VI ⏐ Großmutter

„Nein, ich will nicht in Ruhe darüber nachdenken! Ich habe mich entschieden. Tun Sie einfach, was ich gesagt habe", mit diesen Worten beendet sie den Anruf und fährt sich aufgebracht mit der Hand durch die Haare. Nicht zu fassen, was sich diese Bankangestellten heutzutage herausnehmen! Der hat ja so getan, als wäre ich senil und wüsste nicht mehr, was ich tue!

Aber Irmgard weiß genau, was sie tut. Sie will, dass es Marie gut geht. Sie will, dass Marie keinerlei Sorgen mehr haben muss. Und sie kann ihren Teil dazu beitragen, dass ihre Wünsche für Marie in Erfüllung gehen. Irmgard weiß sowieso nicht, was sie mit all ihrem Geld anfangen soll. Also kann sie es auch gut und gerne ihrer heimgekehrten Enkeltochter überschreiben.

Noch immer ärgerlich stapft sie durchs Haus und überlegt, ob sie Marie auch etwas Persönlicheres schenken soll. Meinen Schmuck vielleicht ... Auf ihrem Weg streift Irmgards Blick ein Gemälde, das ihr immer besonders gut gefallen hat. Vielleicht auch das? Es hat immerhin eine große emotionale Bedeutung für mich. Ob sich Marie darüber freuen würde?

Irmgard streift durch ihr kleines, gemütliches Häuschen. Ihr verstorbener Mann wollte immer mehr Luxus, aber Irmgard nicht. Sie liebt dieses Häuschen im Wald, denn so kennt sie es von früher. Genau so wollte sie immer alt werden. In Gedanken versunken hört sie nicht das leise Klopfen an der Haustür. Doch als sie nun ihr geliebtes Wohnzimmer betritt, klopft Marie gerade erneut – dieses Mal energischer. Und Irmgard hört es.

Als sie die Tür öffnet, trifft sie Maries genervter Blick. „Warum hast du denn keine Klingel? Jeder normale Mensch hat doch eine Klingel!", fährt Marie sie zur Begrüßung an.

Huch, wo kommt das denn her?, wundert sich Irmgard. So verärgert kennt sie ihre Marie gar nicht. Und ihre Enkeltochter ist nun schon seit vier Tagen hier zu Besuch. Irmgard dachte eigentlich, sie inzwischen ganz gut einschätzen zu können.

Beschwichtigend hebt sie die Hände. „Ach, Liebes. So oft bekomme ich nicht Besuch. Wenn dann doch mal jemand geklingelt hat, habe ich mich fast zu Tode erschreckt. Also wurde die Klingel wieder abgebaut. Das ist besser für mein Herz." Sie lächelt ihre Enkeltochter verlegen an. Und die beruhigt sich allmählich.

„Bitte entschuldige, Oma. Ich hatte heute Ärger mit einem ehemaligen Arbeitskollegen. Und dann hast du mein Klopfen nicht gehört ... dabei wollte ich doch so dringend zu dir und einfach nur in den Arm genommen werden."

Das lässt sich Irmgard nicht zweimal sagen. Sie zieht ihre Enkeltochter in eine herzliche Umarmung und streichelt sanft ihr Haar. „Geht es dir gut?"

Marie verspannt sich, dann atmet sie einmal tief durch. „Er ... er verfolgt mich und ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll."

Irmgard löst die Umarmung und tritt einen Schritt zurück. Aufmerksam mustert sie ihre Enkeltochter. „Hat er dir etwas getan? Ist er gefährlich? Dann müssen wir die Polizei rufen."

„Nein!", entfährt es Marie laut und Irmgard runzelt die Stirn. Als Marie das sieht, beginnt sie zu erklären: „Er ist bei der Polizei. Ein Computerspezialist, der nebenher auch für meine Firma gearbeitet hat. Aber vor ein paar Wochen wurde er von der Chefin gefeuert und damit kommt er nicht klar. Er ist besessen von mir. Aber ich denke, ich bekomme das selbst geregelt. Trotzdem", sie lächelt Irmgard dankbar an, „vielen Dank, Oma!"

Wie jedes Mal, wenn sie diesen Kosenamen hört, schmilzt Irmgard förmlich dahin. Sie nickt ihrer Enkeltochter arglos zu. Wenn Marie das sagt, dann schafft sie es auch. Sie wird schon wissen, was richtig ist. Ich vertraue ihr.

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