Wer bist du?

Die Kommissare staunten nicht schlecht, als sie die Verwüstung sahen. „Hier soll dieser unsympathische Kerl wohnen?", fragte Al ungläubig. Das hatte er diesem Kerl gar nicht zugetraut.

Reece warf ihm einen bösen Blick zu. „Halt dich zurück. Kümmert euch zuerst um die unverletzten Zeugen." Er selbst würde nach einer ganz speziellen Zeugin suchen. Dank seiner Abstammung machte ihm die Dunkelheit, die allzu häufig von den grell aufblitzenden Sirenen durchbrochen wurde, nichts aus. Während seine Kollegen auf das Haus zugingen, lag sein Ziel ein wenig woanders. Anstatt im Gebäude nach ihr zu suchen, steuerte er auf den hinteren Teil des Gartens zu. Dorthin, wo noch ein paar Bäume standen. So, wie er sie kennengelernt hatte, würde er seine linke Hand darauf verwetten, dass sie hier war.

Hinter ihm raschelte es, dann wurde der Lauf einer Pistole mit leisem Klicken entsichert. „Was tust du denn hier?"

Ein unwillkürliches Lächeln huschte über sein Gesicht. „So unfreundlich?"

Schulterzuckend ließ Ria ihre nun wieder gesicherte Waffe in den Untiefen ihrer Kleidung verschwinden. „Was erwartest du?"

Die Kälte, die sie ausstrahlte gab ihm zu denken. „Nicht unbedingt, dass du ruhig daneben sitzt. Was ist hier passiert?"

„Wo ist Blake?", forderte sie zu wissen, ohne auf seine Frage einzugehen.

Überrascht drehte Reece sich zur Auffahrt um, wo diverse Sanitäter herumirrten und Krankenwagen kommen und gingen. „Unterwegs ins Krankenhaus." Er sah gerade rechtzeitig wieder zu ihr, um ihre Züge entgleiten zu sehen.

„Nein!" In einem Anflug von Verzweiflung wollte sie an dem Polizisten vorbei und zur Auffahrt stürmen.

Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, sie zurückzuhalten. Mit starken Armen zog er sie an seine Brust. „Du kannst ihm jetzt nicht helfen. Ich bringe dich nachher zu ihm ins Krankenhaus."

Es dauerte eine ganze Weile, bis Ria aufgab. Schwer atmend ließ sie sich ins Gras fallen. Erleichtert bemerkte Reece die Träne, die unauffällig über ihre Wange rann. Die eisige Kälte war wenigstens halbwegs aus ihrem Blick gewichen. „Ich kann ihn nicht alleine lassen, verstehst du?"

Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Warum?"

Ein gehetzter Blick trat in ihre hellbraunen, beinahe orangenen Augen. „Er stirbt. Er ist der nächste. Alle sterben."

Reece kniete sich neben sie und suchte besorgt ihren Blick. „Was meinst du damit?"

Die Panik in ihren Augen war nicht mehr zu übersehen. „Ich bin das Ziel", wisperte sie heiser. Das Grauen hinter dieser Erkenntnis ließ sie schaudern. „Ich bin zwar das Ziel, aber bevor ich an der Reihe bin, werden alle anderen aus dem Weg geräumt. Wie damals..."

„Was genau willst du mir damit sagen?" Es fiel ihm schwer zu glauben, was sie da sagte. Andererseits schien sie wirklich nicht das Ziel dieses Anschlags gewesen zu sein. Sonst würde es ihr nicht so gut gehen. „Was meinst du mit damals?"

Dunkle Schatten verklärten ihre hellen Augen. „Meine Eltern."

„Du erinnerst dich?" Mit gerunzelter Stirn forschte er in ihren Augen, die in weite Fernen zu blicken schienen, nach Antworten.

„Erinnerungen", ein nichtssagendes Schulterzucken, „Ahnungen. Nenn es wie du willst."

„Was hast du alles mitbekommen?"

