Vater und Sohn
„Nicht zu fassen, ich glaub's nicht." Fassungslos vor sich hin schimpfend tigerte Ria in Aleixs Wohnung auf und ab. „Wie kann er sich nur so anmaßend verhalten und auch noch anbieten, die Beerdigung dessen zu planen, dessen Tod er erst in Auftrag gegeben hat?" Der Rest ihrer Aussage gehörte eindeutig zensiert.
Genervt hielt Aleix sie am Handgelenk fest. „Hör auf. Wenn er es tatsächlich war, spielt er seine Rolle nur weiter. Und wenn er unschuldig ist, unterstellst du ihm gerade etwas."
Wütend funkelte sie ihn an. „Oh ja. Stimmt, ich hatte ganz vergessen, dass er mich in seinen Harem stecken will." Sie zog eine verdrießliche Miene. „Trotzdem, so ein %$*&#."
„Reg dich ab, verdammt. Es bringt gar nichts, wenn du gleich durch den Boden in die Wohnung der netten alten Dame brichst, die unter uns wohnt. Erzähl mir lieber von Ragnarök." Entspannt lehnte er sie zurück ins bequeme Sofakissen, während Ria ihn böse musterte. „Ich will nicht."
„Du hast keine Wahl", erklärte er ihr lächelnd.
„Erklär mir erst, was heute vor der Pathologie los war", forderte sie mit verschränkten Armen.
„Nichts Besonderes. Nur jemand, der dich nicht beobachten sollte."
Es war Ria anzusehen, dass sie seinen Worten keinen Glauben schenkte. Als er jedoch keinerlei Anstalten machte, ihr die Wahrheit zu erzählen, ächzte sie frustriert. „Na gut. Anscheinend hat Ragna seinen Vater gespürt. Deinen Geist."
„Ich bevorzuge die Bezeichnung Gefährte", erklärte er lächelnd. „Du bist schneller dahinter gekommen, als ich erwartet habe."
„Hältst du mich für total Banane?" In ihrer Stimme schwang noch immer ein leicht gereizter Tonfall mit. „Spätestens als ich über das Familientreffen informiert wurde, wusste ich Bescheid."
Ohne Vorwarnung ließ sie sich nach hinten fallen. Anstatt auf dem Boden zu landen, fiel sie in eine schwarze Wolke, die sich kurze Zeit später als rauchiger Körper eines verhältnismäßig kleinen Drachens entpuppte. Nun war klein ein relativer Begriff. Ragnaröks zusammengerollter Körper war immer noch so lang, wie das Sofa breit.
Danke, sandte sie ihm erleichtert. Ich wusste gar nicht, wie weich du eigentlich bist. Begeistert begann sie ihm in den erstaunlich weichen Bauch zu stupsen. Bei jeder Berührung zuckte er leicht zusammen.
Lass das, fauchte er ungehalten.
Bist du etwa kitzelig, fragte sie mit ehrlicher Freude.
Soll ich der netten alten Dame unter euch einen Besuch abstatten? Seine Stimme klang ungewohnt heiser. Anscheinend versuchte er gerade ein Lachen zu unterdrücken.
Ria gab es auf, ihren Drachen zu kitzeln. Stattdessen wechselte sie das Thema. Das ist das erste Mal, dass ich dich komplett zu sehen kriege.
Mich in dieser Gestalt zu materialisieren ist halt nicht gerade einfach.
Was meinst du denn damit?
Dass du mir den Hintern retten sollst, wenn mein Vater gleich vollkommen durchdreht.
Fragend sah Ria zu Aleix. „Ist dein Gefährte sauer?"
Der blickte sie verwundert an. „Sollte er?"
Schulterzuckend versank Ria tiefer in den rauchigen Körper ihres Schattendrachen. „Ragna ist kurz davor, sich heulend vor Angst in meine Arme zu werfen."
