Ratschläge und Schutzengel

2 Tage später...

Ria schnaubte verächtlich. Dieser miese Möchtegerngangster wollte doch tatsächlich versuchen, sie auszurauben. Jetzt lag der Mann, der fast noch ein Junge war, mit ins Hirn gedrücktem Nasenrücken vor ihr auf dem Boden. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie bedauernd ihre mit Blut verschmierten Handschuhe. Nun musste sie sich doch noch einmal umziehen. Und das so kurz vor Schulbeginn.

Du hättest ihn ja nicht gleich umbringen müssen, schalt Ragnarök sie missbilligend. Du kannst auf so viele andere, unblutige Arten und Weisen töten. Oder einfach so ausschalten. Warum musstest du ausgerechnet diese Methode wählen?

Am liebsten hätte sie ihm die mentale Tür vor der Nase zugeknallt. Leider beherrschte sie das Manöver nicht wirklich. Zwischendurch bereute sie es, eine konstante Verbindung zu ihm hergestellt zu haben. Er war schlimmer, als jede Anstandsdame. Das habe ich mich auch schon gefragt, du Schlaumeier, zischte sie ihm in Gedanken zu.

Nachdenken sollte helfen, Schätzchen.

Dafür zeigte sie ihm den mentalen Mittelfinger und machte sich mürrisch auf den Weg nach Hause.

An der Tür begegnete sie Gian. „Ah, Prinzesschen, schon wieder da?"

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, spazierte sie in ihr Schlafzimmer und suchte sich ein neues Paar Handschuhe aus dem Schrank. Mit einem letzten Blick in den Spiegel checkte sie ihr Outfit und sprang kurzerhand vom Balkon im ersten Stock. Warum einen Umweg nehmen, wenn es eine Abkürzung gab?

„Ria."

Vor Schreck sprang sie gut einen Meter in die Luft. „Wie hast du dich denn so schnell anschleichen können?" Fassungslos starrte sie in Blakes sturmgraue Adleraugen.

Er ging gar nicht erst auf ihre Frage ein, sondern fragte scharf: „Was hast du mir versprochen?"

Schuldbewusst biss sie sich auf die Lippe. „Ich wollte ihn wirklich nicht umbringen."

Falsches Thema, kommentierte Ragnarök gelassen.

Mit erhobenem Zeigefinger bedeutete Ria Blake zu warten. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich verdammt nochmal aus meinem Alltag raushalten? Wie soll ich mich denn jemals normal verhalten, wenn du immer irgendetwas in meine Gedanken säuselst?"

Belustigt beobachtete Blake, wie Ria mit finsterer Miene einen Monolog zu führen schien. Unwillkürlich wurde er von der Vergangenheit eingeholt. Sie hat ihn gefunden, ihren Geist. Meis Stimme hallte in seinen Gedanken wieder. Während sie das gesagt hatte, hatte sie Ria stolz über ihre strubbligen schwarzen Haare gestrichen. Kurz darauf war sie von ihnen gegangen.

„Entschuldige, aber ich kann wirklich nicht verstehen, warum ich zur Schule fahren soll."

„Geh einfach", sagte er lächelnd. Ria war ihren Eltern so verblüffend ähnlich, dass er zeitweise das Gefühl hatte, mit seinem besten Freund oder dessen besserer Hälfte zu reden. In solchen Momenten konnte er ihr einfach nichts übel nehmen.

Überrascht, so glimpflich davongekommen zu sein, sah sie zu, dass sie Land gewann.

Interessiert beobachtete Blake, wie Ria offensichtlich entnervt ihre Tasche in den Flur knallte. Seine wachsamen Augen folgten jeder ihrer Bewegungen, als sie durch die Glastür in die Küche kam und sich am Kühlschrank zu schaffen machte. Sie gefror kurzzeitig, als ihr Blick auf das ganze darin gelagerte Blut fiel, griff dann jedoch entschlossen nach einem Joghurt.

Ob sie ihn provozieren wollte oder nicht, konnte er nicht genau sagen. Es wunderte ihn jedenfalls, dass sie sich ihm direkt gegenüber setzte. Auf den Joghurt folgten zwei giftgrüne Äpfel, bevor sie sich wieder auf ihre Umgebung zu konzentrieren schien. „Hey", begrüßte sie ihn offenkundig überrascht.

