Und ich krieg's nie mehr weg

Die grauen Flocken draußen wirkten unwirklich in der warmen Wohnung, als wären sie weit weg, obwohl in Wahrheit nur zwei dünne Glasscheiben ihn von ihnen trennte. Und von Kevin trennte ihn ein ganzes Leben - auch wenn es schwer war, sich das einzugestehen. Mit Übelkeit sah er den Flocken bei ihrem sinnlosen Tanz zu, wie sie erst schwebten, fielen, nochmal vom Wind getragen aufstiegen, und schließlich auf den Boden aufprallten. Genauso hatte sich ihre Beziehung angefühlt. Ihre Freundschaft, die für ihn schon lange mehr als das gewesen war. Und geendet hatte alles damit, dass er jetzt mit einem Glas Pinot Noir hier stand. Mit einem schweren Seufzer lehnte er den Kopf an die Fensterscheibe. Die Kälte des Glases drang über seine Stirn bis in sein Herz, und ließ ihn noch mehr einfrieren. Es hatte keinen Zweck. Nichts hatte mehr einen Zweck. Noch nie hatte sich sein Leben so sehr nach aufgeben angefühlt, noch nie war so wenig Kraft in ihm übrig gewesen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er den Wein, ständig in Versuchung, noch einen Schluck mehr zu trinken. Aber zwei Gläser waren schon viel, wenn man sonst nichts trank - doch was spielte es für eine Rolle, wenn aus zwei drei wurden und aus drei eine Flasche? Für Kevin hatte nichts eine Rolle gespielt. Nichts von dem, was sie verbunden hatte. Sonst hätte er es nicht so beschmutzt, ohne ein zweites Mal nachzudenken.

Es war einfacher, sich einzureden, dass er gedankenlos gehandelt hatte - aber insgeheim kannte er die Wahrheit und war sich derer auch bewusst. Er war nie gut darin gewesen, sich selbst zu belügen, und es war nicht das erste Mal, dass ihm das zum Verhängnis wurde.

Mit jeder zeitlosen Sekunde, die verstrich, fühlte sich sein Herz leerer an. Es war schrecklich, aber irgendwie war er auch dankbar, denn taub zu sein war am Ende besser als der Schmerz, den er vor ein paar Stunden noch gespürt hatte. Vielleicht war das der Grund, aus dem Leute Alkohol tranken, sich betäubten. Weil sie dann tanzen und lachen konnte während ihre Sicht verzerrt war, so tun konnten als würde alles keine Rolle spielen - obwohl es das in Wahrheit tat. Er konnte auch nicht verdrängen, dass der Aufprall morgen Früh umso härter sein würde. Allein in der Wohnung, vermutlich mit Kater - wie auch immer sich das anfühlen würde. Aber jetzt war es ihm egal, die Konsequenzen seines Handelns waren egal. Alles war egal, weil Kevin weg war. Weil ihr letztes Gespräch auch das letzte gewesen war. Weil all die Jahre jetzt Erinnerungen werden mussten, von denen er niemandem mehr lachend erzählen konnte. Zehn Jahre. Zehn gottverdammte Jahre. Fast sein halbes Leben hatten sie gemeinsam verbracht - nur damit es jetzt vorbei war. Sie waren zusammen aufgewachsen, zusammen erfolgreich geworden, sie hatten so viele Sorgen und Ängste und dunkle Tage durchgestanden. Und jetzt war alles vorbei. Anscheinend war es immer so, dass einem alles mehr bedeutete als dem anderen. Und wie immer in seinem Leben hatte es ihn getroffen, nachdem er ihn getroffen hatte. Seine ganze Präsenz war in ihm eingeschlagen wie ein Blitz, damals in seiner dunkelsten Zeit. Und wie eine Motte war er immer wieder Richtung Licht gerannt.

Und jetzt war er wieder allein. Mit seiner Dunkelheit und seiner Kälte. Seinen Schatten. Kevin war der einzige gewesen, der es geschafft hatte, sie zurückzudrängen. Kein Therapeut war dazu in der Lage gewesen und am wenigsten er selbst. Und egal wann und wo sie ihn drohten zu überfallen - er war da gewesen und hatte sie zurückgehalten. Hatte ihn gehalten. Und zehn Jahre waren genug, um sich zu sehr auf einen Menschen zu verlassen, um in eine Routine zu fallen, selbst wenn man versuchte an sich zu arbeiten. Er wusste nicht was geschehen würde, wenn sie wiederkamen. Denn was er wusste war, dass er alleine nicht mit ihnen fertig wurde.

