erst bei der Zeremonie wieder sehen. "Tu was du tun musst!", waren seine einzigen Abschlussworte zu mir gewesen, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte.

Er hatte mir nicht mal in die Augen sehen können. Dabei verkraftete ich die kommende Umstellung meines Lebens sogar leichter als erwartet. Ja, ich hatte die letzten Tage vor Freude kaum ein Auge zugetan! Die lange Zeit des Wartens und des regelrechten Trainings war endlich vorbei. Ich war frohen Mutes, als ich an der Kutsche ankam.

"Prinzessin, seid Ihr bereit für eine letzte Fahrt mit mir?" Lächelnd verbeugte sich der alte Kutscher unseres Hauses und reichte mir dir Hand, um mir in den Wagen zu helfen. "Wenn Ihr erlaubt, es war mir eine Ehre! Westwall wird euch vermissen."

Ich sah in kurz verblüfft an. Er hatte Recht, ich würde von nun an wohl nur mit den königlichen Karossen reisen.

Mit einem Schlag hatte sich ein Kloß in meinem Hals gebildet und trübte meine Vorfreude. Ich ließ mich im Inneren der Kutsche nieder. Mein Zimmer, meine Schwester - ja sogar das Personal würde mir fehlen. Mein ganzes Leben hatte ich hier verbracht, ein Herrenhaus am Waldrand, nicht weit des nächsten Dorfes. Ich war an die Ruhe der Natur hier draußen gewöhnt.

Jetzt konnte ich nicht anders, als den Umzug auch mit Schwermut zu betrachten. In Zelos würde es viel lauter und hektischer zugehen. Die Wälder und Wiesen lagen außerhalb der Stadtmauer, höchstens die königlichen Gärten im Schloss könnten mir noch ein Stückchen Zuhause zurückgeben. Ob ich mich dort jemals so wohl fühlen würde wie in Westwall?

Hier hatte mich der Wald hinter dem Anwesen immer besonders beruhigt, wenn ich zum Studieren in meinem Zimmer im hinteren Flügel am Fenster gesessen hatte. Am liebsten wäre ich immer in diesem Grün verschwunden, weit weg von dem Druck, den meine Eltern und meine Gouvernante mir auferlegt hatten.

So wie der Wind über die Wipfel gerauscht hatte, klang es immer, als hätte er mir tröstend zugeflüstert, dass ich der Zukunft, die mir bevorstand, standhalten konnte. Und obwohl es mich zwischen die dicken Stämme der Buchen zog, hatte ich gewusst, dass ich eine Bestimmung hatte. Und die war nun mal, den Kronprinzen zu heiraten und Königin von Catelis zu werden.

Ich warf durch die offene Kutschentür einen Blick auf das Gebäude. Auch jetzt wehte eine leichte Brise durch die Bäume, die unsere Einfahrt säumten. Ich vernahm wieder das Rauschen der Blätter und fühlte sofort, wie ich sich meine Anspannung legte.

Ja, ich hatte viel vor mir - aber ich wurde vorbereitet. Ich würde es schaffen. Ich musste es schaffen!

"Fein, endlich keine Holzbänke mehr. Davon hat mein Hintern immer blaue Flecken bekommen." Abrupt unterbrach jemand meine Gedanken. Vor mir ließ sich meine kleine Schwester nieder plumpsen. Eigentlich war sie gar nicht wesentlich jünger als ich, da meine Mutter recht zeitig nach meiner Geburt wieder schwanger wurde, aber unsere Gemüter unterschieden sich wie Tag und Nacht.

"Malina", zischte ich, "Ausdruck! Und machst du überhaupt hier?".

Sie verdrehte die Augen und deutete nach draußen. "Was hast du denn? Das Biest kann uns nicht hören."

Als "das Biest" bezeichnete sie Charlotte, mit der sie, seit deren Einstellung, auf Kriegsfuß stand. Ein prüfender Blick bestätigte mir, dass das sich die Gouvernante nach wie vor mit Mutter und Petunia unterhielt. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass meine Schwester nicht gerade auf den Mund gefallen war - vor allem, wenn es vulgär werden sollte.

