II ⏐ Rotkäppchen

Rotkäppchen mustert die Großmutter aufmerksam. In der Eingangstür steht eine ältere, sehr gepflegt aussehende Dame, die nervös mit ihren Händen ringt. Scheinbar weiß sie nicht, wohin damit. Es wirkt, als würde sie ihre Enkeltochter am liebsten sofort in die Arme schließen. Aber das traut sie sich offensichtlich nicht. Und sie sagt auch kein Wort, wodurch eine peinliche Stille entsteht.

Doch dann räuspert sie sich. „Hallo ... Marie. Ich bin deine Großmutter. Wie schön, dass du hier bist. Komm ... komm doch bitte rein!"

Rotkäppchen lächelt in sich hinein und folgt der Aufforderung. Im Haus lässt sie ihren Blick schweifen. Es ist alles so, wie sie es sich vorgestellt hat. An den Wänden hängen teure Gemälde und die Kerzenständer auf den Schränken scheinen aus reinem Gold zu sein. Großmutter hat Geld, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt. Rotkäppchens Blick fällt auf die Vitrine, in der schön verz–

„Setz dich doch, Marie", wird sie von einer unsicheren Stimme aus ihren Gedanken gerissen. Rotkäppchen seufzt innerlich. Jetzt kommt der anstrengende Part. Sie muss mit Großmutter Small Talk halten. Dabei hätte sie in der Tat ein paar wichtige Fragen, die sie gerne stellen würde. Aber für die ist es noch zu früh. Zuerst muss sie dafür sorgen, dass sich die ältere Dame entspannt.

Schüchtern zaubert sie ein Körbchen hinter ihrem Rücken hervor und setzt ein zaghaftes Lächeln auf. „Ich hoffe, du magst Kuchen und Wein. Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht", haucht sie mit dünner Stimme. Das lässt Großmutters Beschützerinstinkt anspringen und schon im nächsten Moment steht der Korb auf dem Tisch und Rotkäppchen findet sich in Großmutters Armen wieder. „Ach, Liebes. Das wäre doch nicht nötig gewesen! Ich bin nur froh, dass du hier bist." Wieder lächelt Rotkäppchen in sich hinein. Alles läuft wie erhofft.

„Du hast ein sehr schönes Haus ... Oma", sagt sie dann und löst sich vorsichtig aus der Umarmung. Großmutters liebevoller Blick trifft sie, die bei der Erwähnung des Kosenamens angefangen hat selig zu lächeln. „Ich hatte ja keine Ahnung, wo und wie du lebst. Mama hat nicht viel von dir erzählt und ich habe so viele Fragen. Hast du denn jemals an mich gedacht?", haucht sie mit brüchiger Stimme. In Rotkäppchens Augen sammeln sich Tränen und sie schluckt schwer.

„Aber natürlich, Liebes! Ich habe mich so nach dir und deiner Mutter gesehnt. Weißt du ... ich war damals einfach überfordert von der Situation. Ich weiß ja nicht, was dir deine Mutter gesagt hat, aber ich wollte euch doch nicht für immer aus meinem Leben verbannen! Ich brauchte bloß ein wenig Zeit zum Nachdenken. Und dann wart ihr auf einmal weg." Großmutter lässt den Kopf hängen und nestelt an ihrer Bluse herum.

Rotkäppchen macht einen Schritt auf sie zu und ergreift Großmutters Hände. „Ich will dir keine Vorwürfe machen. Mama ist schwierig. Das war sie sicher damals schon. Aber ich wollte unbedingt wissen, wo ich herkomme. Und sie hat endlich deine Adresse rausgerückt."

Großmutter hebt ihren Kopf und lächelt vorsichtig. Scham und Schuldgefühle stehen in ihrem Blick, als sie Rotkäppchen direkt in die Augen schaut. „Ich hätte mich damals anders verhalten müssen. Es tut mir so leid."

„Ja, das hättest du. Aber das ist schon so lange her. Lass uns lieber nach vorne blicken", meint Rotkäppchen beschwichtigend und streichelt zärtlich Großmutters Wange. Inzwischen haben beide Frauen Tränen in den Augen. Noch einmal zieht Großmutter ihre Enkeltochter in die Arme. „Ich habe dich so vermisst, Marie", schluchzt sie. „Wie schön, dass du mich wiedergefunden hast."

Ja, das sieht Rotkäppchen genauso.

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