Schattendasein

Zwei Wochen später ging es der kleinen Katze, sie hatte sie unterdessen Cora genannt, wieder ausgezeichnet. Zufrieden schnurrend machte Cora es sich auf der Decke vor der Heizung bequem, während Ria sich ihren Mantel überwarf und neben ihren beiden Messern auch noch ein elegant wirkendes Paar Pistolen an ihrem Gürtel befestigte. Das Katana mit dem dunkelroten Griff steckte bereits in seiner Scheide, die sehr sichtbar an ihrem Gürtel über dem Mantel hing. Heute würde das niemandem stören. Nicht, wenn draußen alle Fasching feierten. Das lange, schwarze Haar zu einem strengen Zopf zusammengebunden und von ihrer Katze neugierig beobachtet, machte sie sich auf den Weg.

„Ria." Aus dem Schatten einer nahen Gasse löste sich eine große, muskulöse Gestalt. „Hat Blake dich wieder auf etwas angesetzt?" Die raue, leicht kratzige Stimme, gepaart mit diesem Namen, ließ ihre zuvor ausgeglichene Laune in den Keller sinken.

„Harriot." Sie bedachte ihn mit einem knappen Nicken. Harriot war nicht gerade ihr Liebling. Auch er arbeitete für Blake. Die wenigen Male, die sie ihn bislang getroffen hatte, hatten jedes Mal damit geendet, dass sie drauf und dran gewesen war, ihn ins Jenseits zu befördern. „Pack dir einen Bogen auf den Rücken und die Leute werden dir deine Verkleidung als Attentäter abkaufen."

Harriot lächelte schmallippig. Wäre es nicht seine Aufgabe darauf aufzupassen, dass Ria auch wirklich ihre Zielperson umbrachte, würde er sie nicht eines Blickes würdigen. Oder doch. Weil sie wirklich verdammt süß war – auch wenn ihre Manieren zu wünschen übrig ließen. Dieses Mädchen hatte vor nichts und niemandem Respekt. „Ich bin nicht als Schatten hier, Ria. Auch wenn du dich vielleicht nicht so benimmst ist es doch genau das, als was du fungieren sollst."

Rias böser Blick schickte ihn auf direktem Wege in die Hölle. „Ich bin keine von euch. Blake verschafft mir Aufträge, damit ich über die Runden komme. Mehr nicht."

Er reagierte mit einem bösen Lächeln. „Du wirst Blake bald genauso gehören, wie wir alle. Kein Entrinnen, Süße. Und jetzt solltest du keine Zeit mit Plaudereien verlieren. Der Boss will einen Kopf rollen sehen." Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, sah er nicht mehr von ihr, als einen wehenden Gehrock. Je mehr Zeit er in ihrer Gesellschaft verbrachte, desto bewusster wurde ihm, was sein Chef an dem Mädchen finden musste.

Beinahe lautlos rannte Ria die Straße hinunter. Dieser bescheuerte Harriot. Und Blake. Warum meinten die beiden bloß, sie könnten sie umher scheuchen wie es ihnen beliebte? Innerlich brodelnd musste sie sich eingestehen, dass sie auf diese Jobs angewiesen war. Wie gut, dass heute Nacht sowieso jemand sterben musste. Aus dem Schatten schwebten Harriots schwere Schritte zur ihr hinüber. Was für ein Trampel, dachte sie abfällig. Kein Wunder, dass er nie Aufträge bekam, bei denen er sich heimlich an eine Zielperson heranschleichen musste. Der Kerl war ja genauso laut wie eine Alarmanlage.

Vor dem Hochsicherheitstor einer Villa kam Ria zum Stehen. „Warte hier", zischte sie ihrem Aufseher ungehalten zu. „Von mir aus bringe ich dir seinen Kopf mit raus, aber du betrittst keinen Millimeter des Grundstücks, haben wir uns verstanden?"

Der grinste nur träge. „Es reicht, wenn du mir den Ring bringst, den er immer am Finger trägt. Von seinem Tod werden die Medien berichten. Und du weißt ja, was Blake mit denjenigen anstellt, die seiner Order nicht Folge leisten."