Ungehalten funkelte der Drache sie an und pustete ihr eine graue Wolke ins Gesicht. Zu Aleixs Erleichterung war das nur Rauch und keine richtige Asche. Er selbst musterte die beiden interessiert.
„Es ist schon lange her, dass ich meinesgleichen begegnet bin", sagte er langsam. „Weiß dein Ziehvater von dir und deinem Freund?"
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Der denkt, Blake hätte mich dazu gezwungen, Blut zu trinken. Das war vielleicht ne Aktion, die die gestartet haben, um mich zum Bluttrinker zu machen." Fassungslos schüttelte sie ihren Kopf. „Aber lustig war's." Gedankenverloren schmunzelte sie vor sich hin.
Aleix beschloss, Rias jungem Gefährten die Anspannung zu nehmen. „Ragnarök." Rotglühende Augen starrten ihn an. „Dein Vater zeigt sich nicht, weil mein Wohnzimmer nicht groß genug ist. Er lässt dich grüßen."
„Als ob", ertönte eine rauchige Stimme. Dunstschwaden erschienen und begannen, einen durchsichtigen Körper zu formen. „Sieh an, was aus dir geworden ist. Du versteckst dich bei der Kleinen, anstatt..." weiter kam er nicht mit seiner Predigt, denn Ria stand nun vor der durchscheinenden, menschengroßen Gestalt.
„Mach mal langsam, okay? Was fällt dir überhaupt ein, so mit Ragna zu reden? Du hast doch nicht den Hauch einer Ahnung davon, was er alles durchgemacht hat. Ich bin jedenfalls froh, ihn bei mir zu haben. Er ist der beste und loyalste Freund, den ich jemals hatte. Und das ist nichts, was du als ewig Abwesender auch nur ansatzweise imstande bist, zu bewerten."
Vollkommen perplex tauschte der durchsichtige Luftgeist einen Blick mit seinem Jäger. „Ist sie immer so vorlaut?"
Aleix seufzte kopfschüttelnd. „Nein, du hast sie nur auf dem falschen Fuß erwischt."
Ria ignorierte geflissentlich den entrüsteten Blick, den der Geist ihr zuwarf und kniete sich vor Ragnarök. „Hör bloß auf, dir so schlimme Dinge einreden zu lassen, Ragna. Du bist der Beste. Niemand anders hat so süße, seelenvolle rot leuchtende Augen wie du. Dich muss man einfach lieb haben."
„Du hast keine Ahnung, wie es bei uns Geisterwesen aussieht", meldete sich Ragnas Vater streng zu Wort. „Schattendrachen sind so selten, dass sie ausgegrenzt werden. Er wird nie völlig akzeptiert werden."
Mit dem Blick des anderen Drachen auf ihrem Rücken gefror Ria für einen kurzen Augenblick. Aus ihrer Haltung sprach jedoch keine Angst, sondern Entschlossenheit und ein gewisses Maß an Kälte. „Es mir verflucht nochmal egal, was er ist. Ragna ist Ragna."
„Du solltest dich von ihm trennen", entgegnete Ragnaröks Vater kühl.
Mit vor Zorn funkelnden Augen starrte sie ihn an. „Hast du sie noch alle? In den letzten fünfzehn Jahren war Ragna der einzige, der die ganze Zeit bei mir geblieben ist. Ich gebe ihn nicht her. Nie und nimmer."
Aleix und sein Geist tauschten erstaunte Blicke. „Ria", begann er schließlich zögernd. „Damals warst du vier?"
„Ja und?", fauchte sie.
„Du kannst deine Abwehrhaltung aufgeben. Storm wollte nur testen, wie eng euer Band ist. Erklär mir lieber, wie eine Vierjährige einen Schattendrachen rufen kann."
Nun war es an Ragna und ihr verwundete Blicke zu tauschen. „Wir haben uns einfach gefunden", antwortete sie schlicht. „Was soll daran denn so besonders sein?"
„Sie war in Sídhe", erklärte Ragnarök zögernd.
