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Einige Herzschläge verstrichen. Höchst konzentriert stand das Mädchen da, bis der Ruf ein weiteres Mal erklang.

„Brenna! Wo steckst du?" Ein Mann war es, der da nach ihr suchte, doch über das stete Plätschern der Wellen hinweg konnte sie nicht bestimmen, wer es war.

„Hier bin ich!", gellte Brenna schließlich zurück, nachdem es ihr endlich gelungen war, die der Überraschung geschuldeten Starre zu überwinden.

Angestrengt spähte sie ins Halbdunkel hinaus, bis sich der Umriss eines Bootes daraus hervorschälte. Der geringen Größe nach musste es einer der kleinen Kähne sein, dessen steter Ruderschlag nun über das sanfte Rauschen der Wellen an ihr Ohr drang.

„Hierher!", rief das Mädchen noch einmal, um dem unbekannten Ruderer den Weg zu weisen. Vorsichtig, mit den Händen für weiteren Halt sorgend, überwand Brenna die letzten Felsen bis hinab zum Wasser.

Der Ruderschlag war mittlerweile verstummt, zielsicher geführt hielt das Boot auf sie zu, noch von seinem Schwung getragen und stetig an Geschwindigkeit verlierend. Kurz vor dem Ufer stand es gänzlich still, nur noch von den Wellen bewegt, dann richtete sich der scheinbar einzige Mann an Bord behutsam auf.

„Hier, pack zu!"

Beinahe hätte Brenna ins Leere gegriffen, als ihr das Tau entgegengeworfen wurde. Agnar! Es war tatsächlich Agnar, der ihr gefolgt war.

Langsam zog sie das Boot dem Ufer entgegen, derweil der junge Kommandant ein Ruder ausgestreckt hielt, um den Rumpf des Kahns von hervorstehenden Felsen fernzuhalten. Brenna nahm den Kahn in Empfang, den letzten Schwung mit ihrem Körpergewicht abfedernd.

Gleichzeitig legte Agnar das Ruder quer über die Bänke und trat, mit ausgebreiteten Armen um Gleichgewicht kämpfend auf den Bug zu. Ein großer Schritt, dann hatte er das sichere Ufer erreicht, um dem Mädchen den Strick aus den Händen zu nehmen.

Keinerlei Begrüßung gab er von sich und auch Brenna schwieg, während der junge Mann das Boot an einem hervorstehenden Felsen vertäute. Erst, als er sich vorbeugte und ein Bündel aufnahm, das er ihr brüsk in die Arme drückte, richtete er das Wort an sie.

„Da, nimm das. Ich hoffe, hier lässt es sich einigermaßen angenehm nächtigen?"

„Nein, wohl eher nicht", murmelte Brenna verlegen. „Ich habe hier Halt gemacht, weil ... weil es zu dunkel wurde."

„Ich merke schon, dein Plan ist bestens durchdacht", erwiderte Agnar hörbar gereizt, indes er sich erneut am Boot zu schaffen machte. „Ganz wunderbar!"

So froh Brenna auch war, nicht mehr alleine zu sein, erweckte sein Vorwurf hellen Ärger in ihr. „Mein Plan?", stieß sie zunächst noch gedämpft hervor, wurde dann jedoch fortwährend lauter, bis ihre Stimme von den gegenüberliegenden Bergen zurückhallte. „Was erwartest du denn von einer billigen Schankmagd, die zu dumm ist, die Regeln zu verstehen?"

So dunkel es inzwischen auch war, entging Brenna nicht, dass Agnar so plötzlich erstarrte, als hätte sie ihn geschlagen. Einige Herzschläge vergingen, bis er sich endlich wieder rührte und weiteres Gepäck aus dem Boot hervorzog.

Schwerfällig mühte er sich an dem Mädchen vorbei und hinauf auf den Weg, wo er mit einem unterdrückten Ächzen zu Boden sank. Brenna hingegen blieb, wo sie war, noch immer kochend vor Wut und nahe daran, Agnar ob seines Schweigens mit weiteren zornigen Worten zu bedenken.

Schließlich räusperte er sich. „Es tut mir leid, Brenna, wirklich. Der Alkohol, weißt du ..."

Doch weiter kam er nicht. „Ach, das ist deine Entschuldigung? Dass du zu viel getrunken hast? Darauf pfeif ich, weißt du das? Wer besoffen zum größten Mistkerl des Dorfes wird, sollte kein Wächter sein und außerdem die Finger vom Alkohol lassen!"

