Von Jägern und Schattenseelen

Also, fragte sie neugierig, sobald die Katze es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht hatte, was ist passiert?

Die Umgebung um sie herum wurde undurchsichtiger. Bald schwebte ein dunkelgrauer Schatten vor ihr. Die Umrisse waren zu unklar, um die Form zu identifizieren. Wie ich schon sagte, bin ich ein Geist. Ein Schattendrache, um genau zu sein. Aber deine eigentliche Frage ist vermutlich die nach dem Blut. Nun ja, ihr Jäger wart ursprünglich keine Menschen. Irgendwann habt ihr euch euren Lebensumständen angepasst und euer Blut mit dem der Menschen vermischt. Es gibt viele verschiedene Geschöpfe auf dieser Welt und deine Art hat schon immer Jagd auf die gemacht, die aus der Reihe tanzen. Die ursprünglichen Jäger, in anderen Kreisen auch bekannt als Schattenseelen, verbanden sich mit Geistern, die ihnen halfen. Sei es nun beim Verschleiern ihrer Identität oder im Kampf. Genau genommen sind Jäger all diejenigen, die von Schattenseelen geschaffen wurden. Sie müssen Blut trinken, um die Emotionen aufzunehmen und ihre Kräfte zu erhalten. Schattenseelen hingegen brauchen kein Blut. Es gibt aber einige, die es trinken, weil es hier den Geistgefährten ersetzt. Frag mich nicht, warum das so ist. Ich bin kein Professor. Naturgemäß brauchen sie es aber nicht. Du, meine Liebe, hast jedenfalls das Glück, zu den Ursprünglichen zu gehören.

So, wie Ragnarök es darstellte, ergab das alles einen Sinn. Meinst du, Kemal weiß davon?

Das raue Lachen des Drachens ertönte in ihrem Kopf, seine nun deutlich erkennbaren Augen glühten gelb. Oh, nein. Dafür ist er zu jung und die Zeit der Geister ist vorbei. Es gibt nur noch sehr wenige Paare wie uns.

Auch das ist nicht verwunderlich, dachte sie und erinnerte sich an den großen Blutvorrat im Kühlschrank. Also erfüllst du genau die Aufgaben, die das Bluttrinken erfüllt?

Der Schattendrache schüttelte verächtlich den Kopf. Ich kann noch viel mehr. Das Blut kann nicht kommunizieren, außerdem ist das eigentlich nur eine alternative Ernährungsform. Wir können jederzeit in Verbindung treten. Allerdings musst du lernen, mich zu erreichen. Bislang bist du immer unwissentlich zu mir gekommen. Du kannst mich aber auch zu dir rufen. So, wie eben.

Sie dachte an die Dunkelheit, auf die sie zugerannt war. Ich kann es ja in den nächsten Tagen versuchen. Aber habe ich das richtig verstanden? Ich brauche kein Blut zu trinken, weil ich dich habe?

So ist es, wurde ihr prompt bestätigt.

Erleichtert entspannte sie ihre vor Anspannung starren Muskeln. Eine gute Nachricht. Hörst du immer, was ich denke?

Ragnarök verneinte. Wir sind zwei selbstständige Individuen. Aber ich bin immer bei dir. Ich bin sozusagen ein Teil deiner Seele, den du nur unter gewissen Voraussetzungen erreichen kannst. Das ist in etwa so, wie mit einer geschlossenen Tür. Je mehr du dich von mir abschottest, desto weniger bekomme ich mit. Lässt du diese Tür jedoch nur angelehnt, kann ich mithören.

Immerhin war sie in ihrem Kopf noch alleine. Wie beruhigend. Wie kam es eigentlich dazu, dass wir uns aneinander gebunden haben?

