Spuren

„Dunn." Aufgeregt stürzte Alwin in Reeces Büro. „Wir haben eine Spur."

Als aufgeregte Miene veranlasste Reece zum Optimismus. Fast vier Wochen waren seit dem Blutbad am anderen Ender der Stadt vergangen und noch immer gab es keine verwendbare Spur. Vielleicht wurde sein Einsatz jetzt endlich belohnt.

„Das Labor hat uns endlich Auskunft darüber geben können, dass es Spuren einer Person gibt, die sich nicht unter den Leichen befindet."

Reece riss seinem Kommissar beinahe die Akte aus der Hand. Aufgeregt überflog er den Bericht der Kriminaltechniker. Tatsächlich. Und zu der DNA gab es sogar ein passendes Foto. Es bildete einen unsympathischen Mann mit osteuropäischen Zügen und Ziegenbärtchen ab, der mit gelben Zähnen zu ihm hinauf grinste. „Finde diesen Janez Zajc. Laut Einreisebehörde befindet er sich hier im Land. Ich will ihn vernehmen." Er würde sich persönlich um den Haftbefehl kümmern. Da der Richter ein guter Freund von ihm war, sollte das kein Problem darstellen.

Der Gerichtsbeschluss wurde ihm praktisch an der Tür in die Hand gedrückt. So froh war die Staatsanwaltschaft darüber, dass es endlich eine heiße Spur gab, der man folgen konnte. So blieb Reece nichts anderes übrig, als sich mit Zajcs Vergangenheit auseinanderzusetzen. Der Mann hatte einen äußerst interessanten Lebenslauf. Geboren in einem kleinen Dorf nahe dem tschechischen Zasip, unweit der österreichischen Landesgrenze, hatte Zajc keine nennenswerte Schulbildung vorzuweisen. Dafür jedoch eine umso interessantere kriminelle Vergangenheit. Das meiste waren kleinere Bagatellen. Jugendsünden, die für diesen Fall nicht weiter relevant zu sein schienen.

Äußerst interessant fand Reece die Fälle, bei denen er stets als Zeuge, nicht als Täter aufgeführt wurde. Jedes Mal ging es dabei um blutige Morde. Das konnte kein Zufall sein. Weil viele der Morde im Ausland geschehen waren, musste er die entsprechenden Fallakten erst einmal anfordern. Es würde ihn nicht weiter überraschen, wenn all diese Fälle ungeklärt geblieben waren. Bis die Akten da waren, würde er sich erst einmal mit den Morden beschäftigen, die der Verdächtige hier bezeugt hatte – und das waren gar nicht so wenige. Kein Mensch konnte so viel Pech haben und fünf blutige Morde beobachten.

Als Al zurückkam, musste er seinen Vorgesetzten zwischen zahlreichen Papierstapeln suchen. Das Büro glich einem Schlachtfeld. Triumphierend hielt er einen Zettel in der Hand. „Wir haben ihn gefunden."

Skeptisch musterte Reece das Stück Papier. „Willst du mir sagen, der Kerl ist ein Origami? Unter ‚wir haben ihn gefunden' hätte ich jetzt eigentlich erwartet, dass du ihn entweder anschleppst oder mir sagst, wann er hier eintreffen wird. Und nicht, dass du mit einem Fetzen Papier vor meiner Nase herum wedelst."

„Er ist in Brüssel. Unsere Kollegen von der belgischen Polizei sind informiert und halten nach ihm Ausschau."

Brüssel. Das sagte ihm etwas. „Seit wann ist er dort?"

„Seit zwei Tagen", entgegnete Al sichtlich verwirrt.

Reece versuchte, die Tageszeitungen der letzten drei Tage herauszusuchen. „Hier." Er deutete auf einen Artikel in der gestrigen Zeitung. „Diese Frau, Antje Dubin, wurde ermordet. Daneben fand man noch eine Leiche. Angeblich im Karnevalskostüm. Finde heraus, ob sich dort irgendwelche Zeugen gemeldet haben. Männliche Zeugen, auf denen die Beschreibung von Zajc passt. All die ungeklärten Morde, bei denen er Zeuge war hatten eines gemeinsam: die Verdächtigen standen genau wie Antje Dubin in Verdacht, einem illegalen Hehlerring anzugehören."