Entgegen Brennas Erwartung schwieg der junge Mann erneut, anstatt sich zu verteidigen. „Ja, da hast du wohl Recht", murmelte er schließlich so leise, dass es beinahe im Wogen des Fjordes unterging.

Ein wenig besänftigt durch dieses unerwartete Eingeständnis schnaufte das Mädchen noch einmal verächtlich auf, um dann ebenfalls den Uferhang zu erklimmen. „Hier, dein Gepäck", meinte Brenna und streckte ihm das Bündel entgegen.

„Das ist für dich", erwiderte Agnar jedoch. „Eine Decke und etwas Proviant."

Stumm ließ auch sie sich nieder, eine ganze Mannslänge von ihm entfernt. Danken konnte Brenna dem Kommandanten indes nicht, nach allem, was geschehen war. Und dass er ihr gefolgt war, sah sie keinesfalls als edle Heldentat an, sondern schlichtweg die Pflicht eines Wächters.

Doch immerhin, so schoss es ihr durch den Kopf, hatte Agnars unrühmliches Verhalten sie vermutlich davor bewahrt, gemeinsam mit Ida und Gritt verschleppt zu werden. Auch dies war keine Entschuldigung für sein Tun, doch zumindest eine glückliche Fügung des Schicksals.

Träge brachen sich die Wasser an den Felsen, kühl sank die Frühlingsnacht über den Fjord herab, während Brenna das Bündel entrollte und den warmen Wollstoff um ihren Körper schlang. Den gedörrten Fisch und das Brot hingegen rührte sie nicht an, da ihr Magen noch immer mit der letzten Mahlzeit kämpfte.

„Morgen noch vor Sonnenaufgang brechen wir auf", verkündete Agnar, nun wieder bestimmt wie immer. „Rimsdal ist nicht mehr weit, mit dem Boot ist es rasch erreicht. Und jetzt sollten wir besser schlafen."

„Ich wüsste auch nicht, was ich hier draußen sonst noch anstellen sollte", gab Brenna schnippisch zurück, erhielt jedoch bis auf ein leises Brummen keine Antwort mehr.

Mit einem leisen Seufzen machte sie es sich so gemütlich wie nur möglich, den Rücken gegen die Felswand gelehnt und ihre Beine lang ausgestreckt. Die Decke war ein Segen, hielt sie doch gar der aufsteigenden Kälte stand.

Ihren aufgewühlten Gedanken zum Trotz - all die Toten, das Blut, die Verwüstung, und Ida in den Händen der Seeräuber – forderte der anstrengende Tag seinen Tribut. Rasch fielen Brenna die Augen zu, gnädig umfing sie die betäubende Dunkelheit des Schlafes.

Doch viel zu früh wurde das Mädchen geweckt. Müde blinzelte Brenna ins Leere, für einen Moment vollkommen verwirrt, wo sie sich befand und unsicher, was sie aufgescheucht hatte. Erst, als Agnars tiefe Stimmer erklang, kehrten erste Erinnerungen zurück.

„Komm, es ist Zeit", rief er wohl nicht zum erste Mal. Brummend streckte sich das Mädchen, wenig begeistert über die frühe Stunde. Gerade erst zeichnete sich ein heller Streifen am östlichen Himmel ab, dort, wo der Fjord tief ins Land hineinreichte.

Sobald die Nebel des Schlafes von ihr wichen, fuhr Brenna jedoch wie gestochen auf und raffte sämtliches Gepäck an sich. Die Arme voll beladen stolperte sie hinab zum Boot und wäre dabei fast gegen Agnar geprallt, der bereits den Strick löste.

„Na endlich", brummte er. „Steig ein, setz dich nach hinten!"

Sie tat wie geheißen, darum bemüht, ihn in keinster Weise spüren zu lassen, wie schwer es ihr fiel, den schwankenden Kahn zu betreten.

Es war durchaus eine gute Idee, den Wassern zu folgen anstatt dem unsteten Pfad, weitaus schneller würden sie so vorankommen, dies musste Brenna im Stillen gestehen. Zudem war da Agnars Verletzung. Niemals hätte er bis nach Rimsdal laufen können, geschweige denn weiter den Fjord hinauf.

Und doch rang Brenna um Fassung, da sie auf die schmale Bank am Heck sank. Der Geruch feuchten Holzes, gemischt mit Salz und verdorbenem Fisch, erweckte lang vergangene Bilder von glücklichen Tagen.

