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Unter einem der zusammengebrochenen Stände regte sich etwas. Fieberhaft zerrte Brenna an dem grellroten Leinen, bis der Stoff nachgab und sie unter weiteren Trümmern die lederne Tracht eines Wächters erkannte.

Wieder stöhnte der Mann leise auf, Gesicht und Oberkörper noch verborgen unter dem Schutt. „Warte, ich helfe dir", stieß Brenna hervor. „Halt still, beweg dich nicht!"

Vorsichtig begann sie, Bretter und Pfosten von seinem Körper zu ziehen, was nicht einfach war. Ineinander verkeilt und von Stoffresten umfangen ließen sich die schweren Hölzer nur mühsam bewegen, doch das Mädchen gab nicht auf.

Bis der Wächter sich unerwartet krümmte. „Mein Bein", ächzte er.

Sofort hielt Brenna inne und beugte sich vor, um dann zu erkennen, dass sich ein zersplittertes Stück des Gestänges in seinen Oberschenkel gebohrt hatte. Ungemein vorsichtiger ging sie nun vor, dennoch japste der Verletzte dann und wann vor Schmerz leise auf.

„Tut mir leid", wisperte das Mädchen. „Aber ich muss dich ja irgendwie da rausholen – halt durch, es ist gleich geschafft!"

Als Brenna eine weitere Stoffbahn entfernte, wurde ihr endlich gewahr, wem sie zur Hilfe geeilt war. Verkrustetes Blut entstellte das Gesicht, doch die dunkelblauen Augen, eines davon beinahe gänzlich zugeschwollen, erkannte sie sofort.

„Agnar!", entfuhr es Brenna. Zu ihrer eigenen Überraschung verspürte sie keinerlei Genugtuung ob seines jämmerlichen Zustands, nicht einmal ein Hauch von Zorn stieg in ihr auf, da sie seinem von Tränen verschleierten Blick begegnete.

„Bitte, geh nicht", flüsterte er. Sie indes schüttelte energisch den Kopf und fuhr fort, den jungen Kommandanten zu befreien. Zu sehr erleichterte es sie, dass sie inmitten des Grauens nicht länger alleine war, um ihm jetzt vorzuwerfen, was er ihr angetan hatte.

Stumm ließ Agnar ihre Hilfe über sich ergehen, ab und an biss er die Zähne zusammen und gab ein gepresstes Keuchen von sich, wenn es sich nicht vermeiden ließ, dass eines der Bretter jenes Holz streifte, das sich in sein Bein bohrte.

Schließlich lag es jedoch frei. Erstaunt über ihre eigene Gelassenheit nahm Brenna einige der Leinenfetzen zur Hand.

„Ich muss das jetzt rausziehen, Agnar", murmelte sie, woraufhin er ergeben nickte. Fest umfasste sie die splittrige Stange, holte noch einmal tief Luft und riss sie dann mit einem Ruck heraus.

Noch gestern hätte sie viel für einen derart gequälten Schrei aus des Kommandanten Kehle gegeben, heute hingegen schnitt er ihr tief ins Herz. Darauf bedacht, die Blutung rasch zu stillen, presste das Mädchen zittrig ein Bündel an Stoff auf die Wunde und schlang einen weiteren Streifen darum, verschnürte ihn fest um den kräftigen Oberschenkel.

Kurz schien es, als sei Agnar in die Bewusstlosigkeit geglitten, doch nur einen Herzschlag später zitterten seine Lider. „Danke", murmelte er und machte gar Anstalten, sich aufzurichten.

„Warte", mahnte Brenna, doch er ließ sich nicht zurückhalten.

„Sind sie alle fort? Ist es vorbei?", stieß er hervor und fuhr auf Brennas Nicken hin fort. „Wir müssen nach weiteren Überlebenden suchen!" Achtlos wischte sich Agnar eine blutverklebte Strähne seines blonden Haars aus der Stirn.

