Vielversprechend
Verwirrt betrat Rita Reeces Büro. „Schon da? Normalerweise kommst du immer als Letzter."
Ohne aufzusehen antwortete er: „Ich glaube, ich habe eine Spur gefunden. Weißt du, wie dein Informant aussah?"
Nachdenklich trat sie an seinen Schreibtisch. „Na ja, so grob kann ich ihn dir schon beschreiben. Allerdings habe ich ihn nie deutlich gesehen. Er war sehr darauf bedacht, nicht erkannt zu werden."
Jetzt wandte Reece ihr seine komplette Aufmerksamkeit zu. „Weißt du, wo er wohnt? Wie er hieß? Hat er irgendetwas gesagt?"
Rita war schon auf dem Weg nach draußen, als sie sich noch einmal umdrehte. „Ich hole meine Notizen. Kaffee?"
Lächelnd nickte er. „Ja, gern."
Kurz darauf stellte sie eine dampfende Tasse vor seiner Nase ab. „Lea und Al haben gerade angerufen. Sie stehen beide im Stau. Anscheinend hat es auf einer Kreuzung einen Unfall gegeben."
Reece hielt ihr die beiden Bilder, die Ria ihm hatte zukommen lassen unter die Nase. „Kannst du die bitte einscannen und durch die Erkennungssoftware laufen lassen?"
„Du solltest unbedingt lernen, wie man das macht", lächelnd nahm sie ihm die Bilder aus der Hand. „Da stehen ja Namen hinten drauf. Warum soll ich die durchlaufen lassen?"
„Weil ich gerne sichergehen würde, dass das wirklich die Personen sind. Vielleicht sind sie uns unter anderem Namen bekannt. Bei diesem organisierten Vorgehen, wäre das kein Wunder", erklärte er, schon wieder in seinen Akten versunken.
Das leuchtete ihr ein. „Das kann allerdings eine Weile dauern. Soll ich bei Interpol nachfragen lassen, ob die Personen dort bekannt sind?"
Reece dachte einen Augenblick nach. Bis sie die Informationen hatten, konnte es dauern. „Das ist eine gute Idee. Ich glaube zwar nicht, dass uns das allzu viel bringen wird, aber versuchen können wir es."
Sie nickte. „Okay, ich sehe, was ich machen kann."
Mit einer Stunde Verspätung kamen auch Lea und Al im Abstand von zehn Minuten an. Beide fluchten über den Unfall.
Rita beorderte sie sofort in Reeces Büro und stellte ihnen dort zwei Becher Kaffee vor die Nase. „Hier, trinkt. Wir haben vielleicht eine Spur." Sie schnappte sich die neu angelegten Akten und teilte sie an die beiden Nachzügler aus.
„Halbermann?" Skeptisch schlug Al die Akte auf. „Ich dachte, wir haben es mit einem osteuropäischen Ring zu tun."
Reece machte sich nicht einmal die Mühe, von seinem Bildschirm aufzusehen. „Es ist egal, was du denkst. Diese Leute operieren hier. Ich will, dass ihr die Personen durchleuchtet. Finde eine aktuelle Adresse von Halbermann. Und du kümmerst dich bitte um Grünfeld, Lea. Wenn ihr was Brauchbares habt, machen wir uns auf den Weg."
„Boss, hier steht doch eine Adresse." Al deutete auf die entsprechende Stelle auf dem Zettel mit den persönlichen Daten Halbermanns.
„Dort ist niemand. Finde heraus, wo er sich aufhält." Angestrengt starrte er auf die Einzelverbindungsnachweise von Halbermann. Vielleicht gab es ja eine Verbindung, die nachweisbar war.
Brummend verzog sich Al. Er verstand einfach nicht, warum sein Boss es so persönlich genommen hatte, als er ihn nur so zum Spaß hatte aufziehen wollen. Nun ja, eigentlich hatte er testen wollen, ob wirklich etwas an seinem Verdacht dran war. Aber was sollte er mit so einer Reaktion anfangen? Wenn er ehrlich war, was wusste er schon über seinen Boss? Vor einem Jahr war er dem Team als neuer Vorgesetzter vorgestellt worden. Er kam von Interpol und sollte nun hier die alten ungelösten Fälle behandeln. Was sein Privatleben anging, war er eigentlich schon immer ziemlich abweisend gewesen. Die Reaktion war also ganz und gar kein Indiz dafür, dass er wirklich etwas für die Kleine empfand. Ria. Das Mädchen hatte es geschafft, ihnen allen den Kopf zu verdrehen. Aber wie?