Das leise Glucksen der Wellen unter dem hölzernen Kiel klang wie damals, ebenso das Rumpeln der Ruder in den Dollen, als Agnar den kleinen Kahn behutsam aus der Bucht steuerte. Damals, als Vater sie ab und an mit hinaus auf den Fjord genommen hatte und das Mädchen vor Freude gejauchzt hatte, wenn die Wellen das Boot zum Schaukeln gebracht hatten.

Mühsam kämpfte Brenna gegen die Erinnerung an, konnte jedoch nicht verhindern, dass Tränen in ihre Augen traten. Dankbar für das Dämmerlicht und den nebligen Dunst in der salzgetränkten Luft starrte sie angestrengt blinzelnd gen Himmel, während Agnar die Ruder nun mit kräftigem Schlag führte.

Ab und an versicherte er sich mit einem Blick über die Schulter hinweg, auf dem rechten Kurs zu sein, doch abseits dieser kurzen Momente sah er zwangsweise gen Heck des Bootes, dorthin, wo Brenna saß.

Die unangenehme Vorstellung, er könnte Zeuge ihrer Schwäche werden, ließ sie die Zähne zusammenbeißen, dass es nur so knirschte. Bis es hell genug geworden war, mehr als nur vage Umrisse zu erkennen, gelang es dem Mädchen mit größter Anstrengung, die Schatten der Vergangenheit wieder einmal zu bannen.

Stattdessen gab sich Brenna der Hoffnung hin. Diesmal konnte sie noch etwas tun, diesmal gab es noch etwas zu retten. Einen Wächter hatte sie bereits gewonnen, gewiss würden sich weitere anschließen, um die Verschleppten aus den Händen der Seeräuber zu erretten.

Ungeduldig spähte sie nach vorn, doch Agnars breiter Körper versperrte ihr fortwährend die Sicht. Keinesfalls sollte er glauben, dass sie auch nur einen Hauch an Interesse daran hatte, ihn zu betrachten!

Er schien jedoch glücklicherweise ebenso wenig erpicht darauf zu sein, ihrem Blick zu begegnen. Stumm sah der junge Kommandant auf seine Hände herab, die sich wieder und wieder kreuzten, wenn er die Enden der Ruder bis dicht zur Brust heranzog.

Als sie nach einer Weile die nächste Krümmung des Fjordes passierten, hatte das Warten ein Ende. Deutlich erkannte Brenna durch die letzten Reste an Nebel die Masten vielerlei Schiffe, dann auch die kleinen Boote dazwischen, allesamt ordentlich zwischen den hölzernen Stegen vertäut.

Die meisten waren wohl bereits entladen worden, dennoch herrschte weiterhin reger Betrieb, vielerlei Rufe hallten dem kleinen Kahn entgegen. Die Besatzungen der Fischerboote mussten längst eingekehrt sein, nun war es Aufgabe zahlreicher Arbeiter, sämtliche Vorbereitungen für die nächste Nacht zu treffen.

„Hier waren sie nicht!", entfuhr es Brenna erregt und auch Agnar atmete sichtlich auf. Warum auch immer hatten die Seeräuber Rimsdal verschont, waren weiter den Fjord hinauf entschwunden.

Somit würden sie hier vielleicht Hilfe finden, wenn denn die ansässigen Wächter die Not erkennen und sich ihnen anschließen würden, die Verschleppten zu befreien. Einen anderen Gedanken ließ Brenna nicht zu – hielten denn nicht die kleinen Dörfer des Nordens stets zusammen?

Zielsicher steuerte Agnar den ersten Steg an. Sanft glitt der Kahn darauf zu und kaum da er die hölzernen Bohlen streifte, erhob sich Brenna vorsichtig. Beherzt trat sie auf den festen Grund hinaus, um sogleich den ihr gereichten Strick zu ergreifen.

Wie von selbst knüpften ihre Finger geschickt eine Schlinge, die sie über den nächsten Pfahl warf. Dass Agnar sie dabei genau beobachtete, ging ihr erst auf, als sich Brenna ihm wieder zuwandte.

„Du weißt, wie man einen Palestikk legt?", erkundigte er sich mit erhobenen Brauen. Mittlerweile rahmte ein prächtiger Bluterguss sein linkes Auge unter der bereits verschorften Platzwunde und hätte den jungen Mann recht zwielichtig wirken lassen, wäre da nicht die Tracht der Wächter gewesen.

„Mein Vater war Fischer", murmelte Brenna und wich seinem Blick aus, derweil sie die Reling des Kahns mit beiden Händen fest umschloss. „Kommst du jetzt endlich?"