Ria öffnete gerade den Mund, um zu antworten, da kam Kemal auf die beiden zugeeilt. „Süße." Erleichtert atmete er auf und schloss sie in seine Arme. „Gut, dass dir nichts passiert ist."

Geistesabwesend nickte sie. „Kemal?"

Der Araber ließ von ihr ab und wechselte einen offensichtlich verwirrten Blick mit einem ratlos mit den Schultern zuckenden Reece, bevor er ihr antwortete. „Ja, Ria?"

„Wer stand meinem Vater nahe? Wem hat er noch so sehr vertraut wie euch?"

Sich über die Frage wundernd antwortete er leise: „Niemandem sonst. Wir waren schon immer sehr gute Freunde. Nun ja, da war noch Harald. Aber der ist schon vor deiner Geburt gestorben. Und Artem. Von dem habe ich aber ewig nichts mehr gehört. Warum fragst du?"

Sehr zu Reeces Missfallen kehrte die Kälte in Rias Augen zurück. „Wo ist dieser Artem?"

Ratlos zuckte Kemal mit den Schultern. „Wie gesagt, ich habe schon lange nichts von ihm gehört." Fürsorglich bot er ihr seine Hand an. „Lass uns rein gehen."

Alarmiert stellte Reece sich zwischen die beiden. „Ich muss ihre Aussage aufnehmen. Sie können sie nachher bei uns auf dem Präsidium abholen."

Kemal stutzte, nickte nach einer kurzen Bedenkzeit jedoch widerstrebend. „Vermutlich ist sie bei Ihnen momentan sicherer. Passen Sie gut auf meine Tochter auf, Herr Kommissar."

Mit kaltem Blick folgen Rias Augen ihrem Ziehvater.

„Was ist los?" Reeces scharfe Frage holte sie wieder in die Gegenwart. Sie schien offensichtlich mit sich zu ringen, bevor sie zögernd erwiderte: „Blake hat gesagt, ich kann dir vertrauen. Bring mich zu ihm, dann erzähle ich dir alles. Aber weder hier, noch in deinem Büro. Irgendwo, wo es sicher ist."

Reece wog kurz das Pro und Contra dafür ab, dann nickte er. Erleichtert drückte Ria ihm ein Messer in die Hand. „Hier. Manchmal ist eine Pistole einfach zu laut. Pass auf deinen Rücken auf, immerhin ist mein Vertrauen in dich dein Todesurteil."

Er lächelte schwach. „Wenn du wüsstest, wie oft mir das schon gesagt worden ist."

Ria antwortete ihm mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. Sich immer wieder nach eventuellen Bedrohungen umsehend ließ sie sich von ihrem einzigen Vertrauten zu dessen Wagen führen.

Bevor Reece in den Wagen stieg, gab er Lea mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er auf den Weg zum Krankenhaus war. Nicht, dass seine Kollegen sich noch wunderten. Rias Verhalten gab ihm Rätsel auf. Sie schien unter Schock zu stehen und doch war da etwas an ihr, das von einer tiefen Unruhe sprach. Immer wieder wanderten ihre Augen suchend umher, schienen aber nichts zu finden. „Du kannst dich entspannen, in meiner Nähe wird dir niemand etwas zuleide tun."

Rias Seufzen klang eine Spur verächtlich. „Dasselbe hat Blake mir auch gesagt. Und der ist immerhin oberster Clanguru. Und was hat es ihm gebracht? Wie schlimm ist er eigentlich verletzt?"

Nun war es an Reece zu seufzen. „Ich kann dir nicht sagen, wie es um ihn steht. Die Sanitäter waren schon auf dem Weg, als ich angekommen bin. Ich kann Rita anrufen und sie fragen oder du wartest die paar Minuten, bis wir im Krankenhaus angekommen sind. Und was deine Skepsis betrifft, so ist niemand hundertprozentig sicher. Bei einigen Leuten ist die Wahrscheinlichkeit draufzugehen ein wenig geringer als bei anderen."