Er zog eine Augenbraue hoch, bevor er ihren Gruß erwiderte. „Du weißt schon, dass du die ganze Zeit mir gegenüber gesessen und gegessen hast, oder?", hakte er skeptisch nach.

Ihre Miene wurde ratlos. „Habe ich das? Ich war total in Gedanken vertieft." Sie schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln.

Es war ihr anzusehen, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Um sie von ihrem Unwohlsein zu erlösen, schlug er vor: „Lass uns auf die Dachterrasse gehen."

Unsicher stimmte sie zu. Ihr behagte es nicht, nicht zu wissen, was er im Sinn hatte. „In Ordnung." Schweigend folgte sie ihm nach oben.

Blake vergewisserte sich, dass sie sicher auf der Hollywoodschaukel saß, bevor er sich vor sie kniete und ihr forschend in die Augen sah. „Du siehst fertig aus. Was bedrückt dich?"

„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe", flüsterte sie aufrichtig. „Ich bin einfach nicht dazu gemacht, mit gleichaltrigen zur Schule zu gehen."

Tröstend strich er über ihren Handrücken. „Das sind neue Erfahrungen für dich. Du gewöhnst dich schon daran."

Zweifelnd sah sie ihn an. „Wenn du meinst." Ein wenig hilflos zuckte sie mit den Schultern.

„Da ist noch etwas", hakte er nach einer Weile des Schweigens vorsichtig nach.

Furcht blitzte in ihren Augen auf. Aber nicht vor ihm. Sonst würde sie seine Nähe nicht dulden.

Tief durchatmend schlug sie ihren Blick nieder. „Ja. Es fällt mir schwer, also zwing mich bitte nicht dazu, dich anzusehen." Halt suchend drückte sie seine Hand. „Es war langweilig in der Schule, also habe ich mich mit Ragna unterhalten. Meinem Geist", fügte sie erklärend hinzu. „Er spricht immer nur von meinem Mann, wenn ich dich erwähne. Er sagte, das sei in jede Faser meines Körpers eingraviert und geradezu mit meinem Wesen verwurzelt."

Blake konnte ihre Verwirrung geradezu spüren. Vermutlich hatte er den richtigen Zeitpunkt, es ihr zu erklären, schon längst verpasst. „Unsere Bindungen gehen tiefer als die auf dem Papier", erklärte er ihr daher möglichst sanft.

„Ich fühle mich so mies", flüsterte sie kaum hörbar. „Er hat mir gezeigt, wie es sich anfühlen würde, wenn du nicht mehr da wärst. Es war schrecklich." Ihre Stimme war kurz davor zu brechen. „Es tut mir so leid, ich wollte dir das nicht antun." Mit tränenden Augen sah sie ihn zögerlich, geradezu ängstlich an. „Verzeihst du mir?"

Liebevoll strich er ihr die Tränen aus den Augenwinkeln. „Natürlich vergebe ich dir." Wenn sie ihn so bat, würde er ihr alles vergeben. Aber das brauchte sie ja nicht zu wissen.

Fassungslos starrte sie ihn an. „Aber warum?"

Erleichtert lachend nahm er ihr Gesicht in seine Hände und lehnte die Stirn an ihre. „Warum nicht?"

Verwirrt musterte sie seinen Gesichtsausdruck. „Aber warum verzeihst du mir einfach so?"

Stirnrunzelnd sah er sie an. „Ich habe dich nicht so behandelt, wie ich es hätte tun sollen. Aber wenn du nicht möchtest, dass ich dir vergebe..."

„Nein!"

Schockiert schlug Ria sich die Hände vorm Mund. Sie hatte nicht beabsichtig, ihn anzuschreien.

Blakes Mundwinkel zuckten beim Versuch, sein Lachen zu unterdrücken.

Unterdessen konnte Ria ihr Glück kaum fassen. Er vergab ihr tatsächlich einfach so. Von positiven Gefühlen überwältigt ließ sie sich in seine Arme sinken. Hätte sie doch nur früher schon gewusst, wie toll er sein konnte.

Nach einer halben Stunde starren Dasitzens schob Blake sie von sich. „Na komm, wir können uns dem Leben nicht ewig entziehen."

