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Damit machte der Kommandant kehrt und trabte, umgeben von seinen Kameraden, den Steg Richtung Dorf entlang. Staunend betrachtete Brenna die gemauerte Hafenpromenade vor ihnen, während sie den Wächtern folgte.
Anders als in Skjellvik schienen sich sowohl gehobeneres Leben als auch Arbeitertum am Ufer kaum zu trennen. Zu ihrer Linken reihten sich prächtige Bauten aneinander, mit vielerlei Schnitzwerk und und bunten Schildern versehen. Rechts davon fanden sich weitläufige Lagerhallen und Bootshäuser, vor denen noch immer ein reges Treiben herrschte.
Genau zwischen den zwei so unterschiedlich bevölkerten Vierteln erhob sich das Haus der Wächter, einer Festung gleich, die über den gesamten Hafen wachte. So schlicht steinernes Fundament und Fassade aus mächtigen Stämmen auch gehalten waren, strahlte es in seiner Wuchtigkeit eine leise Drohung aus, zumal der Bau sämtliche anderen überragte. Die hölzernen Balkone weit oben waren bemannt, über dem Eingang flatterte das Banner der Wächter in Wind – zwei gekreuzte Schwerter auf blutrotem Grund.
Dem Mädchen entfloh ein leises Seufzen. Wenn nur Skjellvik auf derart klug platzierte Abschreckung gesetzt hätte, wären die Seeräuber vielleicht unverrichteter Dinge weitergesegelt.
Agnar indes hatte größte Mühe, dem strammen Schritt der Männer zu folgen. Gerade die breite Treppe, deren Stufen sich nebst einigen sorgfältig geglätteten Rampen zur Uferpromenade heraufzogen, bereitete ihm Schwierigkeiten.
Ihre Hilfe würde er gewiss ablehnen, dessen war sich Brenna sicher. „Nun rennt doch nicht so!", rief sie stattdessen den Wächtern hinterher, die sogleich innehielten und sich umwandten.
„Du bist verletzt?", erkundigte sich der Kommandant Rimsdals besorgt, nachdem ihm nun Agnars Humpeln gewahr wurde.
„Nur wenige Wächter haben überlebt, sie sind weit schlimmer gezeichnet als ich", gab dieser knapp zurück, nahm die ihm angebotene Stütze jedoch bereitwillig an.
„Das tut mir leid", murmelte der rotblonde Mann. Sowohl ihm als auch seinen Begleitern schien endlich aufzugehen, wie schlimm es das benachbarte Dorf wirklich getroffen hatte.
Ob sie jedoch die richtigen Schlüsse ziehen würden, wagte Brenna zu bezweifeln. Erneut kochte heiße Wut in ihr auf, als sie sie der kaum zurückliegenden, herablassenden Behandlung gedachte.
Als sie das Haus der Wächter erreichten, sah sie sich einem weiteren abschätzenden Blick ausgesetzt, derweil der Kommandant Rimsdals verhielt. Bevor er jedoch auch nur ein Wort von sich geben konnte, fuhr Agnar ihm über den Mund.
„Oh, um der großen Mutter Willen, lasst Brenna mit eintreten! Ihr ist es zu verdanken, dass wir nun hier sind und ihr erfahrt, was geschehen ist!"
Kaum gelang es Brenna, ihre Überraschung zu verbergen. Was war das nur für ein seltsames Spiel? Als Rotfuchs und Sprottengesicht hatte Agnar sie stets verlacht, nun zählte ihre Meinung mit einem Mal derart hoch, dass er sie sogar vor den Seinen verteidigte?
War es vielleicht gezwungene Dankbarkeit ob ihres Beistande, als er verletzt dagelegen hatte, oder gar der Versuch, sich reinzuwaschen von seiner Verfehlung an jenem Abend?
Agnars Gesicht gab jedoch nicht preis, welcher Gedanke dahintersteckte. Kühl und eindringlich musterte er sein Gegenüber, das schließlich zögerlich nickte. „Also gut – dann soll es so sein. Ihr drei könnt abtreten", fügte er an seine Gefährten gerichtet hinzu.
Die höflichen Grüße der am Tor postierten Wächter erwidernd führte der Kommandant Agnar hinein. Brenna, den Kopf hoch erhoben, stolzierte hinterher. Dabei wusste sie ihre Neugier kaum zu zügeln, denn nie zuvor hatte sie eine jener Stätten betreten, in denen die Wächter des Nordens residierten.