Die Dunkelheit des Drachen umschmeichelte sie. Damals warst du noch ein ganz kleines Kind. Du hattest dich in meine Höhle verirrt. Du bist eine Jägerin von Geburt, eine Schattenseele. Du hast deine Kräfte immer schon gehabt. Und du warst damals schon stark, das konnte jeder in deiner Nähe spüren. Mit deinen orangenen Augen hast du mich in deinen Bann gezogen. Du warst müde und konntest dich kaum noch auf den Beinen halten. Da habe ich entschlossen, dich zu beschützen. Seitdem sind wir verbunden. Deine Mutter bat mich, deine Kräfte zu binden. Sie selbst haben es damals nicht über sich gebracht. Du musst wissen, dass eure Kräfte gebunden werden können, damit ihr nicht so auffallt. Als Kinder seid ihr noch klein und verletzlich. Ohne diese auffälligen Unterschiede, könnt ihr euch leichter unter den Menschen verstecken, bist ihr alt und stark genug seid. Vielleicht hat deine Art sich auch mittlerweile so angepasst, dass ihr eure Kräfte erst später entwickelt.

Sie erinnerte sich an ein anderes Gespräch. Eines, das sie mit Reece in Belgien geführt hatte. Und was weißt du über die Geschaffenen?

Ihr Schattenbegleiter schnaufte abfällig. Dabei wurde sie von einer hellgrauen Wolke umhüllt. Wenn ein Mensch genug von eurem Blut – egal ob von einem Jäger oder einer Schattenseele – zu sich nimmt, entwickelt er sich zu einem Jäger. Alle Jäger sind irgendwann einmal geschaffen worden. Allerdings wird er nie das Ausmaß an Kraft und Sinnesschärfe erreichen, über das Schattenseelen verfügen. Jäger sind unfähig, Bindungen einzugehen.

Ria dachte eine Weile über das Gesagte nach. Schnurrend rollte Cora sich auf den Rücken, damit ihr Frauchen das weiche Fell unter ihrem Bauch streicheln konnte.

Du hast gesagt, du hilfst mir beim Verschleiern. Was genau meinst du damit?

Nun ja, deine Augenfarbe ist so hell, dass sie orange wirkt. Wenn ich dir helfe menschlicher zu erscheinen, sind deine Augen zum Beispiel braun. Und du hast auch nicht mehr deine Kräfte, wenn du das möchtest. Sobald du aber auf deine angeborenen Kräfte zurückgreifst, fällt auch deine Tarnung und deine Augenfarbe wird wieder hell. Im Prinzip bist du selbst in der Lage, deine Körperkraft zu kontrollieren. Es erfordert nur einiges an Beherrschung.

Ein nachdenkliches Nicken. Und wie willst du mir im Kampf helfen können?

Eine zarte Brise zerzauste ihr zärtlich das nachtschwarze Haar.

Wie ich dir bereits bei unserem ersten Treffen sagte, bin ich der Anfang und das Ende, das Dunkel und das Licht. Ich kann deine Reflexe steigern, wie du vorhin schon bemerkt hast. Alles andere wirst du schon noch erfahren. Es ist ja langweilig, wenn ich dir alles erzählen muss.

Sie glaubte, ihn leise und belustigt lachen zu hören. Bei all der Erleichterung, die sie erfahren hatte, dass sie kein Blut zu trinken brauchte, so stand sie doch vor einem nicht gerade geringen Problem. Und Mr. Neunmalklug, wie bringe ich das jetzt Blake bei? Oder Kemal?

Die Umrisse des Schattendrachen begannen zu verschwimmen. Dein Mann weiß doch schon längst, dass du anders bist.

Er ist nicht mein Mann, widersprach sie heftig.

So? Wenn du mehr über euch Schattenseelen erfahren willst, solltest du deinen Freund besuchen gehen.

Die Tür zur Terrasse flog auf. Ragnarök verschwand und ließ Ria mit einem großen Fragezeichen über ihrem Kopf zurück. Sie versuchte ihn zu erreichen, indem sie in Gedanken ständig seinen Namen rief, aber alles blieb still.

Cora rappelte sich fauchend auf und sauste an Gian und Andreas vorbei ins Haus. Ria starrte die beiden nur böse an.

„Kemal wartet unten auf dich", begann Andreas langsam. Gian nickte nur bestätigend. Dabei lehnte er sich so an die Tür, dass er betont hart und stark wirkte. Ria fand seine machohafte Pose eher belustigend, als wirklich einschüchternd.