Im gleichen Moment zuckte er zusammen und stieß ein gepresstes Zischen aus, da er auf die Platzwunde über seinem linken Auge stieß.

Brenna indes schenkte dem keine Beachtung, da Agnars Worte sie an die Freundin erinnerten. „Hast du Ida gesehen? Oder Gritt? Sie sind nicht im Gasthaus, meinst du, sie könnten entkommen sein?", sprudelte es aus ihr hervor.

„Ich weiß es nicht", erwiderte er mit einem Seufzen. „Aber sie haben einige Mädchen und Frauen mitgenommen, wir konnten nichts dagegen tun, es waren zu viele!"

Der Kommandant biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten und die Muskeln seines kräftigen Kiefers deutlich hervortraten. „Wir konnten nichts tun", wiederholte er, während Brenna ihn anstarrte, kaum fähig, die Information zu verdauen. „Wir konnten nichts tun, die Mistkerle sind auch über Land gekommen und sind uns in den Rücken gefallen!"

Nun begriff das Mädchen, warum niemand in die Berge entkommen war. Übelkeit stieg in Brenna auf, da sie daran dachte, dass Ida und Gritt vielleicht ebenfalls Zuflucht im Keller gesucht hatten, um statt den Tod ein gar grausameres Schicksal zu erleiden.

„Wir konnten nichts tun!", brüllte Agnar unvermittelt auf, so dass Brenna aufschreckte. Die kräftigen Fäuste geballt und am ganzen Leib zitternd saß er da, Wut und Kummer rangen in seinen dunkelblauen Augen miteinander.

Er hatte gewiss alles gegeben, die ihm Anvertrauten zu schützen, dessen war sich das Mädchen sicher. Dass ihm dies nicht gelungen war, musste schwer auf seinen Schultern lasten und erneut verspürte Brenna durch die eigenen Sorgen hindurch nichts als Mitgefühl.

„Aber wir können noch etwas tun", stieß sie heiser hervor, obwohl ihr Furcht und Sorge um die geliebte Freundin beinahe den Atem raubten. „Komm!"

Damit erhob sie sich und streckte dem Kommandanten ihre Hand entgegen. Kurz zögerte er, um sich hastig einige Tränen von den Wangen zu wischen, dann griff er zu. Im nächsten Moment ächzte Brenna unter dem Gewicht des Mannes, bis er aus eigener Kraft stand.

Es wunderte sie, wie es ihm gelang, das verletzte Bein zu ignorieren, doch einmal zurück in der Senkrechten wischte eine kühle Gelassenheit jegliches Gefühl aus Agnars Gesicht.

„Du hast Recht", stellte er fest. „Es gibt gewiss weitere Überlebende, die unsere Hilfe brauchen. Lass uns auf die Suche gehen."

Damit erhob er seine Stimme, die weit über den Marktplatz hallte. „Heja, die Gefahr ist vorüber! Wir sind hier, um zu helfen!"

Brenna verdrehte die Augen. „Würdest du etwas auf die Worte eines Mannes geben, nach allem, was geschehen ist?", fuhr sie Agnar an. „Lass mich das machen!"

„Bitte", fauchte er zurück, „wenn du es besser weißt, nur zu!"

Da war er wieder, der lodernde Zorn diesem überheblichen Burschen gegenüber. Mehrfach musste Brenna daran schlucken, denn ein Wutschrei war wohl kaum angedacht, verängstigte Menschen aus ihren Verstecken zu locken.

„Ist da noch jemand?", schrie sie dann und trat weiter auf den verwüsteten Marktplatz hinaus. „Braucht jemand Hilfe?"

Wieder rührte sich nichts. Agnar, der sich an ihrer Seite hielt, gab ein leises Schnaufen von sich. Nichtsdestotrotz schritt Brenna weiter voran, unverdrossen nach Überlebenden rufend. Dass der Kommandant es übernahm, sämtliche Gefallene, die sie passierten, auf Lebenszeichen zu untersuchen, war ihr eine Erleichterung.