Widerstrebend folgte sie ihm hinunter in den Wohnbereich. Sogleich wurde er wieder von seiner Arbeit in Beschlag genommen. Ria nutzte die Freizeit, um eine Einkaufsliste aller benötigten Bücher zusammenzustellen, die sie im Laufe der Woche noch kaufen musste. Cora witterte ihre Chance und strich genüsslich schnurrend um ihre Beine. Wie immer konnte ihr Frauchen dem nicht widerstehen. In ihren Gedanken suchte sie, entspannt in den Kissen lehnend, nach ihrem treuen Geist. In den letzten Tagen war ihr das zur Gewohnheit geworden. Seit sie entdeckt hatte, wie sie mit ihm in Kontakt treten konnte und was für angenehme Gesellschaft er – zumindest zeitweilig – war, war es für sie undenkbar geworden, ihn zu ignorieren.

Du hast dich also mit ihm ausgesprochen, begrüßte er sie zufrieden.

Ich kann es noch immer kaum fassen, gestand sie ihm schüchtern.

Sein tiefes Lachen klang nach der vertonten Version ihrer Erleichterung. Wie du siehst, lohnt es sich doch ab und an auf mich zu hören.

Mit einem versonnenen Lächeln lehnte sie sich zurück in die Kissen. Es schien, als wäre eine große Last von ihren Schultern gefallen. Ich danke dir, Ragna.

Sie hatte das Gefühl, als verneige er sich leicht vor ihr. Ich entschwinde dann wieder in meine Gefilde. Melde dich, wenn du mich brauchst.

Ria wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung zu. Neugierig lauschte sie den alltäglichen Geräuschen des Hauses. Unten Im Pool schienen einige Personen zu baden. Nicht schwer zu erraten, wer das wohl war. Draußen feierten die Vögel den Tag und irgendwo schnauzte Blake gerade ins Telefon. Alles ging also friedlich seinen Gang. Sie lauschte ihrem Mann eine Weile, wie er seiner Arbeit nachging, bis sie etwas zu hören bekam, was ihr definitiv nicht gefiel. 

Blake sah von seinen Unterlagen auf, als er Schritte vernahm, die in seiner Nähe verstummten. Jemand stand in der Tür. Wiedererkennen flammte in seinem Blick auf. „Frieda", begrüßte er die lasziv im Rahmen lehnende Frau. Sie hatte sich gekonnt in Pose geschmissen, sodass ihr langes braunes Haar ihren Körper verlockend umschmeichelte und ihre üppigen Kurven betonte.

Anstandshalber stand er auf. „Wie schön, dich hier begrüßen zu können. Wie geht es dir?"

„Ah, cherie, Frankreich ist ja so ein aufregendes Pflaster." Ihre Stimme hatte über die Jahre einen leicht französischen Akzent angenommen. Aufreizend quetschte sie ihre Brüste noch weiter aus dem ohnehin schon sehr tief ausgeschnittenen Oberteil. „Man lernt dort viele aufregende Männer kennen." Wie eine Wildkatze auf Pirsch schlich die erfahrene Jägerin um ihren Clanführer herum.

„Ich bin mir sicher, dass es dir an Liebschaften nicht gefehlt hat", entgegnete er so charmant wie möglich. Mit den Augen zog sie ihn geradezu aus. Diese Blicke gefielen ihm ganz und gar nicht.

„Sicher nicht." Frieda klang entrüstet. „Aber keiner von denen war so gut im Bett wie du."

Energisch wischte er ihre Hand von seiner Brust. „Wie bedauerlich."

„Ich habe gehört, du hast dich endlich gebunden?"

„Ja", lautete die knappe Antwort. Er hatte keine Lust weiter darauf einzugehen. Frieda war Vergangenheit und da gehörte sie auch hin und nicht in sein Büro. Vor allem dann nicht, wenn Ria im Hause war.

„Hast du sie dir geschaffen?" Provozierend setze Frieda sich und räkelte sich auf seinem Stuhl. „Sie muss ja umwerfend sein, wenn sogar mir von ihr berichtet wird."

Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte Blake seine Untergebene an. „Ich wüsste nicht, dass sie dich etwas angeht. Ihr Wort ist für dich ebenso Gesetz wie für alle anderen."

