Romeo und Julia
Keine körperliche Anstrengung hatte sie je so ausgelaugt, wie der Anblick der beiden direkt nebeneinander.
Hinter ihr klopfte jemand an die Tür. „Ria, Süße, mach bitte die Tür auf." Es war Blake.
Ria schwieg eisern. Sie wollte einfach nur in ihrem Elend versinken. Nach einer Weile entfernte Blake sich wieder.
Jemand anderes stellte sich vor die Tür. „Ria, was ist los?" Dieses Mal versuchte Kemal sein Glück.
Am liebsten hätte sie ihn ebenfalls ignoriert. Sie wollte wieder zurück zu ihrem alten, emotionslosen Verhalten finden. Aber es ging nicht. So sehr sie es auch versuchte, die Mauern, die sie über Jahre aufgebaut hatte, um andere von sich fern zu halten, glichen einsturzgefährdeten Ruinen. Beizeiten musste sie sie wieder aufbauen. „Ria."
Der sanfte Ton seiner Stimme brachte sie schließlich dazu, ihr Heil in der Flucht nach vorne zu suchen. Kemal hatte ihr - zugegebenermaßen - schon das eine oder andere Mal geholfen. So ungern sie es sich auch eingestand, sie konnte jetzt das Bisschen väterliche Fürsorge, das er für sie übrig zu haben schien, gebrauchen. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Unwirsch wischte sie sie fort und öffnete Kemal die Tür. „Paps, ich weiß nicht, was ich tun soll." Hilfesuchend warf sich in seine Arme. Noch nie hatte sie sich einem derartigen Problem gegenüber gesehen. Es machte sie verrückt, kein Rezept dafür zu haben.
Sanft wiegte er seine schluchzende Ziehtochter hin und her. „Was ist denn los, dass du so aufgelöst bist?"
„Reece und Blake." Um sich zu beruhigen, atmete sie tief durch. „Weißt du, Blake war zwar irgendwie sowas wie mein Freund, aber bei Reece habe ich mich wohl gefühlt. Dass Blake jetzt auch noch so nett zu mir ist und Reece mir seine Hilfe verweigert hat, bringt mich total durcheinander."
Liebevoll strich er ihr über den Rücken. „Du wirst die richtige Entscheidung treffen. Aber ich muss dir auch sagen, dass du zu uns gehörst. Eine Beziehung zwischen dir und dem Polizisten würde problematisch werden. Hör auf dein Herz, Sonnenschein. Entweder erlebst du eine Romanze á la Romeo und Julia oder du versuchst Blake zu verzeihen und lässt dich auf ihn ein."
Langsam beruhigte sich Ria. „Ich weiß es doch einfach nicht", leicht zitternd lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter.
„Du bist noch so jung. Lass dir Zeit. Niemand verlangt, dass du dich sofort entscheidest. Ach, übrigens: In zwei Wochen kannst du wieder zur Schule gehen. Die Ferien hier sind sehr früh vorbei. Lass Blake sich um den anderen Kram kümmern. Wir beide können bis dahin gemeinsam shoppen gehen und vielleicht ein bisschen was wiederholen, damit du in der ersten Zeit nicht nur Bahnhof verstehst. Immerhin sind es bei dir schon zwei Jahre, die du nicht mehr gelernt hast."
Es war ein wirklich verlockender Vorschlag. „Aber ihr alle seid meinetwegen in Gefahr. Ich kann unmöglich dabei zusehen, wie ihr verletzt werdet."
Fest sah er ihr in die Augen. „Es ist Blakes Aufgabe dafür zu sorgen, dass es aufhört. Schließlich ist er der Meister. Du stehst unter seinem Schutz." Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah ihr beschwörend in die Augen. „Tret mal kürzer, Süße. Du bist nicht dafür verantwortlich, dass ein Verrückter hinter dir her ist. Hör auf, die Verantwortung dafür übernehmen zu wollen."
Ria dachte einen Augenblick lang nach. „Meinst du, ich kann das einfach so ruhen lassen?"
„Warum versuchst du es nicht einfach? Geh duschen und dann lass uns gemeinsam in die Stadt gehen. Du kannst ja schlecht im Minirock zur Schule gehen."
Die Vorstellung entlockte ihr ein leichtes Lächeln. „Ja, du hast recht. Schade, dass es hier keine Uniformen gibt." Sie löste sich aus seinen Armen. „Können wir bei Dimi vorbeisehen? Ich möchte mich vergewissern, dass es ihm gut geht. Und heute Abend würde ich gerne trainieren."
Kemal nickte zufrieden. „Okay, das machen wir." Spontan drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn. „Lass dir beim Duschen ruhig Zeit."