Gedankenversunken schlurfte er in sein Büro. Vermutlich war es ihre ungezwungene, offene und zugleich unnahbare Art, die sie so interessant machte. Das erschien ihm weitaus plausibler als alles andere. Denn normalerweise stand er gar nicht auf so junge Dinger. Mit seinen fast dreißig Jahren war er zwar nicht übermäßig alt, aber er mochte doch eher die reiferen Frauen in seinem Alter.
Und sein Boss? Alles, was man ihnen gesagt hatte war, dass er ein Ausnahmetalent war, was das Profiling anging. Irgendetwas musste ihn in seinen Jahren bei Interpol so schockiert haben, dass er dort weg wollte. Al war so verdammt neugierig. Aber Reece sprach nie über sich oder seine Vergangenheit.
Im Büro des Hauptkommissars zögerte Lea ein wenig. „Reece?"
Er sah von seinem Bildschirm auf.
Sie räusperte sich ein wenig unbehaglich und legte ihre Akte auf ihren Schoß. „Ich glaube nicht, dass Al dich angreifen wollte. Wir wissen einfach sehr wenig über dich, obwohl wir schon über ein Jahr zusammen arbeiten."
Seufzend griff er nach seinem Kaffee. „Ich weiß. Es gibt Dinge, über die möchte ich einfach nicht reden. Mein Privatleben gehört dazu."
Seine Kollegin nickte verständnisvoll. „Wir sind alle Ermittler. Du kannst nicht erwarten, dass keine Fragen auftauchen."
Aus seinen blauen Augen sah er sie lange an. „Ich möchte euch nicht vor den Kopf stoßen. Euer Angebot, mit euch auszugehen ist denke ich eine ganz gute Gelegenheit, sich besser kennenzulernen."
Freudig überrascht stand sie auf. „Ich freue mich schon darauf. Wir wollten diesen Freitag in ein griechisches Restaurant gehen. Wenn du magst, kannst du mitkommen." Mit der Akte klopfte sie verabschiedend auf dem Türrahmen. „Also, dann kümmere ich mich mal um meinen Herrn Grünfeld."
Lächelnd wandte Reece sich wieder seinem Bildschirm zu. Eigentlich hatte er es mit seinem Team sehr gut getroffen. Alle waren sie äußerst fähig. Er hatte schon mit wesentlich weniger angenehmen Menschen zusammenarbeiten müssen.
Resigniert schloss er die Telefonliste. Wenn diese Leute nur halb so organisiert waren wie Rias Gruppe, dann würde es verdammt schwer werden, eine Verbindung herzustellen. Vielleicht sollte er sie anrufen und fragen, wie sie organisiert waren. Aber was würde das nützen? Sie hatte ihm ja bereits alles gesagt. Aus Erfahrung wusste er, dass bei den gut organisierten Gruppen die Anonymität sehr hoch geschätzt wurde.
Rita klopfte an die Tür. „Reece? Wir haben einen Zeugen, der Zajc gesehen haben will. Ich geh dem nach und melde mich dann."
Er nickte knapp. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Egal wie oft er die Listen durchging, er fand einfach nichts Neues.
Eine halbe Stunde später hatte Al etwas gefunden. „Reece, Halbermann hat vor einer Stunde in einer Pension eingecheckt. Allerdings in Stuttgart."
Reece griff zum Telefon. „Danke, Adresse? Ich schicke unsere Kollegen dorthin."
Al wartete, bis Reece seinen Anruf beendet hatte. „Warten? Oder soll ich noch etwas herausfinden?"
In diesem Moment steckte Lea den Kopf zur Tür herein. „Wir können zu Grünfeld fahren. Ich habe eine Adresse herausfinden können."
Stumm überschlug Reece, wie lange die Kollegen wohl brauchen würden. „Ihr beide fahrt dorthin. Ich warte hier auf den Rückruf."