Frieda klimperte kokett mit den Wimpern. „Ich habe noch etwas gehört", schnurrte sie.

Blake entging das unterschwellige Gift in ihrer Stimme nicht. Dementsprechend skeptisch hakte er nach. „Und das wäre?"

Raubtierhaft erhob sie sich und verlieh ihrer Stimme einen tiefen, melodischen Hauch. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass deine Frau dich nicht ranlässt."

Betont ruhig streifte er sich ihre Hand von seinem Hosenbund. „Du hast deinen Standpunkt klar gemacht, danke." So langsam ging ihm ihre aufdringliche Art ziemlich auf die Nerven.

Eingeschnappt verschränkte sie die Arme unter ihren Brüsten. Dadurch drohten sie nur noch mehr, das Top gänzlich zu sprengen. „Aber du brauchst mich. Ich kann dir helfen, dir Erleichterung verschaffen."

„Ach, was du nicht sagst." Besitzergreifend schlang Ria, die in diesem Moment den Raum betrat, ihre Arme um ihren Mann. „Ungeachtet dessen, was du vielleicht gehört haben magst, ist zwischen uns alles in bester Ordnung." Sie äffte dabei so gekonnt Friedas schrecklichen halbfranzösischen Akzent nach, dass Blakes Mundwinkel unwillkürlich nach oben zuckten.

Ungläubig starrte die alte Jägerin die junge an. „Sie ist ja noch fast ein Kind", rief sie entsetzt aus. „Kind, du bist zu jung, du kannst ihm doch nie im Leben das geben, was er wirklich braucht."

Bevor die Situation zwischen den beiden Frauen eskalieren konnte, schob Blake sich zwischen die Kontrahentinnen. „Es ist gut. Frieda, du bist ohne meine Anweisung hergekommen, das wird Konsequenzen nach sich ziehen. Und Ria", bewusst zärtlich strich er ihr über die Wange, „warte bitte im Wohnzimmer auf mich, ich bin gleich fertig."

Einen letzten tödlichen Blick auf die Brünette werfend, folgte Ria seiner Bitte. Schon jetzt war klar, dass sie ganz sicher keine Freundinnen werden würden.

Nicht gerade bester Laune stapfte sie Richtung Wohnzimmer – geradewegs in Kemals Arme. „Tschuldige", murmelte sie beiläufig und versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen.

„Warte doch mal." Forschend blickte er in ihr Gesicht. „Wie war dein Tag?"

„Gut", antwortete sie ausweichend. Ihr war nicht unbedingt danach zumute auch nur ansatzweise ein Gespräch zu führen.

Bei Kemal schrillten die Alarmglocken. „Was ist passiert?"

Sein alarmierter Ton gefiel Ria gar nicht. Konnte sie denn nicht einmal mehr in Ruhe sauer sein? „Du bist nicht mein Vater, es geht dich also gar nichts an. Eigentlich ginge es dich nicht einmal dann etwas an. Es hat weder was mit der Schule noch mit Blake zu tun, okay? Ich habe einfach miese Laune. Kann vorkommen."

Entschuldigend nahm er die Hände von ihren Schultern. „Natürlich. Aber rede mit mir, wenn du etwas auf dem Herzen hast."

Innerlich schnaubte sie verächtlich. Das hatte er sich seit der Aktion mit dem Blut ordentlich versaut.

„Wie hat Blake dich eigentlich dazu bekommen Blut zu trinken?" Aufrichtiges Interesse lag in seinem Ton.

Ria war drauf um dran ihm zu erklären, dass sie gar keins zu trinken brauchte, biss sich aber in letzter Sekunde auf die Zunge. Blake hatte ihr gesagt, dass ihre Eltern nur den engsten Vertrauten von ihrem Geheimnis erzählt hatten. Wusste Kemal über sie Bescheid? Oder war er einfach nur ein Weggefährte gewesen, mit dem sich ihre Eltern gut verstanden hatten? Dass er sie dazu hatte zwingen wollte Blut zu trinken, hatte einen Riss in das dünne Vater-Tochter-Band gerissen, das sich über die Jahre nur zögerlich und sehr sporadisch entwickelt hatte.

Sie bemühte sich um einen verschüchterten Eindruck. „Ich hatte keine Wahl. Und es ist mir peinlich."