„Ich trinke kein Blut. Von mir aus könnt ihr jetzt gerne zu Blake rennen. Niemand kriegt mich heute noch einmal in den Wohnbereich. Nicht, solange dort Blut herumsteht." Demonstrativ streckte sie sich und legte sich auf die Schaukel. „Ich nehme hier ein Sonnenbad. Wenn mich jemand sucht, ich bin hier oben."

Die beiden Männer wechselten einen entnervten Blick. „Das ist doch wirklich nicht schlimm, Süße."

Dieser Kosename war zu viel. Wütend sprang sie auf und baute sich vor ihm auf. „Süße ist etwas, das nur Leute zu mir sagen dürfen, die mit mir befreundet sind. Und das bist du ganz sicher nicht. Wenn dir dein Leben lieb ist, lässt du mich in Frieden. Es ist mir scheißegal, was Blake tun wird, wenn ich dich umlege, kapiert?"

Andreas schien es drauf anlegen zu wollen. Skeptisch hob er eine Augenbraue. „Du kannst Gian vielleicht verprügeln, aber gegen mich hast du keine Chance, das verspreche ich dir."

Ria war nicht so vermessen zu glauben, es mit zwei ausgebildeten Jägern aufnehmen zu können. Dummerweise hatte sie auch keine Waffen dabei. Andererseits schien zumindest er sie zu unterschätzen. Das könnte sich als Vorteil erweisen. Und hey, sie hatte es auch schon früher mit mehreren Kerlen gleichzeitig aufnehmen können. Sie musste nur an die richtigen Punkte kommen, dann würde es keinen Kampf geben. Das war durchaus machbar.

Sie schenkte ihm ein überhebliches Lächeln. „Du legst es wirklich darauf an, was? Ich wusste gar nicht, dass du Masochist bist."

Ihr Gegenüber schnaubte verächtlich. „Du bist noch jung und hast keine Ahnung, was du tust."

Er machte einen Schritt auf sie zu und eine Geste, die Ria an einen Affen beim Revierkampf erinnerte. Fehlte nur noch, dass er anfing, sich auf der Brust herum zu trommeln und zu brüllen. Mit anderen Worten: sein Einschüchterungsversuch scheiterte auf der gesamten Linie.

Ihr Blick besagte eindeutig, dass sie an seiner geistigen Gesundheit zweifelte. „Sehr beeindruckend. Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich habe keine Zeit für Zirkusvorstellungen."

Gian bekam einen solchen Lachanfall, dass er seine Machopose aufgab. Er rollte sich doch tatsächlich auf dem Boden.

Mit über seinen Ausbruch verständnislos hochgezogener Augenbraue stieg Ria über ihn hinweg und verzog sich in die Ruhe des kleinen Bücherraumes, den sie vor einigen Tagen entdeckt hatte. Anscheinend wussten nur sehr wenige von diesem Raum. Das war ihr ganz recht. Cora erwartete sie dort bereits, auf ihrem samtroten Katzenkissen neben dem Lesesessel thronend. Als Ria eintrat, entspannte sie sich und drehte sich schnurrend auf den Rücken. Eine Einladung, die ihr Frauchen unmöglich ignorieren konnte. Sie schnappte sich eines ihrer Lieblingsbücher und machte es sich neben ihrer Katze bequem, damit sie sie während des Lesens streicheln konnte.

In genau der gleichen Position fand Blake die beiden am späten Abend. Er lehnte sich an den Schreibtisch und wartete, bis Ria ihr Buch beiseitelegte.

„Bist du hier, um mich dazu zu zwingen, Blut zu trinken?", fragte sie abweisend.

„Nein."

Seine Antwort verblüffte sie. „Aber Kemal hat doch ..."