Was Dubin anging, so fand Reece, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen hatte. Irgendetwas an dem Mord schien ihm jedoch komisch vorzukommen. Während die anderen Morde, bei denen Zajc anwesend war, immer sehr brutal abgelaufen waren, schien Dubin einfach nur erschossen worden zu sein. Er musste versuchen, die Fallakte zu bekommen. Vielleicht würden die belgischen Kollegen ja mit ihm zusammenarbeiten. Er kramte nach seinem Telefon und rief bei der internationalen Abteilung an.

Da am nächsten Tag immer noch nicht viel Neues herausgekommen war und die Belgier sich nicht gemeldet hatten, trommelte Reece sein Team zusammen und durchforstete mit ihnen systematisch jeden einzelnen der ungeklärten Morde, die Zajc bezeugt hatte. Am Ende eines langen Arbeitstages hatten sie ein einigermaßen verwendbares psychologisches Profil von Zajc erstellt.

„Dunn?" Reece blickte von seinem Schreibtisch auf. „Solltest du nicht auf dem Heimweg sein, Al?"

Al nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. „Mir ist etwas eingefallen. Erinnern Sie sich noch an den Mord an diesen Börsenmakler? Der, bei dem ihm der Kopf so sauber abgeschlagen wurde, dass man den feinen Schnitt nicht bemerkt hat, bevor der Gerichtsmediziner eintraf?"

Reece nickte. Ein weiterer ungeklärter Fall. Manchmal konnte es frustrierend sein, solchen Fällen ohne heiße Spur nachzugehen, aber das war eben sein Job. Die ungelösten Fälle boten manchmal einen sehr abwechslungsreichen Arbeitsalltag. Wenn man ihn nicht gerade für die besonders harten Morde anforderte, hockte er hinter seinem Tisch und brütete über angeblich unlösbaren Fällen.

„Ich hatte doch von dem Mädchen erzählt, das ich in der Kampfschule getroffen habe. Die trainieren dort mit Samuraischwertern. Sie hat mir zwar versichert, dass die Übungsschwerter alle stumpf seien, aber sie hatte auch ein scharfes dabei. Vielleicht wäre es möglich herausfinden, ob ein solches Schwert als Mordwaffe infrage kommt."

Mit wachsender Zustimmung lauschte Reece diesem Vorschlag. „Warum nicht", sagte er schließlich. Al lag ihm zwar schon seit Wochen mit der Kleinen im Ohr, sodass er dem nicht viel Bedeutung beimaß, aber das mit den Schwertern war eine wirklich gute Idee. „Aber ich dachte, sie wollte nicht mehr mit dir reden."

Al winkte ab. „Wir gehen dort außerhalb des Schulbetriebs vorbei und fragen als Beamte. Dann wird sie sich wohl kaum widersetzen können."

Das bezweifelte Reece, dennoch war es einen Versuch wert. Solange er auf die Akten aus Belgien wartete und Zajcs Profil schon fertig war, konnte er genauso gut einen anderen Fall aufklären.

Wie gebannt starrte Al auf das junge Mädchen, das an die Fensterscheibe gedrückt wurde. Müsste Reece schätzen würde er sagen, dass der Mann vor ihr in etwa doppelt so alt sein musste. Die Hand des Mannes wanderte in den Rücken der zierlich wirkenden Schwarzhaarigen. Al stürzte los. „Polizei, keine Bewegung. Lassen Sie das Mädchen los."

Kurz darauf trat Reece dazu. Al hatte mal wieder übertrieben. Wie es aussah, war das nun ein wenig verlegen dreinblickende Mädchen seine Angebetete. „Guten Tag, Kriminalpolizei. Hauptkommissar Dunn und Kommissar Müller."

„Wie alt sind Sie?", fragte Al, die Waffe noch immer auf den Inhaber der Kampfschule gerichtet. Dieser Mann verströmte eine natürliche Autorität, die selbst Reece beeindruckte. Er war schon vielen Führungspersönlichkeiten begegnet, aber keine von ihnen hatte jemals so einschüchternd und zugleich so skrupellos gewirkt. Dieser Mann war gefährlich. Wer kein Gespür dafür hatte, konnte sich von dem recht annehmbaren markanten Gesicht, dem trainierten Körper und den stechend dreinblickenden dunkelgrauen, beinahe schwarzen Augen täuschen lassen.