Kemal, der ihr Mienenspiel beobachtet hatte, sah sie nachdenklich an. „Das braucht dir doch nicht peinlich zu sein. Deine Eltern haben doch auch offen getrunken, so wie wir alle. Du musst dich doch daran erinnern, jetzt, wo du erwacht bist."

Innerhalb eines halben Wimpernschlags wich ihr verängstigter Ausdruck einem verärgerten Funkeln. „Nein. Ich erinnere mich noch immer an nichts. Warum seid ihr alle so scharf auf meine abhanden gekommenen Erinnerungen?"

Begütigend nahm der Araber ihre Hand in seine. „Weil dieser Prozess bald bei dir einsetzen sollte."

„Ach komm schon", ungehalten entzog sie ihm ihre Hand. „Paps, ich bin erst seit wie vielen Tagen erwacht? Das sind doch keine zwei Wochen, ich bitte dich. Ich bin nicht anormal oder so. Ich habe einfach mein eigenes Tempo. Apropos Tempo", fragend begegnete sie seinem Blick: „Was macht du eigentlich? Wenn du nicht gerade damit beschäftigt bist, mich in ein normales Mädchen zu verwandeln oder mir den Nachhauseweg ins Hirn zu fräsen, sehe ich dich gar nicht mehr."

„Ich jage Zajc", lautete die ernste Antwort. „Das ist meine Aufgabe. Ich führe sozusagen den Suchtrupp an."

Erst jetzt musterte sie das müde wirkende Gesicht ihres Ziehvaters. „Du siehst abgespannt aus. Gönnt ihr euch denn keine Ruhe?"

Dafür erntete sie ein schwaches Lächeln. „Der Feind muss ausgeschaltet werden. Schlafen können wir danach immer noch."

„Das ist der dümmste Blödsinn, der mir je zu Ohren gekommen ist", protestierte Ria entrüstet. „Du gehst jetzt ins Wohnzimmer und nimmst gefälligst eine normale Mahlzeit ein. Und wehe ich sehe, dass du auch nur einen Krumen übrig lässt."

Belustigt folgte Kemal ihr in den Essbereich, wo sie ihm extra große Sandwiches zubereitete. „Hier", mit finsterer Miene setzte sie ihm den Teller vor die Nase.

Er hatte gerade die Hälfte seines Essens herunter geschlungen, als Blake sich zu ihnen gesellte. „Was macht die Suche?", fragte er beiläufig und zog Ria besitzergreifend an sich.

„Schleppend", lautete die zwischen zwei Bissen gemampfte Antwort.

Kichernd legte Ria einen Zeigefinger auf Blakes Lippen und unterdrückte somit seinen aufkeimenden Protest.

„Warum gehen wir zwei Hübschen nicht in die Stadt und besorgen mir jede Menge Schulkram?"

Blake brauchte nicht lange zum Überlegen. Er verschwand für zehn Minuten, bellte alle möglichen Leute an und verteilte Aufgaben. Kurz darauf führte er Ria nach draußen und öffnete ihr die Wagentür. Sein Auto stand aus irgendwelchen Gründen vor der Haustür. „Ladies first."

„So charmant", stieg sie auf seinen frech-flirtenden Ton ein. „Also, mir dünkt, wir fahren in die Stadt. Wohin genau soll's gehen?"

Ob ihrer funkelnden Augen schmunzelnd stieg er auf der Fahrerseite ein. „Das wirst du dir schon selbst erschließen müssen, Miss Holmes."

Wie schon auf der Fahrt zum Krankenhaus vor einer gefühlten Ewigkeit, klaubte sie sich auch dieses Mal seine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach und machte es sich auf dem Sitz bequem. „Och nö, ich lass mich einfach überraschen."

Blake musterte sie die Fahrt über gelegentlich. Er konnte sein Glück kaum fassen. Dass sie so einfach über all die Grausamkeiten hinwegsehen konnte, die er ihr zugefügt hatte, grenzte geradezu an ein Wunder. Im Nachhinein hätte er wohl besser nicht auf Kemal gehört und sie mit dem Brandmal an sich gebunden, sondern durch den Bluttausch. Dadurch hätte er ihr vieles ersparen können. Aber wie hieß es noch gleich so schön? Im Nachhinein war man immer schlauer.