„Kemal hat keine Ahnung", unterbrach er sie forsch. „Du bist eine Jägerin der alten Schule, wenn man es so ausdrücken will. Deine Eltern waren beide wie du. Da war es keine große Überraschung, als du ähnliche Verhaltensweisen gezeigt hast. Du hast das Glück, von Natur aus über eine gute Selbstbeherrschung zu verfügen. Wenn du dich konzentrierst, kannst du auch schreiben, ohne zu viel Druck auszuüben. Vermutlich hat dir das noch niemand gesagt, aber Blut hilft uns anderen nicht nur, uns besser unter Kontrolle zu haben. Es trägt die Spuren der Emotionen des Spenders in sich. Du kannst jedoch genug Kraft aus den Emotionen an sich schöpfen. Die jüngeren Generationen schaffen das nicht mehr so gut. Deshalb trinken wir Blut. Es ist durchaus möglich, dass du es irgendwann auch einmal versuchen möchtest. Da ist nichts Verwerfliches dran."

„Du hast behauptet, meine Eltern hätten Blut getrunken. Und gerade eben hast du gesagt, sie wären nicht darauf angewiesen gewesen."

Blake nickte ernst. „Ja, das habe ich. Das lag daran, dass wir alten Jäger es schwer haben, wenn wir uns zu erkennen geben. Es gibt Jäger, die uns echte Jäger neiden. Deshalb haben deine Eltern außerhalb ihres engsten Vertrautenkreises immer Blut getrunken."

Nachdenklich musterte sie seine ernste Miene. „Und warum hast du mir das nicht von Anfang an gesagt?"

„Es gab keine Garantie dafür, dass auch du auf Blut verzichten kannst", entgegnete er schulterzuckend.

Ria schnaubte ungläubig. „Blake, du hast gerade gesagt, dass meine Eltern genauso waren."

Ungerührt sah er sie weiterhin an. „Süße, es gibt keine Garantie. Meine Mutter entstammte auch einer alten Familie. Mein Bruder kann sich trotzdem nicht binden."

Er hatte einen Bruder? Davon hatte sie ja gar nichts gewusst. Wie er wohl war? Mit einem leichten Kopfschütteln rief sie sich wieder zur Raison. Sie musste beim Thema bleiben. Wenn er ihr seine Familie bislang noch nicht vorgestellt hatte, dann musste das einen Grund haben. „Und du?", fragte sie ihn neugierig. Wenn er wusste, wie sie dieses anscheinend kritische Thema handhaben konnte, musste er es ihr unbedingt verraten.

Wieder zuckte er mit den Schultern. „Ich habe keinen Geist gefunden, den ich länger als eine Woche ertragen könnte. Aber ja, theoretisch bin auch ich dazu in der Lage."

Ria versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Zu gerne hätte sie mit jemandem gesprochen, der in einer sehr ähnlichen Lage steckte.

„Süße."

Von dem rauen, emotionsgeladenen Ton in Blakes Stimme überrascht, sah sie auf. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr wie der starke und entschlossene Anführer. Gerne hätte sie ihrem Impuls nachgegeben und ihn in ihre Arme geschlossen. Aber das ging nicht. Sie brauchte den Abstand. Du hast doch die Nase voll von den Männern, schalt sie sich innerlich.

„Ich werde dich nicht mehr auf Mission schicken, wenn es nicht unbedingt sein muss. Du kannst immer zu mir kommen und bei mir leben."

Bedeutete das etwa, dass er sie gehen ließ? Erlaubte er ihr gerade wirklich, ihren eigenen Weg einzuschlagen? Gerührt stand sie auf. Cora protestierte leise, als ihre Streicheleinheiten ausblieben.

„Danke Blake, ich weiß das zu schätzen." Zusammen mit ihrer Katze verließ sie das Lesezimmer. Sie ertrug seine Gegenwart einfach nicht länger. Reece war ein Freund, ein guter Freund, für den sie wirklich etwas empfand. Auf der anderen Seite Blake. Blake, der sie zu Dingen gezwungen hatte, die sie eigentlich nicht wollte. Blake, den sie dennoch sehr lieb gewonnen hatte und der irgendwie zu ihrem Leben gehörte.

Aufgewühlt ging sie zu Bett.

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