Doch sein fortwährendes Kopfschütteln und die sich stetig verdüsternde Miene trafen das Mädchen hart, bis es schließlich schwieg, da ihm die Stimme zu brechen drohte.

Plötzlich glaubte Brenna jedoch, eine Antwort zu vernehmen. Abrupt blieb sie stehen, wie auch Agnar den Kopf lauschend erhoben. Und dann erklangen aus den Gassen, die hinab zum Hafen führten, die Rufe einer Frau.

Sofort setzten sich die zwei in Bewegung, als gleichzeitig ein Fenster unweit von ihnen aufgestoßen wurde. „Sind sie fort?", erkundigte sich ein älterer Mann mit bebender Stimme.

„Sie sind fort. Bist du verletzt oder kannst du helfen?", gab Agnar zurück, nun wieder vollkommen bestimmt und eine Autorität ausstrahlend, die selbst Brenna abseits ihrer Abneigung anerkennen musste.

„Wir können helfen!", erwiderte der Mann. „Wartet, wir kommen herunter!"

„Und wir kommen hinzu", fiel jene Frau ein, deren Stimme sie zuvor vernommen hatten. Die Schürze blutbefleckt trat sie auf den Marktplatz, doch verwundet schien sie nicht zu sein. „Unten im Hafen gibt es einige Verletzte, aber sie sind bereits versorgt und die Heilerin ist gleich hier", verkündete sie.

Fast schämte sich Brenna im Angesicht der vielen Toten für ihre Erleichterung, doch ihr Herz entkrampfte sich mit einem jeden, der den Angriff überstanden hatte. Und vielleicht konnte man ihr unten im Hafen verraten, wen man mit auf die Schiffe genommen hatte  und wohin diese entschwunden waren.

Überstürzt setzte sie sich in Bewegung, der scharfe Ausruf Agnars war ihr einerlei. Auch die verdutzte Frau versuchte mit beschwichtigend ausgebreiteten Armen, das Mädchen aufzuhalten, doch Brenna umrundete sie und tauchte in die Gasse ein, aus der sie gekommen war.

Obwohl sie angestrengt versuchte, den Zeichen des Überfalls keine Beachtung zu schenken, entging Brenna nicht, dass lediglich die gehobeneren Häuser unweit des Marktplatzes geplündert worden waren. Je näher sie dem Hafen kam, desto seltener zeigten die Türen der stetig schlichter werdenden Unterkünfte Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens.

Opfer der mordenden Horden fanden sich hingegen weiterhin. Wächter, einfache Fischer, fein gekleidete Kaufleute und dazwischen immer wieder Frauen und Kinder jeglichen Standes lagen erschlagen im Staub, abseits ihrer Herkunft allesamt vereint im Tod.

Es wunderte Brenna, wie abgestumpft sie den grausigen Eindrücken inzwischen begegnete, doch an die Hoffnung geklammert gelang es ihr, nicht vollends den Verstand zu verlieren. Als sie dann die alte Silja entdeckte, die ihr gemeinsam mit einigen Helfern entgegenkam, ging die Aufregung jedoch mit ihr durch.

„Wo ... wo sind sie hin?", stammelte das Mädchen der Heilerin entgegen. „Ich muss wissen ..."

„Sachte, mein Kind", erwiderte die Alte und umfasste Brennas Hände mit sanftem und doch nachdrücklichem Griff. „Bist du verletzt?"

Entschieden schüttelte sie den Kopf, verzweifelt darum ringend, das Durcheinander in ihrem Kopf zu bändigen. „Nein, es geht mir gut, aber ich muss wissen ... hat jemand unten im Hafen gesehen, wen sie verschleppt haben?"

„Sie sind fort, es ist vorbei", sprach Silja voller Wärme, derweil Brenna spürte, wie der prüfende Blick sie noch immer von oben bis unten musterte. „Komm, Brenna, wir sammeln uns auf dem Marktplatz, da bist du nicht allein."