Zu ihrer Enttäuschung ging es jedoch weder die Stiegen zu Seiten des Korridors hinauf noch diesen weiter entlang. Unweit des Eingangs klopfte der Kommandant an eine Tür und öffnete diese, kaum da ein leises Brummen dahinter ertönte.
„Es gibt wichtige Neuigkeiten, Rutmar. Skjellvik wurde von Seeräubern heimgesucht, zwei der Überlebenden sind hier, um uns zu warnen."
„Kommt herein", erwiderte eine raue Stimme.
Allesamt fanden sie sich in dem spärlich eingerichteten Zimmer ein. Hinter einem ausladenden Tisch saß ein weißhaariger Mann, der, wie Brenna glaubte, kaum älter als sein Kommandant sein konnte. Zwar war die um seine Schultern fallende Mähne von der Farbe frisch gefallenen Schnees, doch allzu tief hatten sich die Falten noch nicht in sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht gegraben.
Hellgrüne Augen blitzten ihnen entgegen, wach und voller Sorge musterten sie erst Agnar und dann auch Brenna, die sich im Angesicht eines Hauptmannes doch ein wenig beklommen fühlte. Breitschultrig saß er da, die dunkel gefärbten Säume seiner ledernen Wächtertracht einziges Kennzeichen seiner Stellung, die er dafür jedoch umso mehr ausstrahlte.
Was Brenna hingegen weitaus mehr berührte, war die Tatsache, dass seinem prüfenden Blick keinerlei Urteil innewohnte, obwohl ihm, nebst zwei stattlichen Kommandanten, ein deutlich niederes Mädchen in abgenutzten Kleidern gegenüberstand.
„Seid willkommen in Rimsdal. Ich bin Rutmar, Kommandant hier", sprach er dann, sobald Brenna ihr Gepäck abgelegt hatte. „Ich sehe euch an, dass es dringlich ist. Darf ich dem zum Trotz eure Namen erfahren, bevor ihr berichtet?"
Diesmal überließ Brenna dem jungen Kommandanten gern das Wort, dennoch entging es ihr nicht, dass er sie zuvor mit fragendem Blick streifte.
„Dies ist Brenna, deren kluge Idee es war, den Plünderern zu folgen", begann er zu ihrer Verlegenheit. „Ich bin Agnar, Kommandant der Wächter Skjerfjells, und habe mich ihr angeschlossen."
So wohl Brenna das Lob auch tat, spürte sie, wie ihr die Hitze der Verlegenheit in die Wangen stieg, verstärkt durch das wohlwollende Nicken Rutmars in ihre Richtung. Anerkennung und freundliche Worte waren ihr schon lange fremd geworden, nun wusste sie kaum damit umzugehen.
Doch schon fuhr Agnar fort. „Gestern morgen wurden wir von Seeräubern überrannt, die uns zusätzlich vom Land her in den Rücken gefallen sind. Kaum ein Wächter hat überlebt, höchstens die Hälfte der Dörfler und zudem wurden einige Frauen geraubt."
Niemals hätte Brenna die grässlichen Tatsachen derart kühl wiedergeben können. Dass der junge Mann sich nur mühsam zusammenriss, bemerkte sie erst, als er eine Pause einlegen musste und hörbar schluckte.
„Das tut mir leid zu hören", sprach der Hauptmann leise in die Stille hinein. „Wir werden alles an Hilfe entsenden, was wir nur geben können. Aber habe ich es richtig verstanden, dass die Schiffe in unsere Richtung gesegelt sind?"
Agnar nickte. „Das haben mehrere Zeugen bestätigt."
„Und sie sind nicht zurückgekehrt?"
„Nein, keinesfalls – das wäre uns sicher nicht entgangen!"
„Da sie hier nicht gesichtet wurden, gibt es nur eine Möglichkeit – sie müssen sich in Runars Bucht zurückgezogen haben", erwiderte Rutmar mit einem Stirnrunzeln, dann fuhr er plötzlich zusammen. „Die vermissten Fischer! Versucht nicht gerade der alte Eivor stets dort sein Glück? Malvik, ist es nicht so?"