Mit gestrecktem Mittelfinger verschwand Ria in der Dunkelheit. Gespannt auf einen Fehler ihrerseits achtend, fragte sich Harriot, wie das Mädchen es bloß immer wieder schaffte, jede noch so moderne Sicherheitsanlage zu umgehen. Andererseits, dachte er müde bei sich, war es auch kein Wunder. Schließlich hatte der Boss persönlich ihre Ausbildung übernommen. Bisher blieb ihm unerschlossen, welche Ziele sein Vorgesetzter damit verfolgen mochte. In einem Punkt war er sich jedoch sicher: Wenn sie schlampte, war sie Geschichte.

Neben der Bewunderung für ihr Talent empfand er auch eine tiefe Verachtung für die Schwarzhaarige. Selbst er hätte es geschafft, ohne große Probleme aufs Gelände zu gelangen, in das Gebäude einzudringen und die Zielperson auszuschalten. Und warum zum Teufel nochmal ließ der Boss die Kleine mit einem Samuraischwert durch die Gegend rennen?

Sein Telefon vibrierte. „Die Kleine ist im Haus", antwortete er kurz angebunden.

„Ist sie gut drauf oder hast du sie wieder genervt?" Unverschämte Freude schwang in der Frage mit.

Harriot verdrehte die Augen. „Wenn sie könnte, würde sie mir den Kopf abschneiden und fröhlich auf meinem Grabstein tanzen."

„Falsch", ertönte Rias leicht amüsiert klingende Stimme hinter ihm. Überrascht drehte er sich zu ihr um. „Wenn ich könnte", fuhr sie langsam fort und ließ dabei ihr gezogenes Schwert bedrohlich über den Boden schleifen, „würde von dir nicht viel übrig bleiben, was man in einen Sarg stecken könnte. Eine Streichholzschachtel wäre da vermutlich angemessener."

Am anderen Ende der Leitung konnte Harriot Blake lachen hören. „Sag der Kleinen, sie muss noch jemanden umlegen."

Rias diabolisches Grinsen verschwand aus ihrem Gesicht. „Sag ihm, dass ich das nur tue, wenn ich die doppelte Gage bekomme. Und es kein Kind ist. Und keine schwangere Frau, wie die, die ich gerade eben zur Witwe gemacht habe."

Die dunklen Schatten in ihrer Stimme ließen nichts Gutes erahnen. „Ich glaube, sie will dir den Arsch aufreißen", bemerkte Harriot trocken, bevor er das Telefon an sie weiterreichte.

Wie üblich zog sie zuerst ihre schwarzen Samthandschuhe an. „Interessant, dass du die nie trägst, wenn du jemanden umbringst."

Mit hochgezogener Augenbraue nahm sie ihm das Telefon aus der Hand. „Soll ich bei dir eine Ausnahme machen?" Ihr gehässiges Grinsen war samt und sonders zurückgekehrt. „Es unterstreicht mein krankes Image, wenn ich dabei weiße Handschuhe trage. Wusstest du, dass frische Blutspritzer darauf aussehen, wie rote Diamanten? Im Kerzenschein glitzern sie besonders schön."

Harriot schauderte und am anderen Ender der Leitung lachte Blake sein bellendes Lachen. „Ich schenke dir ein Paar weiße, wenn wir uns das nächste Mal treffen." Sein Tonfall wurde nun wieder geschäftsmäßig. „Die neue Zielperson befindet sich auf dem Umzug. Keine Show, kein Garnichts. Töte sie. Der Auftraggeber will, dass du die Leiche so präsentierst, dass jeder sehen kann, was passiert ist. Der Kerl soll in einer Stunde auf einem Podest nach oben gefahren werden. Ein rotgrüner Glitzerwagen. Du sollst ein großes µ auf seine Brust ritzen." Es folgte eine kurze Beschreibung des Opfers und des Kostüms, das er tragen würde.

Wortlos legte Ria auf. Was für extravagante Wünsche ihre Auftraggeber doch manchmal hatten. In einer Stunde sollte der Job erledigt sein. Kopfschüttelnd schnippte sie ihrem Verfolger den gewünschten Ring zu. Irgendein altes Bronzeding.

Harriot fing den Ring auf und starrte auf eine leere Rasenfläche. Blakes kleiner Liebling war wirklich eine Plage. Seufzend hob er das Handy vom Boden auf und drückte die Kurzwahltaste. „Ich hoffe du kannst mir sagen wo sie hin ist. Ansonsten kann ich meinen Pflichten als ihr Aufpasser schlecht nachkommen."