Ich seufzte. "Sag nicht Biest. Irgendwann wird dir dein Benehmen noch Probleme bereiten, vor allem jetzt, wo ich gehe! Vor wie vielen Tagen Hausarrest habe ich dich schon bewahren müssen? Bestimmt hunderte. Hat Vater dir erlaubt, mitzukommen?"

Malina schlug kichernd die Beine übereinander und strich sich eine ihrer dunklen Locken hinters Ohr. "Ich brauche deine Unterstützung nicht, Schwesterchen. Sieh mal lieber zu, dass dir dein Prinz nicht wegläuft, wenn du so zickig bist."

Abermals hatte sie meine Frage ignoriert. Mir war klar, dass Vater ein gutes Wort für sie eingelegt haben musste, sonst wäre ihre Anwesenheit bei der Ankunft im Schloss gar nicht erst in Frage gekommen. Das erklärte auch, warum Mutter so aufgebracht war. Wenn es nach ihr ginge, wäre Malina wahrscheinlich in ihrem Zimmer eingesperrt worden, bis Charlotte wieder nach Westwall zurückgekehrt war, um sie im Zaum zu halten. Das Risiko, dass sie etwas anstellen würde, war einfach zu groß.

Ich konnte nicht anders als nochmal zu seufzen. Wie sollte das nur gut gehen? Meine Schwester war schon von klein auf wilder gewesen, als ich es mir jemals hätte erlauben dürfen. Während ich jede Form der Erziehung über mich ergehen lassen habe müssen, hatte sie sich regelmäßig in die Wälder oder in das Dorf geschlichen und heimlich mit den Kindern aus der Umgebung zu spielen. 

Nicht, dass irgendeine Erziehungsmethode bei ihr funktioniert hätte. Meistens war sie erst spät abends wieder durch die Pforten Westwalls marschiert, die Stiefel und Kleider ganz verschmutzt, aber ihre hellen Augen strahlend, als hätte sie die wundervollsten Abenteuer erlebt. Vater ließ ihr das alles durchgehen. Sie hatte nur sein Aussehen geerbt - die Sturheit kam von Mutter, und dagegen hatte er nie standhalten können. Zudem hatten Malina und Vater eine Bindung zueinander, von der ich nur träumen konnte.

Meine Schwester strich über den blauen Samt auf dem wir saßen und sprach mit ruhiger Stimme, noch immer grinsend, weiter. "Außerdem musst auch du zugeben, dass nichts über gepolsterte Bänke geht! Vater hätte lieber die Gouvernante kündigen sollen, anstatt unsere schönen Kutschen gegen diese alten Kisten einzutauschen."

"Euer Vater will nur das Beste für euch. Wenn es nach mir ginge, wären in diesem Haus vier Gouvernanten, drei davon für dich, eingestellt.". Charlotte hatte sich unbemerkt zu uns gesellt. Sie rümpfte ärgerlich die spitze Nase und stemme die Hände an ihre Hüften. "Und jetzt schweig still, Kind. Deine Mutter war nur einverstanden, dich mitzunehmen, wenn du brav bist."

Malina holte Luft, als würde sie etwas sagen wollen, überlegte es sich dann aber untypischerweise anders und schwieg. Während sie mürrisch an ihrem lockeren Korsett herum zupfte, konnte ich es mir nicht verkneifen, sie hämisch an zu grinsen.

Dabei hatte sie eigentlich nicht ganz Unrecht. Auch ich bedauerte es ein wenig, dass Vater unsere Kutschen verkaufen musste und stattdessen zu weniger komfortablen Alternativen greifen musste - aber seit einiger Zeit wurde das Geld knapp. Das Vermögen, dass wir besaßen, war in viele Flaschen Wein geflossen. Vater vermochte vielleicht mit der geliehenen Kutsche, mit der er uns nach Zelos schickte, vor dem König vertuschen, wie viel er trank. Uns aber konnte er nicht täuschen: Herzog Eckhard war ein Säufer.

................

Na - wie findet ihrs? Ich hüpfe vor Aufregung auf und ab! 

Kapitel zwei kommt am Mittwoch, 07.09.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top