Am nächsten Morgen fand Blake Ria auf dem Sofa schlafend vor. Um sie herum verteilt lagen Taschen voller Einkäufe. Anscheinend hatte Kemal ihr bereits verraten, wann es losgehen sollte. Den Formularen auf dem Sofa nach zu urteilen war sie beim Durchsehen des Kursangebotes eingeschlafen. Vorsichtig strich er ihr das schwarze Haar aus dem Gesicht. Warum lässt du sie kämpfen? Die Frage des Polizisten kam ihm wieder in den Sinn.
Sie ist Liams Tochter. Sie kann nicht anders, hatte er geantwortet. Dabei war das nicht alles. Ria kämpfte, weil das Kämpfen sie immer begleiten würde. Es war wie die Luft, die sie atmete. Und sie musste auf sich selbst aufpassen. Er konnte sie weder immer beschützen, noch ewig einsperren. Er konnte nur über sie wachen und hoffen, dass ihr nichts geschah.
Sein Handy begann leise zu summen. „Gian, was hast du?" Nachdem Kemal sich gestern Rias angenommen hatte, war er in den Keller gegangen, um den Fremden zu befragen. Außer den Namen Zajc hatte er noch ein paar Adressen aus ihm herausbekommen. Und zu eben diesen hatte er noch gestern Abend seine Leute geschickt.
„Wir haben eine Liste der Leute gefunden, die noch zu der Organisation gehören."
„Informationen über den Initiator?"
„Nicht wirklich. Ich nehme alles mit."
„Passt auf, dass euch niemand folgt." Ohne sich zu verabschieden, beendete er das Gespräch und steckte sein Telefon wieder weg.
Vorsichtig sammelte er die Wahlbögen ein und legte sie ordentlich auf den Tisch. Anschließend versuchte er sich an einem Frühstück für seine Süße.
Die verführerischen Düfte von frischem Rührei mit Speck und Orangensaft weckten Ria. Wohlig räkelte sie sich. „Guten Morgen."
Verdutzt sah sie sich im Wohnzimmer um. War sie etwa hier eingeschlafen? Hatte sie zulange geschlafen? Schockiert starrte sie Blake an. „Wie spät ist es denn?"
„Sieben Uhr. Du bist wohl eingeschlafen." In der einen Hand hielt er seine Kaffeetasse, mit der anderen deute er auf die Papiere neben ihrem Teller. „Hast du dich schon entschieden?"
Schulterzuckend griff sie nach ihrem Frühstück. „Danke. Und nein, noch nicht gänzlich. Ich hatte ganz vergessen, dass es so unnütze Pflichtfächer gibt."
Blake lächelte schwach. „Genieße die unnützen Dinge, Süße."
Stumm schaufelte sie ihr Frühstück in sich hinein. „Kemal meinte, ich soll mich aus der Angelegenheit mit den Ninja raushalten", begann sie vorsichtig, nachdem sie ihren leeren Teller auf den Tisch gestellt hatte.
Wortlos stellt er seine Tasse ab. „Es ist meine Aufgabe, für deine Sicherheit zu sorgen. Aber du bist nun mal sehr starrköpfig und würdest dich nicht einmal dann raushalten, wenn ich dich darum bäte genau das zu tun."
Nachdenklich starrte sie auf den Tisch. Bilder von dem Attentat auf Dimitrios schwirrten vor ihrem geistigen Auge umher. „Aber ich kann meine Freunde doch nicht einfach so dem Feind überlassen."
Blake stützte sich mit den Armen auf seinen Beinen ab und verschränkte seine Hände ineinander. „Es ist immer irgendwer in Gefahr, Süße. Du kannst nicht alle retten. Du kannst stolz auf dich sein, dass du Dimitrios' Leben gerettet hast."
Aufgebracht sprang sie auf. „Aber ich kann das doch nicht einfach so zulassen! Wegen mir sind meine Freunde in Gefahr! Ich muss diesen Typen finden."
„Setz dich!" Blakes scharfe Stimme ließ sie zusammenzucken. Artig setzte sie sich wieder auf ihren Platz. „Hör zu, Ria. Wenn wir unter uns sind, kannst du mir widersprechen und meine Autorität infrage stellen, so oft du willst. In Gegenwart von anderen jedoch, kann ich das nicht dulden. Das schließt alle Aktivitäten ein, die außerhalb des Raumes stattfinden, in dem wir alleine sind. Denn wird erst bekannt, dass meine Leute tun und lassen können was sie wollen, ist hier die Hölle los und dann sind nicht nur deine Freunde in Gefahr, sondern alle."
Ria musste schwer schlucken. Das war sehr deutlich gewesen. „Darf ich dir denn helfen?"