„Unmöglich", brauste Storm erneut auf. Sein Name entsprach offensichtlich seinem Temperament. „Ein Kleinkind kann nicht nach Sídhe gelangen."
„Kann mich mal bitte jemand aufklären?" Ratlos wanderte Rias Blick zwischen den drei anderen hin und her. „Was ist Sídhe?"
„Du kennst es vermutlich unter dem Begriff Anderswelt", versuchte Aleix ihr zu erklären. „Ursprünglich existierten zwei Welten. Die der Hexen, Geister und Dämonen, sowie die der Menschen. In der Zeit, aus der all die Mythen und Legenden stammen, war es ohne Probleme möglich, zwischen den Welten hin und her zu reisen. Doch irgendwann beschlossen die Menschen sich abzukapseln. Nach den verschiedensten Ereignissen brachen die großen Verbindungen zwischen den Welten zusammen. Heute existieren nur noch wenige unbekannte Wege in die Anderswelt. Die wenigsten sind in der Lage, diese Kanäle zu finden. Wer es damals nicht rechtzeitig in seine Sphäre geschafft hat, der sitzt in der jeweils anderen Welt fest. Ich nehme an, deine Eltern haben dich früher mitgenommen?"
Ria konnte die Frage nicht beantworten. Stattdessen nickte Ragnarök. „Sie hat ihre frühe Kindheit dort verbracht. Es war sicherer für sie."
Aleix nickte zustimmend. „Aber anscheinend nicht sicher genug für ihre Eltern."
Ungehalten ließ Ragnarök seinen beeindruckenden Schwanz auf den Teppich krachen, wo er sich kurzzeitig in eine Rauchwolke auflöste, bevor er wieder seine ursprüngliche Form annahm. „Sie starben in dieser Welt, weil sie her reisen mussten. Sie konnten Ria nicht zurücklassen."
„Warum nennt ihr diese Anderswelt Sídhe?"
Dieses Mal antwortete ihr Storm. „Weil es unsere Sprache ist. Die Menschen haben sie vor einigen Jahren übernommen. Kelten nennt ihr sie heute. Einige Worte sind gleich geblieben, während viele sich im Strudel der Sprachentwicklung verändert haben. Wenn du deinen Platz einnehmen willst, wirst du diese Sprache lernen müssen."
Ria machte große Augen. „Noch mehr lernen?"
Aleix biss sich auf die Unterlippe, um ein kurzes Auflachen zu verhindern. „Du wirst eine ganze Menge lernen müssen", erklärte er trocken. „Angefangen bei verschiedenen Etiketten bis hin zu den Feinheiten der kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern aus Anderswelt."
Auch wenn es Ria schwer fiel zu verstehen, dass es tatsächlich noch eine andere Welt neben der ihr bekannten gab, so akzeptierte sie deren Existenz augenblicklich und ohne Vorbehalte.
„Der Ort, an dem wir uns kennengelernt haben, liegt er auch dort?", fragte sie Ragnarök.
„Natürlich. Denkst du etwa, ich würde mich freiwillig in diese Welt schleichen? Die Menschen glauben doch an gar nichts mehr und die wenigen die noch sehen können, werden als Spinner abgestempelt in eine unbedeutende Ecke der Gesellschaft verfrachtet."
Leider konnte sie ihm da nur zustimmen. „Da hast du recht." Erschöpft legte sie sich neben den warmen Drachenkörper. „Für heute möchte ich nichts mehr hören. Ich werde Zeit brauchen, um das wirklich zu verstehen. Klärt eure Vater-Sohn-Differenzen und lasst mich heute aus dem Spiel." Gähnend kuschelte sie sich an ihren Drachen.
„Und schon ist sie eingeschlafen." Nachdenklich musterte Storm die Partnerin seines Sohnes. „Du hast eine gute Wahl getroffen. Sie wird dich nicht verlassen."
Ragnarök knurrte leise. „Das weiß ich selbst."
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