„Nein, du verstehst nicht", entfuhr es dem Mädchen, da sie sich nachdrücklich von der Heilerin löste. „Sie haben Ida geraubt, ich muss wissen, wohin sie sind!"

Und bevor die Alte ein weiteres Wort verlieren konnte, stürzte Brenna weiter voran. „Beim alten Lagerhaus", rief Silja ihr glücklicherweise noch hinterher.

Dankbar für den Hinweis, den zu erfragen ihr inmitten aller Erregtheit entgangen war, wechselte Brenna an der nächsten Weggablung die Richtung. Wieder drang ihr Rauch in die Augen, da auch hier ein Feuer gewütet und eine Vielzahl der kleinen Hütten in nichts als verkohlte Balken und Asche verwandelt hatte.

Beinahe übertünchte der Brandgeruch gar den allgegenwärtigen Gestank nach faulendem Fisch, Tran und Salz, der dem Hafenviertel sonst innewohnte. Nur selten hatte ein Botengang Brenna hierhin geführt, das große Lagerhaus vor den Stegen indes war nicht zu verfehlen.

Aus dem alten Holzbau drang ihr schauerliches Ächzen entgegen, kurz zögerte sie auf der Schwelle, bevor der Drang nach Antworten Überhand nahm.

Sofort raubte ihr die stickige Luft den Atem, Übelkeit erregend war die Mischung aus verdorbenen Fischsäften, frischem Blut, Schweiß und Fäkalien. Auf den Türpfosten gestützt kämpfte Brenna auf ein Neues mit ihrem Magen, der zu glauben schien, dass er sich noch nicht oft genug entleert hatte.

Auf dem nackten Boden der Halle, wo sonst in Kisten und Fässern bewahrte Güter aufeinandergestapelt lagerten, waren etliche Menschen aufgebahrt. Notdürftig versorgt, die gröbsten Verletzungen verbunden und manch einer bewusstlos, andere hingegen leise jammernd oder schluchzend, lagen sie dort.

Ein paar Helfer, zum größten Teil Frauen und auch Kinder, huschten umher, um Wasser und Trost zu verteilen, doch das allgegenwärtige Leid zu stillen, gelang selbst dem unermüdlichen Schaffen nicht.

Eine warme Hand, die sich um die ihre legte, erlöste das Mädchen aus ihrem stummen Kampf mit der Übelkeit. „Brenna?", erklang eine leise, freundliche Stimme. „Bist du verletzt?"

Als Brenna aufsah, blickte sie in die geröteten Augen von Greta. Wirr hingen der Bäckerin die flachsblonden Haare ins Gesicht, anstatt feinem Mehlstaub wies die sonst so blütenweiße Schürze dunkle Flecken geronnenen Blutes auf.

„Nein, ich ... mir geht es gut", stieß Brenna hastig hervor. „Ich suche Ida, hast du sie vielleicht gesehen? Hat irgendjemand sie gesehen? Ich fürchte, sie haben sie mitgenommen!" Ein unkontrolliertes Schluchzen brach sich Bahn, heiße Tränen brannten auf ihren Wangen.

Sanft zog die rundliche Frau das Mädchen in eine Umarmung. „Ganz ruhig", murmelte sie mit erstickter Stimme. „Beruhige dich. Ich werde mich sofort umhören, ja? Aber ich möchte, dass du draußen wartest."

Behutsam, aber bestimmt schob Greta Brenna zur Tür hinaus, dann fuhr sie ihr mit zitternder Hand übers Haar. „Warte hier. Ich werde sehen, was ich tun kann."

Mit wehenden Röcken entschwand die Bäckerin. Nun wieder gänzlich allein mit ihrem Kummer verlor Brenna endgültig die Fassung und sank auf den grob gepflasterten Grund hinab. Hilflos weinend umschlang sie ihre Knie, den Kopf auf die Arme gebettet.















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