Die hellgrünen Augen vor Erregung funkelnd starrte der Hauptmann seinen Kommandanten an. Dieser nickte zögerlich, kurz streifte sein Blick über Brenna hinweg. „Ja, das ist wohl möglich."
„Dann können wir es keinesfalls wagen, dort nach ihnen zu suchen, oder wir werden schon bald noch einige vermisste Wächter zu beklagen haben", stellte Rutmar grimmig fest.
„Aber was ist denn an Runars Bucht so besonders, dass die Seeräuber dort Halt machen sollten?", platzte es aus Brenna hervor, die ihre Neugier nicht länger zurückhalten konnte. Im nächsten Moment zog sie den Kopf ein, doch der weißhaarige Hauptmann dachte nicht einmal daran, sie zu schelten.
„Oh, das ist es ja eben", sprach er sie stattdessen ernsthaft an. „Dort gibt es nichts von Interesse. Die Felswände sind steil, viel zu steil, als dass dort jemals eine Siedlung gegründet worden wäre. Und dennoch ist dieser Ausläufer des Fjords zu flach, als dass sich das Fischen dort wirklich lohnte. Nein, es muss einen anderen Grund geben, warum dieses Pack sich dort verbirgt, und ich habe da eine Ahnung!"
Fahrig begann er, in einem Stapel von Pergamenten zu wühlen. „Wandelmond, war es nicht Ende des Wandelmonds?", murmelte er in sich hinein, dann schien er das Gesuchte gefunden zu haben. „Ja! Die Nordbarke ist auf dem Weg nach Skarvangen! Sie kann nicht mehr weit sein!"
Brenna wusste mit dieser Information nichts anzufangen, Agnar und Malvik, der Kommandant Rimsdals, fuhren jedoch zusammen.
„Natürlich!", rief Letzterer aus. „Die Lieferungen aus dem Süden! Was gäbe es bessere Beute als eine ganze Schiffsladung an Gütern!"
„Ja, das könnte es sein", stimmte auch Agnar zu. „Aber ist das nicht ein wenig zu groß gedacht?"
Ermutigt durch den zuvor erfahrenen Zuspruch wagte es das Mädchen erneut, sich einzumischen. „Die Nordbarke? Ist das nicht ein Handelsschiff aus dem Süden?"
Wieder war es Rutmar, der die Frage geduldig beantwortete. „Ja, ganz recht. Jedes Frühjahr trifft sie in Skarvangen ein. An Bord ist alles, was wir hier im Norden brauchen – Eisen, Stoffe, Wein, Getreide und vielerlei mehr. Eine wahrhaft lohnenswerte Beute also."
„Aber wenn die Seeräuber das im Sinn haben, warum sollten sie vorher Skjellvik angreifen?", sprach Brenna ihre Zweifel aus. „Ist das nicht ziemlich dumm, sich schon vorher zu verraten?"
„Fürwahr", sprach der Hauptmann, das Mädchen mit scharfem Blick bedenkend. „Das ist durchaus seltsam. Andererseits, wer würde erwarten, dass jemand die Kraft findet, nach einem derartigen Schlag seine Nachbarn zu warnen?"
„Ich hab das doch nur gemacht, weil sie meine Freundin mitgenommen haben", murmelte Brenna in sich hinein.
„Vielleicht gibt es dennoch einen guten Grund, warum sie zuerst in Skjellvik waren", meinte Agnar bedächtig. „Ich habe noch nie davon gehört, dass sie ihre Mannen auch über Land angreifen lassen. Was, wenn sie diese Taktik zuvor erproben wollten?"
„Aber direkt vor dem eigentlichen Schlag? Ist das nicht recht riskant?", warf Malvik ein. „Hätten sie dies nicht schon vorher tun sollen?"
„Wann denn?", gab Agnar herausfordernd zurück, derweil Brenna dem Gespräch voller Anspannung lauschte. „Früher im Jahr ist die See zu rau, um sich hinauszuwagen. Selbst die Nordbarke, weit größer als die Schiffe der Seeräuber, wartet, bis sich die letzten Stürme verzogen haben! Wenn sie nun während des Winters den Plan ersonnen haben, die Lieferungen aus dem Süden abzugreifen und somit gleich alles an lohnenswerter Beute vereint einzufahren, dann musste natürlich auch eine neue Taktik her."
