Ragnarök?

Einige Stunden später fand Blake die beiden zusammengekuschelt auf der breiten Hollywoodschaukel. Ria lag - gekleidet in einen Bikini - mit angezogenen Beinen auf der Seite, ihr Kopf ruhte auf ihrem Arm. Zusammen mit dem anderen, bildeten ihre Arme das Nest, in dem die schlafende Katze lag. Als sie seine Schritte vernahm, öffnete Cora träge ihre Augen. Wachsam, wenn auch ein wenig verschlafen, folgte sie jeder seiner Bewegungen.

Die Katze misstraute Blake seit jeher. Vor allem dann, wenn es um Ria ging. Für ihn war das Verhalten der Katze ein Rätsel. Genauso wie es ihm ein Rätsel war, warum sein Mädchen sich eine Katze zugelegt hatte. Es störte ihn, dass das Tier - wenn es nicht gerade schlief - immer an Rias Fersen hing, sobald diese im Haus war.

Sanft kraulte Blake das kleine Tier hinter den Ohren, woraufhin sie ihn erst skeptisch beäugte, dann jedoch unerwarteterweise genüsslich schnurrend ihre grellgrünen Augen schloss. „Wie hast du es nur geschafft, sie um den Finger zu wickeln?"

Cora sah ihn so durchdringend an, dass er das Gefühl hatte, sie versuchte ihm gerade telepathisch ihre Gedanken mitzuteilen.

„Ist das ihre Gabe? Versteht sie, wie es euch geht?" Nicht viele Jäger hatten besondere Gaben. Meistens waren es die Frauen, die über überraschende Talente verfügten. Mei zum Beispiel hatte ab und zu Vorahnungen gehabt. Bislang hatte er Rias Feinfühligkeit immer ihrem Charakter zugeschrieben. Was aber, wenn sie die Emotionen um sie herum nicht nur aufnehmen, sondern auch lesen konnte?

Die Katze gähnte herzhaft, stand auf, buckelte und drehte sich ein paarmal um die eigene Achse, bevor sie sich erneut hinlegte. Dieses Mal versteckte sie ihren Kopf unter Rias langen Haaren.

Etwas um Ria veränderte sich plötzlich. Cora sprang fauchend von der Schaukel. Kurz darauf zuckte Ria zusammen, als würde sie Höllenqualen erleiden. In Zeitlupe rutschte sie von der Sitzfläche herunter. Blake fing sie auf, bevor sie auf dem gepflasterten Boden aufschlagen konnte. Noch immer trug sie Kämpfe in ihrer Traumwelt aus. Als sie anfing, gelegentlich zu wimmern, versuchte er sie zu wecken. Aber alles Geschüttle der Welt brachte nichts. Ria wachte nicht auf.

>> Vorsichtig schlich sie einen langen, dunklen Gang entlang. Ihr Ziel war ein kleiner Lichtspalt, der als einzige Quelle das bodenlose Dunkel um sie herum erhellte. Es war ein seltsamer Traum, den sie da hatte. Normalerweise trug sie immer etwas, wenn sie von sich selbst träumte. Dieses Mal war sie nackt. Verletzlich. Dein Traum wird dich schon nicht umbringen, schalt sie sich. Ihre mentale Stimme klingt ungewohnt unsicher. Normalerweise macht ihr Dunkelheit nichts aus, ganz im Gegenteil sogar. Diese durchdringende Schwärze hingegen machte ihr Angst. Noch nie zuvor hatte sie etwas so Dunkles gesehen.

Endlich erreichte die den hellen Spalt. Sie musste die Augen zukneifen, weil das Licht plötzlich so intensiv wurde, dass es sie blendete. Wo das wohl auf einmal her kam? Nachdem ihre Augen sich an die neuen Gegebenheiten angepasst hatten, streckte sie neugierig ihre Hand danach aus. Schlagartig erwachte das Dunkel um sie herum zum Leben. Schwarze Ranken schlangen sich um ihre Haut und ergriffen von ihr Besitz. In Sekundenschnelle war ihr Körper von oben bis unten mit ihnen bedeckt. Sie hielten sie in einer unbequemen, verwinkelten Position gefangen. Kleine Dornen bohrten sich unbarmherzig in ihre Haut. Was für ein Albtraum. Sie wollte aufwachen, sofort! Nach Leibeskräften bemühte sie sich, von ihnen freizukommen. Das einzige, was sie dadurch erreichte war, dass die Dornen sich noch tiefer in ihre Haut bohrten.

Um sie herum ertönte ein vergnügtes, tiefes Lachen. „Sieh an, kleine Ria. Nun stehst du endlich vor mir."

„Stehen ist so eine Sache", murmelte sie sarkastisch. Noch immer hing sie in diesem unbequemen Gestrüpp fest. Zwar hatte sie eine Heidenangst vor dem, was da in der Dunkelheit lauerte, dennoch konnte sie ihren bissigen Kommentar einfach nicht für sich behalten. Sie hatte nicht den Eindruck, dass dieses Wesen ihr schaden wollte.

Erneut ertönte das tiefe, scheinbar alles durchdringende Lachen. „Du hast Mut, das muss ich dir lassen. Und stur bist du auch. Aber das ist es nicht, was dich so kostbar macht. Du hast ständig mit dem Tod zu tun, dennoch liebst du das Leben aus tiefstem Herzen. Und das, obwohl es so grausam zu dir war."