Blake seufzte resigniert. „Ich kann dich eh nicht davon abhalten. Bevor du wieder alleine losziehst, kannst du besser mit mir mitkommen." Mit ernsten Augen fing er ihren fast scheuen Blick ein. „Aber wenn ich möchte, dass du dich raushältst, weil es zu gefährlich wird, wirst du das tun."
Eine strenge Bedingung, aber bessere Konditionen würde sie nicht aushandeln können. Darüber war sie sich durchaus im Klaren. „In Ordnung." Sie griff nach ihren Wahlzetteln. „Hast du einen Stift? Ich glaube, ich habe mich entschieden."
Er fasste unter den Tisch und warf ihr einen Kugelschreiber zu. „Dann ist ja alles bestens. Du kannst dir die Tage ein Motorrad oder ein Auto aussuchen, mit dem du zur Schule fahren willst. Ich lasse es dann für dich reservieren."
Überrascht ließ sie den Stift wieder sinken. „Kann ich nicht laufen?" Sie hatte zwar Führerscheine für Motorrad und Auto, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie gerne fuhr. Bislang war sie auch ohne sehr gut ausgekommen. Zumal diese Fahrzeuge oft Spuren an Tatorten hinterlassen konnten. Einen Fußgänger zu finden war nun mal um einiges schwerer.
Verständnislos schüttelte Blake seinen Kopf. „In deinem Alter solltest du nicht genug davon bekommen, durch die Gegend zu fahren."
Rias Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. „Ich hatte nicht viel von einer gewöhnlichen Jugend."
„Dann solltest du deine verbleibende Jugend umso mehr genießen. Man ist nur einmal wirklich jung, Süße. Jetzt darfst du Fehler machen. Wenn du älter bist erwarten alle, dass du keine mehr machst." Er sah ein wenig müde, beinahe traurig aus, als er das sagte.
Mitfühlend strich sie über seine Hand. „Auch du hast das Recht Fehler zu machen."
Gerührt nahm er ihre Hand in seine. „Manchmal würde ich gerne daran glauben. Aber so funktioniert das nun einmal nicht."
Vom plötzlichen Bedürfnis ergriffen, Blake trösten zu müssen, rutschte sie näher an ihn heran. So viel zum Thema erst einmal auf Abstand gehen. „Niemand ist frei von Fehlern."
Blake ließ zu, dass sie sich an ihn lehnte und ihn von seinen Problemen ablenkte, indem sie ihm Geschichten von ihrem gestrigen Ausflug in die Stadt erzählte.
„Stell dir vor, da waren sogar richtige Straßenkünstler. Die konnten vielleicht tanzen! Breakdance oder Streetdance war das glaub ich. Die Musik war vielleicht ein wenig fragwürdig, aber die hatten Bewegungen drauf, da war ich echt überrascht."
Entspannt lauschte er ihren Ausführungen und sah ihr dabei zu, wie sie versuchte, die eine oder andere Bewegung nachzumachen. „Das sah doch schon gar nicht so schlecht aus", meinte er trocken, nachdem sie sich aus einem missglückten Rückwärtssalto mit einer Rolle hatte retten können.
Genervt verdrehte sie die Augen. „Ja, ja. Übung macht den Meister. Hey, wer weiß, vielleicht fange ich ja wirklich damit an." Sorgfältig zog sie ihre leicht zerknitterte Kleidung zurecht.
Die Türklingel läutete melodisch. Mit einem kurzen Seitenblick auf Ria entschied Blake: „Geh nach oben. Am besten nimmst du deine Sachen gleich mit."
Verwundert leistete sie seiner Anweisung Folge. Es war ungewöhnlich, dass er sie aus dem Raum schickte. Vielleicht war dieser Besucher eher weniger erwünscht. In den unteren Etagen wurde es langsam lebendig. Sie beschloss, in ihrem Schlafzimmer ein wenig zu lesen, wenn sie mit dem Duschen fertig war. Sie war nicht besonders scharf darauf, jemandem aus dem Vergnügungstrupp anzutreffen.
Letztendlich machte sie es sich auf der blickgeschützten Dachterrasse bequem. Bei diesem herrlichen Wetter hielt sie es drinnen nicht aus. Blakes Grundstück war von hohen Bäumen umringt. Sie dienten nicht nur als Sichtschutz, sondern fingen auch einen Teil des Stadtlärms ab. Das machte den Garten und insbesondere diese Terrasse zu einem idealen Rückzugsort.
Schnurrend strich Cora um ihre angewinkelten Beine. „Hey du." Gut gelaunt legte sie ihr Buch beiseite und hob die Katze auf ihren Schoß. Die kleine Katze fing sogleich an, um einiges lauter zu schnurren. Offenkundig zufrieden kugelte sie sich auf dem Schoß ihres Frauchens zusammen.
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