Für seine unklare Antwort strafte sie ihn mit einem vernichtenden Blick. „Das war sehr aufschlussreich, vielen Dank."

Vor dem Krankenhaus nahm er sie sich zur Seite. „Überlass das Reden bitte mir. So aufgekratzt wie du bist, schlitzt du gleich jedem die Kehle auf."

Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Wenn er wüsste, wie richtig er lag. „In Ordnung. Ich lasse meine Waffen da, wo sie stecken. Bring mich einfach nur zu Blake."

Reece nickte knapp. Es wunderte ihn nicht, dass Blake momentan im Operationssaal lag. Ria im Gegenteil schien sich nicht mehr lange halten zu können. Also rang er der Sekretärin das Versprechen ab, sich sofort bei ihnen zu melden, sollte Blake aus dem OP entlassen werden. Anschließend schnappte er sich Rias Arm und zog sie durch die Tür nach draußen, zurück zum Auto. „Wir können hier nichts tun. Komm mit, ich bringe dich zu mir nach Hause."

Widerstrebend folgte sie ihm. Es fiel ihr schwer, sich von der einzigen anderen Person, der sie vertraute und auch vertrauen konnte zu trennen. „Egal, was ich auf der Fahrt sagen sollte... halte mich bitte nicht für verrückt."

Reece runzelte kurz die Stirn, beschloss dann aber, dass es ihn nichts anging, wenn sie Dinge mit sich selbst ausfocht. Er nickte kurz und schloss hinter ihr die Autotür.

Ragna, dachte Ria angespannt.

Sofort spürte sie seine Gegenwart. Ja?

Was soll ich nur tun? Ich will ihn nicht verlieren!

Ihr Gefährte bemerkte ihre gehetzte Stimmung und ihre Panik, die sich darunter verbarg. Sanft ausatmend schickte er eine Welle der Geborgenheit zu ihr. Du kannst nichts gegen das Schicksal tun. Natürlich wird sein Verlust schmerzen. Dir sogar ein wenig mehr, weil ihr verbunden seid, aber das gehört nun einmal dazu.

Rias Knöchel wurden weiß, so sehr verkrampften sich ihre Hände. Gleichzeitig gruben sich ihre Fingernägel so tief in ihre Handballen, dass sie spürte, wie ihre Haut darunter nachgab.

Sagt dir der Name Artem was?

Ragnarök stutzte. Deine Mutter mochte ihn nicht sonderlich, deshalb hat dein Vater bei deiner Geburt beschlossen, die Freundschaft zu beenden. Zumindest ist es das, was deine Mutter mir erzählt hat.

Hat sie dir viel erzähl?, hakte sie leicht verwirrt nach.

Der Drache nickte leicht. Sie hat gewusst, dass sie dich nicht aufwachsen sehen wird. Auch deine Mutter hatte einen Geist. Sie hieß Shellie. Jedes Team hat eine besondere Fähigkeit. Deine Mutter hatte Ahnungen. Sie konnte gewisse Dinge erahnen. Es hat eine Weile gedauert, bis die beiden diese richtig deuten konnten, aber nach und nach gelang es ihnen.

Soll das heißen, meine Eltern wussten, dass sie sterben würden? Schockiert sog sie Luft ein.

Reece warf ihr einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch nichts.

Sie haben alles versucht, es solange wie nur irgend möglich hinauszuzögern. Aufrichtiges Bedauern schwang in seiner Stimme mit.

Welche Fähigkeit haben wir? Ria wusste, dass das keine dringende Angelegenheit war. Dennoch wollte es wissen und wenn sie dabei die Konfrontation mit der unausweichlichen Wahrheit noch ein wenig hinauszögern konnte, war es ihr momentan nur allzu recht.

Ihr Schattendrache schien das nachvollziehen zu können. Du hast es schon indirekt erfahren müssen. Die Angst beeinflusst dich, deshalb bist du bei den letzten Aufträgen so außer Kontrolle geraten. Deine, also unsere, Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass du dich nicht von den in deiner Umgebung vorherrschenden Emotionen beeinflussen lässt. Wenn uns das gelingt, können wir die Emotionen der Leute um uns herum lesen.