Wieder einmal erklang Blakes bellendes Lachen. Eigentlich war es nur die Imitation eines Lachens. Die Fähigkeit herzhaft zu Lachen war ihm schon vor Jahren abhanden gekommen. „Zum Umzug."

Harriot bekam fast keine Luft mehr. „Du lässt sie mit ihrem Samuraischwert zum Umzug rennen?"

Blake wurde gefährlich ruhig. „Zweifelst du an meinen Entscheidungen?"

„Natürlich nicht", beeilte sich der Untergebene zu versichern.

„Wenn du dich mit ihr messen willst, weißt du, was du tun musst. Aber zweifle ja nie wieder an mir, wenn du draußen unterwegs bist, Harriot, sonst passt du am Ende tatsächlich nicht einmal mehr in eine Streichholzschachtel. Sieh zu, dass du mir Fotos mitbringst. Der Auftraggeber zahlt extra."

Harriot legte auf und verfluchte wieder einmal Rias Weigerung, auch nur ansatzweise etwas Elektronisches mitzunehmen, wenn sie unterwegs war. So unauffällig wie möglich zog er sich in den Schatten zurück. Ein Glück, dass der Umzug sich nicht sonderlich weit entfernt befand.

Während er noch nach dem ihm beschriebenen Wagen Ausschau hielt, lauerte Ria schon im Schatten eines großen Schrankes, im Herzen des Zielwagens. Die Zielperson würde sich gleich schon auf den Thron setzen und dann nach oben gefahren werden. Eine kleine Planänderung, da zwei andere Wagen ausfielen. Zum Glück war Ria noch rechtzeitig angekommen, um das mit anzuhören. Wenn die Tribüne hochfuhr, so hatte sie in Erfahrung bringen können, durfte niemand anwesend sein. Das bedeutete also, sie hatte ein Zeitfenster von vielleicht einer Minute, in der die Zielperson ihr alleine ausgeliefert sein würde.

Das leicht lallende Lachen zweier angetrunkener Männer dröhnte zu ihr herüber. Ekelig, dieser Alkoholgestank. Angewidert zog sie sich ihren Schal vor den Mund. Damit sah sie noch viel mehr wie ein Ninja aus, aber das kümmerte sie nicht. Niemand würde sich über ihren Aufzug wundern – schließlich war Karneval. Vom Nebenraum aus fing jemand an, einen Countdown zu zählen. Ein leicht schwankender Jeck, mit entblößtem, wild bemaltem Oberkörper nahm seinen Platz ein.

Die Zielperson räkelte sich königlich auf seinem Pappthron, vollkommen ahnungslos, dass eine überaus scharfe Klinge im Begriff war, ihm die Freude am Fasching für immer zu verderben. Im nächsten Augenblick starrten seine Augen seine Schädeldecke an. Nachlässig ritzte Ria noch ein großes µ auf seine Brust und zog sich dann in den Schatten zurück. Sie hoffte inständig, im allgemeinen Tumult verschwinden zu können, der unweigerlich ausbrechen würde, wenn man den Toten entdeckte.

Aus sicherer Entfernung beobachtete Harriot zufrieden das ausbrechende Chaos und knipste begeistert ein Foto nach dem anderen. „Schalte das Blitzlicht noch ein und dann wissen sie ganz genau, wo du steckst." Rias gereizte Stimme erklang ganz dicht an seinem Ohr. „Selbst wenn der Auftraggeber einen Exklusivbericht für Extrakohle verlangt, ist es in erster Linie doch unsere Aufgabe nicht aufzufallen."

Verärgert drehte er sich zu ihr um. „Erzähl du mir nichts davon, Mädchen. Ich bin schon wesentlich länger im Geschäft als du."

Von seinem bedrohlichen Knurren völlig unbeeindruckt machte sie auf dem Absatz kehrt und schlenderte gelassen in die Nacht hinein. „Blake will dich morgen Abend sehen."

Morgen Abend. Ungläubig schüttelte Ria ihren Kopf. Blake hatte sie in den letzten Wochen immer wieder versetzt. Das konnte jetzt unmöglich sein Ernst sein. „Sag deinem Boss, dass es mich einen Dreck interessiert, wann er mich gerne sehen würde."

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