„Wir beide sind alt genug, um ungestraft herummachen zu können. Noch dazu auf meinem Grundstück." Er lächelte Al kalt an. „Haben Sie damit etwa ein Problem, Herr Kommissar?"

Reece nahm Al die Waffe ab. „Nein, hat er nicht. Wir sind auf der Suche nach jemandem, der sich mit Schwertkunst auskennt." Während er sprach, glitt sein Blick fragend zu der Schwarzhaarigen. Es war offenkundig, wie unwohl sie sich gerade fühlte. Immer wieder wanderte ihr Blick zwischen Al und ihrem Freund hin und her.

Bei den Worten des Hauptkommissars baute Blake sich schützend vor Ria auf. „Und warum suchen Sie sie?"

„Wir suchen sie nicht, wir haben nur ein paar Fragen", warf Al verärgert ein. „Sie ist es, Dunn."

Seufzend steckte Reece Als Waffe ein. Freundlich lächelnd wandte er sich an die hübsche Unbekannte. „Der Kommissar ist der Meinung, Sie könnten uns vielleicht helfen. Wir untersuchen den Mord an einer Person. Ihr wurde der Kopf so sauber abgetrennt, dass man es erst bemerkte, als man die Leiche bewegte. Wir haben keine vergleichbare Waffe, um unsere Theorie zu überprüfen. Mir wurde gesagt, dass Sie hier Schwertkampf unterrichten?"

Es war der Inhaber, der antwortete. „Ja, das wird hier angeboten."

„Sie haben ein scharfes Schwert, nicht wahr? Können Sie uns bitte zeigen, ob es möglich ist, einen Kopf auf diese Art und Weise abzutrennen?" Al war komplett aus dem Häuschen.

Blake wollte gerade etwas sagen, da legte Ria ihm eine Hand auf den Arm. „Schon gut. Die Herren haben ganz höflich danach gefragt." An Reece gewandt sagte sie: „Ich werde es Ihnen demonstrieren. Haben sie etwas Vergleichbares dabei oder müssen wir mit Holz und Metall vorlieb nehmen?"

„Sie haben eines hier?" Reece schien das nicht recht glauben zu wollen.

Ria verdrehte die Augen. „Der Zoll lässt solche Dinge tatsächlich durchgehen." Anstatt sich über das Unwissen der Kriminalbeamten zu ärgern, wandte sie sich dem geschäftsmäßigen Teil der Unterhaltung zu. „Meines Wissens gibt es hier nur sehr wenige Menschen, die fähig sind mit einem solchen Schwert durch Holz, geschweige denn Stahl, zu schneiden. Warten Sie bitte einen Augenblick." Sie verschwand in der angrenzenden Wohnung und kam kurz darauf mit einem nagelneu aussehenden Schwert zurück.

Aufgeregt holte Al eine nachgebildete Wirbelsäule aus seinem Rucksack.

„Warum nimmst du nicht ihn, um zu zeigen, was du kannst, Süße?", knurrte Blake, der den begehrenden Blick, den der Polizist Ria zuwarf sehr wohl bemerkt hatte.

Zuckersüß lächelnd ließ sie ihn stehen und winkte die beiden Kommissare in den Trainingsraum. Sie stellte eine aufgerollte Tatamimatte in die Raummitte. Anschließend drückte sie Al ihr gezogenes Schwert in die Hand. „Was haben Sie vor, Ria?"

Er erntete einen bösen Blick. „Nun, Kommissar Müller, ich möchte Ihnen demonstrieren, dass es gar nicht so einfach ist, mit diesem sagenumwobenen Schwert Dinge zu durchschneiden. Das ist es doch, was sie unter anderem wissen wollen, nicht wahr?"

Gespannt beobachtete Reece, wie Al auf die Matte eindrosch. Bis auf einen kleinen Kratzer hatte die Matte keinen Schaden genommen. Als nächstes war Reece an der Reihe. Er schaffte es immerhin, die Matte zur Hälfte zu durchtrennen.