„Und es blieb keinerlei Zeit, diese in größerem Umfang zu testen", fiel der weißhaarige Hauptmann erregt ein und erhob sich. „Ja, das klingt, als könnten wir mit unserer Einschätzung richtig liegen! Und das bedeutet, dass wir so rasch wie nur möglich Kunde nach Skarvanger entsenden müssen, wenn wir weiteres Unheil verhindern wollen!"
„Ich werde die Graumöwe sogleich bemannen lassen", verkündete der Kommandant Rimsdals. „Wenn der Wind und die große Mutter uns hold sind, erreichen wir Skarvanger noch rechtzeitig!"
„Aber nur so viele Wächter wie nötig, sie zu führen", hielt der Hauptmann seinen im Aufbruch begriffenen Untergeben zurück. „Lass gleichzeitig die Wacht verstärken, berufe einen jeden ein. Und beauftrage Bendik damit, gemeinsam mit so vielen Helfern wie nur möglich gen Skjellvik zu ziehen. Sie sollen an allem, das der Heilung zuträglich ist, so viel mitnehmen, wie ein jeder tragen kann. Oh, und so leid es mir auch tut, sie werden dem Weg über die Berge folgen müssen, um keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen."
Der Kommandant nickte, die geballte Faust auf die Brust legend, dann entschwand er zur Tür hinaus.
„Und was ist mit uns?", entfuhr es Brenna, die fürchtete, zurückgelassen zu werden. „Ich will auch mit nach Skarvanger, wenn die Seeräuber dort hinfahren! Ich muss doch Ida zurückholen!"
„Vielleicht solltest du das besser uns überlassen", merkte Agnar vorsichtig an und auch Rutmars Miene war von Sorge und Zweifel geprägt.
„Du hast mit deinem Mut bereits viel geleistet, Brenna", übernahm der Hauptmann das Wort. „Aber so wichtig dir deine Freundin auch ist – du bringst dich nur selbst in Gefahr und kannst dennoch nicht viel ausrichten, fürchte ich. Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du nach Skjellvik zurückkehrst und dort hilfst?"
Kurz glaubte Brenna, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Man schloss sie so einfach aus? Dann jedoch übernahm der aufkeimende Ärger die Führung. Sollten sie machen, was sie wollten, doch aufhalten würde sie das nicht.
„Schön, wenn ihr mich nicht mitnehmen wollt, gehe ich eben zu Fuß", verkündete sie, nahm ihr Bündel auf und fuhr auf dem Absatz herum.
Eine feste Hand, sie sich plötzlich um ihren Arm schlang, hielt Brenna zurück. „Lass mich", fauchte sie Agnar an, der sie daraufhin so unerwartet freigab, dass sie beinahe gestolpert wäre.
„Warte", bat er das Mädchen eindringlich, um sich dann an Rutmar zu wenden. „Lass uns bitte beide mitfahren! Ohne Brennas Mut wäre alles ganz anders verlaufen und eure Männer würden gerade jetzt Runars Bucht entgegenrudern, um nie wiederzukehren. Meinst du nicht, dass sie es verdient hat, weiterhin mit dabei zu sein?"
Unfähig, ihre Verblüffung zu verbergen, starrte Brenna den jungen Mann an. Was war nur in ihn gefahren, dass er die Gelegenheit, sie loszuwerden, nicht nutzte?
Der Hauptmann indes seufzte leise. „Es gefällt mir wirklich nicht, ein Mädchen dorthin zu entsenden, wo es vielleicht bald zu einer Schlacht kommen wird. Andererseits hast du Recht, Agnar. Deine Beharrlichkeit nun zu strafen, Brenna, indem wir dich zurückschicken, wäre vielleicht aus den Augen eines Wächters betrachtet das Klügste und doch kann ich deinen Wunsch verstehen."
„Dann muss ich also doch nicht laufen?", entfuhr es Brenna, was dem Mann tatsächlich ein leises Lachen entlockte.
„Nein, das musst du nicht. Kommt, alle beide, folgt mir. Malvik wird nicht begeistert sein, aber sagt, könnt ihr rudern?"
Agnar nickte sogleich und nach kurzem Zögern tat Brenna es ihm gleich. Lang war es her, dass sie auf einem Boot mit angefasst hatte, doch vergessen war all ihr Wissen nicht, so sehr sie dies auch manches Mal wünschte.
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