„Deine Anhänglichkeit", fragte er zögerlich, „bedeutet die, dass ich mir das Bett nicht mehr mit deiner kalten Schulter teilen muss?"

Ria klappte die Sonnenbrille zusammen und sah ihn aus ihren unglaublich hellbraunen Augen überrascht an. „Ich hoffe es doch." Ihre Stimme klang vor Nervosität ein klein wenig höher als sonst.

Ein düsterer Schatten huschte über ihr Gesicht. „Nicht, dass noch mehr Flittchen wie Madame Meine-Brüste-sprengen-mein-Dekolleté auftauchen und meinen, du seist Freiwild."

Er konnte ihr Blut geradezu brodeln hören. „Frieda ist eine durchaus erfolgreiche Jägerin. Sie modelt in Paris."

Auf ihrer sonst so glatten Stirn zeigte sich nun eine tiefe Falte. „Auf wie vielen Erotikmessen wurde sie denn schon gebucht?"

„Ria", entrutschte es Blake seufzend. „Bist du eifersüchtig?"

Empört verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust. „Ich? Natürlich! Immerhin habe ich mich gerade erst dazu durchgerungen, dich als meinen Mann anzusehen, da taucht diese Möchtegern-Erotik-Personifikation auf und versucht auf äußerst billige Art und Weise dich zu verführen."

Ein eindeutiges Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. „So? Und du meinst, du kannst das besser?"

„Um Klassen", entgegnete sie verächtlich. Dann schien ihr jedoch schlagartig bewusst zu werden, was sie da gerade von sich gegeben hatte. Ihre Wangen färbten sich leicht rosa. „Ehm, ich meine nicht... Also nicht dass du jetzt denkst..." Verlegen biss sie sich auf die Lippe. „Wann sind wir da?"

In diesem Augenblick bog er auf einen Parkplatz ein. „Jetzt."

Kurze Zeit später hielt er ihr die Tür auf. „Tu meinem Herzen den Gefallen und steig aus, wie ein normaler Mensch."

Froh über die Ablenkung, ging sie auf seine Bemerkung ein. „Sollte ich jetzt auch noch auf dein Auto eifersüchtig sein?"

Gequält lächelnd zog er sie aus dem Wagen. „Du willst wirklich, dass ich mich zwischen dir und meinem Auto entscheide?"

Die Augen verdrehend marschierte Ria gespielt eingeschnappt von dannen. Nach nur wenigen Metern hatte Blake sie eingeholt. „Was steht denn so auf deiner Liste?"

Während Ria sich gut gelaunt im Geschäft umsah und die benötigten Dinge zusammen suchte, rief Blake Kemal an. „Was hast du herausgefunden?"

„Wie hast du es geschafft, dass sie sich aus der Geschichte raushält?"

Blake konnte nicht verstehen, dass gerade Kemal, der Ria von allen am besten kannte davon ausging, dass sie sich freiwillig nicht mehr mit dem Thema auseinandersetzte. „Gar nicht", erwiderte er knapp. Tatsächlich hatte er diverse Vorkehrungen getroffen, dass sie sich zum Beispiel nicht mehr zufällig in den falschen Kellerraum verirrte. „Also?"

Kemal klang müde. „Wir können ihn nächste Woche stellen. Er trifft sich mit einer Gruppe Vertrauten. Zeit und Ort lasse ich dir zuschicken. Wir peilen gerade die Lage und planen unser Vorgehen."

„Melde dich. Denk dran, dass er mir gehört." Ohne sich zu verabschieden legte er auf. Rias fragendem Blick begegnete er mit einem halben Lächeln. „Hast du alles?" 


Keiner der beiden schien ihren lautlosen Verfolger zu bemerken. Fasziniert beobachtete er durch seine Kameralinse Rias schwarzes Haar, das so schön im Wind tanzte, wann immer sie ihrem Begleiter lächelnd den Kopf zuwandte. „Was für eine Hübsche du doch bist. Noch schöner als deine Mutter, mein Engel."

Ein Männerkörper vertrat ihm die Sicht. „Juan."

Verärgert kroch der alte Spanier hinter seiner Linse hervor. „Was willst du, Reece?"