Den beiden Männern klappte der Kiefer runter, als Ria mit einer eleganten Bewegung das von ihnen mitgebrachte Modell in zwei Teile schlug. Mit einer Vorsicht, die nicht vermuten ließ, dass dieses Schwert regelmäßig zum Einsatz kam, steckte sie es wieder in die Scheide. „Wie Sie sehen, ist es sehr wohl möglich. Ob diese Schnittstelle mit der Art des Opfers übereinstimmt, müssen Sie selbst herausfinden."

„Wie viele Menschen in dieser Schule können so gut mit diesem Schwert umgehen?", erkundigte Reece sich vorsichtig. Diese Demonstration hatte ihn zutiefst beeindruckt.

„Hier? Eigentlich nur ich. Zumindest kämpft hier niemand mit scharfen Schwertern. Die meisten unserer Schüler stehen wesentlich mehr auf Faustkämpfe. Eventuell könnte der hiesige Schwertkampflehrer noch über das nötige Knowhow verfügen. Da ich aber nicht bei ihm gelernt habe und auch nicht an seinen Stunden teilnehme, kann ich Ihnen diesbezüglich keine genaue Auskunft geben."

„Wenn er dich belästigt, Ria, dann sag etwas. Wir können dich hier rausholen", mischte Al sich in die Befragung ein.

Verständnislos blickte sie den Kommissar an. „Ich dachte ich hätte mich deutlich ausgedrückt. Nach der Demonstration eben, glauben Sie da wirklich, dass er noch am Leben wäre, wenn ich das alles nicht wollte?"

„Aber du hast gesagt, du seist ein Schatten", beharrte Al.

„Ja, ich liebe es zurückgezogen zu leben. Irgendjemand hat mir den Spitznamen Schatten gegeben. Aber das geht Sie überhaupt nichts an." Sie wandte sich an Reece. Der braunhaarige, gutaussehende Mann mit den markanten Zügen schien der Chef dieses aufdringlichen Mannes zu sein. Im Gegensatz zu Blake trug er seine Autorität nicht so offen zur Schau. Dennoch war nicht zu leugnen, dass auch der nette Herr Polizist einem das Leben schwer machen konnte, wenn er wollte. Zumindest drückte seine selbstbewusste Haltung genau das aus. „Wenn ich Ihnen ansonsten nicht weiter behilflich sein kann, würde ich Sie bitten jetzt zu gehen." Hinter den beiden Kommissaren betrat Dimitrios den Raum. Ria bedeutete ihm noch kurz zu warten.

„Ria." Al machte einen Schritt auf sie zu. Im Nu war Dimitrios bei ihm und hatte ihn nicht gerade sanft auf den Boden befördert. „Fass die Süße vom Boss noch einmal an und..."

„Dimi." Beruhigend legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Was ist bloß los? Habt ihr allesamt zu viel Testosteron intus? Ich bin sehr wohl fähig, mich selbst zu verteidigen. Wenn du mir das nicht glaubst, kann du deinen Bruder gerne fragen."

Der junge Grieche bedachte sie mit einem langen Blick. „Er sagte, du schienst nicht in Bestform zu sein. Es sind harte Zeiten für den Boss, da musst du dir nicht auch noch etwas antun."

Wie wahr, dachte Ria bitter. Eagle war gestern nicht von seinem Auftrag zurückgekehrt. Und dabei war er laut Blake ein sehr fähiger Mann gewesen. Sie selbst hatte keine Ahnung. Die Attentäter kannten sich in der Regel nicht untereinander. Bevor sie hier eingezogen war, war Blake die einzige Person aus diesem Schuppen, die sie kannte. Und Harriot. Aber der zählte nicht. Der war bloß eine Nervensäge.

„Richte Demo aus, dass ich ihm nachher richtig in den Hintern treten werde, wenn seine Stunden vorbei sind. Ich und nicht in Bestform. Verabschiede bitte unsere Gäste. Sie wollten gerade gehen." 


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So, jetzt mal ein Kapitel, das sich nicht ganz so intensiv mit Ria beschäftigt. Was sagt ihr zu Reece oder Al? Und Ria und Blake? Bin gespannt, wie ihr die Charaktere seht.

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