Dieses Thema gefiel ihr ganz und gar nicht. Es ging das unheimliche Ding um sie herum nichts an. „Und was hat das mit diesem Traum zu tun?"

„Das ist kein Traum", mischte sich eine weibliche Stimme ein.

Irritiert sah sie sich um, konnte aber noch immer nichts entdecken.

„Wir sind Ying und Yang, Licht und Dunkelheit, Anfang und Ende. Du kannst uns Ragnarök nennen."

Skeptisch runzelte sie ihre Stirn. „Das hier ist doch bloß ein Traum, oder?"

Die helle und die dunkle Stimme lachten zugleich. „Ja und nein", antworteten sie im Chor. „Du erwachst. Jeder Jäger begegnet seinem Geist, vorausgesetzt, er hat sich einem verschrieben. Aber viele können sie nicht wahrnehmen. Es gibt nur ganz wenige wie dich."

Ihr seid ja wohl nicht zu ignorieren, dachte Ria bitter.

Erneut lachten beide. „Du bist uns wirklich ein Rätsel. So unschuldig und naiv und auf der anderen Seite so reif und schwer zu überzeugen. Finde dich in deinem neuen Leben zurecht, dann werden wir uns wiedersehen. Du kannst immer nach uns rufen, wenn du uns brauchst. Du findest uns in Licht und Dunkelheit."

Die Dornen zogen sich langsam in die Ranken zurück. Ganz langsam und gemächlich lösten diese sich von ihren mittlerweile steifen Gliedern, dann fiel sie in bodenlose Tiefe.


Schreiend fuhr sie hoch. Alles um sie herum erschien ihr auf einmal viel zu intensiv. Das Licht, die Geräusche, selbst die Gerüche.

Aus sicherer Entfernung beobachtete Blake, wie sie sich orientierend umsah. Ihre Augen leuchteten in diesem sehr hellen braun, das sie in den letzten Tagen häufiger angenommen hatten.

Ria brauchte eine ganze Weile, bis sie alles zuordnen konnte und es sie nicht mehr verwirrte. Ihre Augen hefteten sich auf Blake. „Bin ich wegen dir hier?"

Er nickte langsam. Es kam ihr vor, als würde er sich im Zeitraffer bewegen. „Ja, ich dachte mir, dass du der Welt nicht unbedingt mitteilen willst, was du träumst."

Seine Stimme hatte auf einmal wesentlich mehr Nuancen als noch am Morgen. Es faszinierte sie zu entdecken, wie anders die Welt doch war. „Danke." Sogar ihre eigene Stimme klang wie eine klare Melodie.

„Möchtest du mir von deinen Traum erzählen?"

Von ihrem Traum? War es denn wirklich einer gewesen? Sie wusste es nicht. Wenn es nach Ragnarök ging, dann war es keiner. Aber sie war nicht wirklich gefallen, das stand fest. Was um Himmelswillen war bloß mit ihr geschehen? Nachdenklich schüttelte sie ihren Kopf. Das war etwas, was ihn nichts anging. „Vielleicht ein andern Mal. Werde ich mich jetzt immer so fühlen?"

Verwirrung schlich sich in seine ausdruckslose Miene. „Hast du in letzter Zeit Blut getrunken?", fragte er scharf.

Verdutzt schüttelte sie ihren Kopf. „Warum sollte ich?"

Blake war nicht weniger verwundert. Das war nicht möglich. „Weil du erwacht bist, ohne zu trinken."

Ratlos und irgendwie überfordert zuckte sie mit den Schultern. Noch waren ihre Bewegungen zu schnell, um als menschlich durchzugehen. Sie merkte es vermutlich selbst nicht einmal. „Ich hatte nur diesen komischen Traum. Das ist wirklich Wahnsinn. Ich kann sogar Cora fühlen." Begeistert sprang sie aus dem Bett. „Wie viel stärker bin ich jetzt?"

„Wie gesagt, wir sind nicht unnatürlich stark. Das variiert von Individuum zu Individuum. Wenn du es wissen möchtest, können wir gerne trainieren gehen. Du solltest dir nur vorher etwas anziehen." Er deute auf ihren Bikini, den sie zum Sonnenbaden angezogen hatte.

Ungeduldig rupfte sie sich einen Rock und ein Top aus dem Schrank. „Okay, Big Boss. Dann mal los."

Noch immer vollkommen perplex folgte Blake ihr nach unten in den Garten. Seine Kleine steckte wie immer voller Überraschungen. Voller Energie turnte sie auf dem Rasen herum, schlug ein Rad nach dem anderen. Mit leuchtenden Augen blieb sie schließlich vor ihm stehen. „Na komm." Überschwänglich griff sie nach seinem Arm und zog ihn auf die fast unberührte Grünfläche.

Ria spürte die leichte Veränderung, die von Blake ausging. In letzter Sekunde gelang es ihr, seinem Schlag auszuweichen. Ganz in ihrem Element wirbelte sie herum und setzte geschickt zum Gegenangriff an. Nur um Haaresbreite verfehlte sie ihn.

Mit ihrer veränderten Wahrnehmung bereitete ihr das Kämpfen sogar noch mehr Freude. Nicht zu schweigen von der Tatsache, dass Blake sich jetzt wirklich anstrengen musste, um nicht auf dem Boden zu landen. Jetzt waren sie endlich gleichauf. Nie wieder würde er sie durch plötzliche Bewegungen überraschen können. Nie wieder!

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