Der Hauptkommissar hielt ihn am Kragen zurück, bevor er sich an ihm vorbeidrängen und Ria weiter folgen konnte. „Es wäre besser, du hältst deine Hände von ihr."

Missgünstig grunzte er. „Na toll, jetzt sind sie weg."

Erleichtert entspannte Reece sich ein wenig. „Du hattest Carmen." Entschieden verstellte er seinem Ex-Schwager ein weiteres Mal den Weg. „Und du hast Jagd auf Mei Shaw gemacht. Bist du ihr Mörder?"

Juan verzog seinen Mund. „Carmen starb, weil sie mich betrogen hat. Und Mei Shaw", gierig rieb er sich seine Hände. „Sie war eine seltene Schönheit. Genau wie ihre Tochter."

Kompromisslos klatschte Reece ihn gegen eine Mauer. Es befriedigte ihn zu sehen, wie er dem Spanier damit das lüsterne Lächeln aus dem Gesicht wischte. „Die Kleine ist für dich unerreichbar. Sie steht unter dem Schutz mehrerer Clanführer. Das solltest du nicht unterschätzen."

Ärgerlich versuchte Juan Reeces Hand von seinem Revers zu streifen. „Du hast doch keine Ahnung. Deine Halbschwester war eine geborene Jägerin, Reece."

Wenn Juan dachte, dass das eine Neuigkeit für ihn war, lag er weit daneben. „Du bist clanlos, Juan. Da ist es kein Wunder, dass du dich mit den Clans nicht auskennst. Ich verrate dir jetzt einige Geheimnisse. Erstens: Du bist vogelfrei – niemand riskiert einen Krieg, wenn er dich umbringt. Zweitens: Du magst hier vielleicht einflussreich sein, aber keiner deiner alten Verbündeten hält mehr zu dir. Und weißt du auch warum?"

Diese gefährlich leise gehauchte Frage verunsicherte Juan dann doch ein wenig. „Das sind ja ganz andere Seiten an dir." Bislang hatte er ihn als sehr ruhigen und schweigsamen Genossen kennengelernt. Diese drohende, entschlossene Seite war ihm völlig unbekannt.

Reece sah ihn abfällig an und erklärte mit eiskalter Stimme und ungerührter Miene: „Weil ich nach Carmens Tod dafür gesorgt habe."

In einem urplötzlichen Anflug von Erkennen weiteten sich Juans Augen vor Entsetzen. „Aleix. Reece, du bist doch nicht Aleix?"

„Ich habe nie verstanden, warum du diese Tatsache nicht schon viel früher erkannt hast."

„Aber warum hast du nicht versucht Liams Gebiet an dich zu reißen, als er verschwunden ist?" Noch bleicher als sonst starrte er in Reeces Gesicht.

Intensive blaue Augen bohrten sich in Juans nichtssagende, stumpfe blassbraune Augen. „Denkst du, ich bin hinter noch mehr Macht her? Ich habe mehr als genug davon und Ria Shaw steht solange unter meinem Schutz, bis sie den ihr zustehenden Platz einnehmen kann."

Irritiert runzelte Juan seine Stirn. „Warum Aleix? Sie geht dich nichts an."

Skeptisch hob Reece eine Augenbraue. „So?" Sein Ton verhieß nichts Gutes. „Liam und ich waren vielleicht keine Freunde, aber das ist kein Grund, unser Abkommen zu brechen. Also, wenn du nicht einfach so mir nichts dir nichts von dieser Welt verschwinden willst, rate ich dir, dich aus dieser Stadt zu verziehen. Andernfalls stecke ich der Kleinen, dass du ihre Eltern auf dem Gewissen hast."

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen entschwand Reece im Schatten zweier Häuser.

Mit wild pochendem Herzen rieb Juan sich den Schweiß von der Stirn. Er hätte es wissen müssen. Aber wer konnte schon ahnen, dass der große Aleix Conran sich als einfacher Polizist ausgab? Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er die Tochter seines alten Rivalen schützte. Und das in dessen Gebiet. Die Frage war nur; wollte er es darauf ankommen lassen herauszufinden, ob Reece tatsächlich der echte Aleix Conran war oder er nur bluffte. Von der Antwort auf diese Frage hing die Antwort auf die Frage ab, ob er sich aus der Stadt verziehen sollte oder nicht.

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