Die beiden nickten und verschwanden sofort in Richtung ihrer Büros. Auf dem Flur kabbelten sie sich darum, wer fahren durfte. Lächelnd erhob sich ihr Boss, um sich einen neuen Kaffee aufzusetzen. Wenn er so an seinen Job dachte, war er mit seinem Los wirklich sehr zufrieden. In keinem Job wurde man häufiger mit den Abgründen der menschlichen Spezies konfrontiert. Aber auch genauso häufig wurden ihm die positiven Seiten bewusst. Diese kleinen Momente, die zeigten, warum das Leben schön war und lebenswert.
Rita kam als Erste wieder zurück. Sie hatte die Spur verfolgt, die der Informant ihr hatte geben können. Leider nutzlos. Auch die Fahndung nach ihrem Informanten blieb bislang fruchtlos. Frustriert schnappte sie sich einen Kaffee. „Ich sage dir, wenn wir den gefunden haben, finden wir demnächst jeden."
„Niemand hinterlässt gar keine Spuren. Es ist nur eine Kunst, sie zu finden." Reece sah auf die Uhr. „Was hältst du von Mittagspause? Die anderen beiden werden wohl unterwegs etwas essen."
„Gern. Ich sterbe gleich. Aber lass mich erst noch austrinken. Ich habe das Gefühl, sonst elendig zu verenden."
Belustigt stieß er die Luft aus. „Schlechte Nacht gehabt?"
Sie verdrehte ihre Augen. „Hab du mal ein zahnendes Kind zuhause. Meine Schwester und ihr Mann sind verreist. Ich darf also auf meinen Neffen aufpassen."
Er schenkte ihr ein leichtes Lächeln. „Ich hatte eine kleine Schwester", begann er zögerlich. Melancholisch erinnerte er sich an das kleine Wesen, das er über die Maßen geliebt hatte. „Sie war ein Schreihals und hat die ganze Familie nächtelang wachgehalten."
Überrascht sah seine Kollegin ihn an. „Was ist mit ihr passiert?"
Abwesend zuckte er mit den Schultern. „Sie wurde kurz nach ihrer Hochzeit ermordet."
Fast wäre Rita ihre Kaffeetasse aus der Hand gefallen. „Bist du deshalb bei der Polizei?"
Reece bedachte sie mit einem langen, nachdenklichen Blick. „Nein, das war ich schon vorher. Ich bin der Vormund für meine Nichte. Sie ist der Grund, weshalb ich von Interpol weg bin. Ihr Stiefvater, der letzte Mann meiner Schwester, wollte keine Verantwortung für sie übernehmen."
„Und sie wohnt jetzt bei dir?", fragte sie ihn mitfühlend.
Leicht schüttelte er seinen Kopf. „Nein, sie geht auf ein Internat. Die Ferien verbringt sie bei mir. Meistens fahren wir irgendwohin in den Urlaub."
Rita nickte verständnisvoll. „Bei Interpol warst du wohl immer sehr beschäftigt."
Er stieß ein leichtes Schnauben aus. „Das kann man so sagen. Also? Cafeteria oder Mensa?"
Lächelnd stellte seine Kollegin ihre Tasse weg. „Ich meine, in der Cafeteria gibt es heute etwas ganz Passables."
Ganz der Gentleman hielt er ihr die Tür auf. „Nach dir."
Der Anruf der Stuttgarter Kollegen, der am Abend erfolgte, war weitaus weniger positiv als Reece erhofft hatte. Die Beamten hatten die Wohnung des Gesuchten vollkommen verwüstet vorgefunden. Offenbar hatte jemand nach Informationen gesucht. Die Kollegen hatten auch Blut gefunden. Die genaue Auswertung der Spuren würde jedoch ewig dauern. Der springende Punkt war, dass Halbermann nicht dort war. Eine verwüstete Wohnung sprach für Zorn oder eine hektische Suche. Würde das zu professionellen Leuten passen? Vielleicht, wenn sie nicht genug Zeit gehabt hätten, ihn raus zu schaffen und in Ruhe die persönlichen Räumlichkeiten zu durchsuchen. Sie standen also wieder am Anfang.
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