Nun, dachte Ria munter, das war doch etwas. Danke, wandte sie sich an Ragnarök, aber jetzt muss ich mich wohl der Wahrheit stellen. Wenn Blake wach ist und meinen Verdacht bestätigt, könnte ich deine Hilfe gebrauchen.

Ihr Drache lachte belustigt. Darauf kannst du dich verlassen.

„Wir sind da", beendete Reece das mentale Gespräch zwischen den beiden.

Mit mühevoll unterdrückter Wut stieg Ria aus. Es kostete sie alle Willenskraft, die sie aufbieten konnte, um nicht sofort zurück zu rennen.

„Dieser Scheißkerl", fauchte Ria, sobald Reece die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Der erkannte, dass sie nicht wusste, wohin mit ihren Emotionen. Daher legte er Jacke und Schuhe ab und begann, die Möbel im Wohnzimmer an die Wand zu rücken. „Komm her", forderte er sie schließlich auf.

Zögernd und vor unterdrückter Wut bebend leistete sie seiner Bitte Folge. Langsam trat er hinter sie. „Lass mich dir aus deiner Jacke helfen." Vorsichtig streifte er den Stoff von ihren Schultern. „Lass alles raus. Aber bitte erst, wenn ich deine Sachen weggelegt habe."

Sie stand so reglos da, dass sie wie eine Statue wirkte. Seufzend griff er sie an.

Nach ihrem Kampf ließ sie sich schwer atmend auf den Teppich sinken. Sie hatte das Gefühl an einem Abgrund zu stehen. Hinter ihr donnerte eine überwältigende Lawine an Tränen und es blieben ihr zwei Möglichkeiten. Entweder ließ sie sich mitreißen und in den Abgrund stürzen oder aber sie sprang ein Stück und rettete sich in Reeces Arme, nutzte sein Vertrauen und nahm der Lawine somit die Wucht.

„Er ist so ein Schweinehund." Sie entschied sich für letztere Variante und warf sich schluchzend in die Arme des Jägers. „Wie kann er mir nur so etwas antun? Uns allen? Warum?" Ihr Sturm aus Wut und Verzweiflung ergoss sich in Form von Tränen über Reeces Shirt. Der strich ihr unterdessen wortlos über die Haare.

Es dauerte, bis sie sich beruhigt hatte. Letztendlich sah sie mit leeren und zugleich entschlossenen Augen zu ihm auf. „Vergiss Zajc, er ist nur ein Bauer. Genau wie der Kerl, der meine Eltern auf dem Gewissen hat."

Skeptisch hob er eine Augenbraue. „Du weißt also, wer es war?"

„Meine Eltern?" Sie schüttelte ihren Kopf. „Wer immer das war, war ein Bauernopfer. Die Person, die hinter allem steht ist meiner Meinung nach jemand ganz anderes. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, dazu muss ich erst mit Blake sprechen. Sollte sich mein Verdacht jedoch bestätigen, wirst nicht einmal du mich aufhalten können." Die wilde Entschlossenheit in ihrem Blick wirkte geradezu beängstigend.

„Ich werde dich nicht aufhalten, aber ich kann dich auch nicht alleine gehen lassen. Ich verspreche dir, mich herauszuhalten, solange du nicht in Lebensgefahr schwebst."

Abschätzig musterte sie ihn. Ihr erster Impuls war es, ihm zu widersprechen. Aber was hätte das gebracht? „Solange du dich auf Rückendeckung beschränkst."

„Das verspreche ich dir. Wen hast du denn im Verdacht?"

Anstelle einer Antwort wurde er einer erneuten Musterung unterzogen. Schließlich richtete sie sich auf und fragte aufrichtig neugierig: „Wer bist du? Wärst du ein normaler Mensch, würde Blake dir niemals vertrauen."

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