Agnar beließ es dabei, warf sämtliches Gepäck hinaus auf den Steg und betrat diesen dann mit einem großen Schritt. Dass ihm sein verletztes Bein weiterhin Probleme bereitete, konnte er dabei nicht gänzlich verbergen.

Die von Schmerz gezeichneten Züge wichen jedoch rasch einer entschlossenen Miene. „Lass uns die Wächter hier aufsuchen", verkündete der junge Kommandant, gefolgt von einem unwilligen Stirnrunzeln, da Brenna sämtliche Bündel auf ihre Schultern lud.

„Ich kann durchaus auch noch etwas tragen", brummte er.

„Du kannst doch kaum laufen", gab Brenna entschieden zurück. „Sieh zu lieber zu, dass du uns Hilfe verschaffst!"

Bevor Agnar zu einer Antwort fand, erzitterte der Steg unter dumpfen Fußtritten. Beide fuhren sie herum, um sich im nächsten Moment vier Wächtern gegenüberzusehen. Sämtliche Hände ruhten auf den Griffen der Schwerter, doch als sie einen der Ihren erkannten, senkten sie alle höflich den Kopf, die rechte Hand zur Faust geballt und auf die Brust gelegt.

„Willkommen in Rimsdal, Bruder", ergriff einer von ihnen das Wort, dem kleinen Abzeichen an seiner Brust nach ebenfalls Kommandant. „Was treibt dich in unseren Hafen?"

Auch Agnar bedachte die Männer mit dem unter Wächtern üblichen Gruß, ehe er zu sprechen anhob. „Seid gegrüßt, Brüder! Wir kommen mit schlimmen Nachrichten – Skjellvik wurde gestern früh von Seeräubern überrannt. Habt ihr ihre Schiffe gesehen? Überlebende sagten uns, dass sie gen Osten entschwunden sind."

Die Überraschung stand einem jeden der Wächter ins Gesicht geschrieben. „Nein, hier sind sie nicht vorbeigekommen", erwiderte der Kommandant Rimsdals, die grauen Augen von deutlicher Sorge geprägt. „Es tut mir leid um eure Verluste und natürlich werden wir euch nach Kräften unterstützen, aber zunächst müssen wir nach einigen vermissten Fischern fahnden."

Agnar horchte ob dieser Information sichtlich auf, doch Brenna kam ihm zuvor. „Vermisste Fischer?", platzte es aufgeregt aus ihr hinaus. „Meint ihr nicht, dass es da einen Zusammenhang geben könnte?"

Plötzlich ruhten die Blicke aller auf ihr, die meisten von Zweifel und einem Hauch Belustigung erfüllt. „Lass mal gut sein, Kleine", schmunzelte der Hauptmann Rimsdals. „Wir machen das schon."

Augenblicklich sah Brenna rot. „Ihr macht das schon?", fuhr sie ihr Gegenüber an. „Wie dumm bist du eigentlich? Seeräuber passieren den Fjord und einige eurer Fischer kommen nicht zurück – das muss wohl selbst der einfältigste Dorschkopf begreifen!"

Ihre Worte wischten sämtliches dümmliche Grinsen hinfort. Offener Zorn stand nun in des Kommandanten Augen geschrieben, leise Röte bahnte sich ihren Weg durch die von einem ausladenden, rotblonden Bart gezierten Wangen.

„Was fällt dir ein?", polterte er, ein stattlicher Mann von etwa vierzig Wintern.

„Stört es dich, dass sie die Wahrheit spricht, oder liegt es daran, dass sie keine der Unseren ist?", mischte sich unerwartet Agnar mit ein und trat einen Schritt vor. „Ich bin sicher, dass Brenna nicht darauf aus war, dich und deine Männer zu beleidigen. Aber ihre durchaus kluge Einschätzung der Lage derart abfällig abzutun, steht einem Wächter nicht!"

Die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt starrte Agnar sein Gegenüber deutlich herausfordernd an. Brenna, der die Situation zunehmend unangenehmer wurde, hätte sich am liebsten hinter ihm versteckt, doch das ließ ihr noch lang nicht versiegter Ärger nicht zu.

Hoch aufgerichtet hielt sie den Blicken der Wächter stand, die sich nach Agnars Worten jedoch allmählich auf ihn konzentrierten.

„Also gut, vergessen wir das", schnaufte der Kommandant Rimsdals. „Kommt, lasst uns die Lage besprechen, und dies besser rasch."

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