Wenn er genau darüber nachdachte - und das passierte wie immer von ganz alleine - spürte er sie jetzt schon. Links von ihm, rechts von ihm, hinter ihm lauerten sie und wenn er sich umdrehte, würden sie forthuschen, gerade schnell genug, dass er sie nicht klar erkennen konnte, aber zu langsam, als dass sie ihm entgehen würden. Es war beängstigend damit auf sich allein gestellt zu sein. Das letzte Mal als es so gewesen war, war etwas schreckliches passiert.

Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr überrollte ihn die Panik, lähmte seine Lungen, so dass er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Er griff nach dem Glas und nahm mit zitternder Hand noch einen Schluck. Das bittere, brennende Gift rann seine Kehle runter, und änderte nichts daran, dass er das Gefühl hatte, nicht allein zu sein. Wie ironisch das war, wo er doch allein war. Dein Problem ist, dass du Angst vor der Angst selbst hast. Du gibst ihr zu viel Macht über dich, Basti. So wird es dir nie besser gehen.

„Verschwinde aus meinem Kopf", heulte er und warf das Weinglas gegen das Fenster, wich zurück. Seine Gefühle drohten ihn zu ersticken. Er hatte ihn allein gelassen, aber was noch viel schlimmer war, er hatte ihn sich selbst überlassen. Er nahm kaum wahr, dass das Glas zerbrochen war. Rote Spritzer zierten die weißen Wände und die weiße Seide seines Hemdes. Die Flüssigkeit rann auf den Boden, floss in die Ritzen des hellen Laminats und unter seinen Schrank. Er stand wie in Trance da und sah dabei zu, senkte den Kopf und bemerkte abwesend, dass ein großer roter Fleck sich direkt über seinem Herzen ausbreitete. Scherben spickten die Hand, die das Glas gehalten hatte, aber er spürte keinen Schmerz. Er spürte überhaupt nichts mehr außer die lähmende Angst, was passieren würde, wenn er sich umdrehte. Dass die Schatten dann nicht wie sonst verschwanden, weil sie keiner mehr zurückhielt. Keiner außer ihm, und er war schon immer zu schwach gewesen, um sie aufzuhalten. Wie aus der Ferne nahm er ein Schluchzen wahr, und realisierte erst nach ein paar Sekunden, dass es von ihm kam. Sein Sichtfeld verschwamm, er torkelte zurück Richtung Waschbecken und versuchte seine Hände scharf zu stellen. Mit fahrigen Bewegungen griff er nach den Glassplittern und zog sie aus seiner Haut. Das Klirren, als sie auf den Edelstahl prallten schnitt in seine Ohren.

Normalerweise gab es genau zwei Dinge, die er tun musste in solch einem Moment. Das erste war, sein Handy zu greifen, das zweite war, die Notfalltaste 1 zu drücken. Selbst wenn er nicht sprechen konnte, wusste Kevin dann Bescheid, dass er ihn brauchte. Es waren zwei einfache Handgriffe, zu denen er bis auf das eine Mal immer in der Lage gewesen war. Aber jetzt wusste er nicht, wo sein Handy war, und selbst wenn er es gewusst hätte, hätte er dem Ablauf nicht folgen können. Denn Kevin war fort und hatte die Sicherheit, nicht allein zu sein, mit sich genommen. Er hatte alles mit sich genommen.

Blut rann über seine Hände und plötzlich war ihm übel als er es ansah. Er schwankte, stolperte nach hinten und plötzlich drehte sich alles, bis er einen harten Schlag gegen den Kopf spürte. Für einen Moment wurde alles schwarz, die Luft verließ seine Lungen schlagartig und er musste husten. Erst da begriff er, was passiert war. Er war gestürzt. Er war betrunken und blutete und war gestürzt. Und noch schlimmer war, dass niemand kommen würde, um ihm zu helfen. Er war allein, und vermutlich hatte Kevin genau deswegen getan, was er getan hatte. Weil niemand die Verantwortung für ein anderes Leben tragen konnte - nicht für so eine lange Zeit.

Dabei hatte er alles versucht, um sich zu ändern, alles versucht, um zu heilen, um sich selbst halten zu können. Aber es hatte nicht gereicht. Nie hatte er sich selbst gereicht. Aber jetzt war das alles egal - es spielte keine Rolle mehr. Mit geschlossenen Augen lag er da und wartete, dass die Schatten ihn endgültig einholten.


Danke an Edo Saiya für die Inspiration. Hört euch „roter Wein" von ihm und Lil Lano an, wenn ihr möchtet.

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