Genesung
Blake sah auf, als der Hauptkommissar das Zimmer betrat. Augenblicklich verdunkelte sich seine Miene. So früh am Morgen hatte er mit niemandem gerechnet. „Was wollen Sie hier?"
Beschwichtigend hob Reece die Arme. „Krankenbesuch. Ria ist nicht das einzige Mädchen, das in letzter Zeit angegriffen wurde. Ich dachte mir, dass sie vielleicht lieber mit einem bekannten Gesicht spricht, als mit einem unbekannten."
„Wir haben keine Anzeige erstattet", brummte Blake.
Bedauernd schüttelte der Beamte den Kopf. „Schussverletzungen zieht man sich nicht einfach so zu. Wir sind hier schließlich nicht in den Staaten, wo jeder mit einer Waffe rumläuft."
Der andere nickte. „Sie ist noch nicht aufgewacht." Dabei strich er sacht über Rias kaltes Handgelenk.
Reece räusperte sich kurz. Es war ihm unangenehm, seine Pflicht auszuüben. „Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen."
Durchdringend starrte Blake ihn an. Schließlich seufzte er ergeben. „Wir waren beide außer Haus. Sie wollte eine Bekannte an der Küste besuchen. Ein Überraschungsbesuch. Sie dachte, der frische Meereswind würde ihr guttun. Anscheinend war diese Bekannte nicht anwesend. Als ich zurückkam war sie schon wieder da. Sie lehnte im Badezimmer an der Kommode, blutend und mit lädiertem Knöchel. Sie war kaum noch bei Bewusstsein, hat erst etwas von sich gegeben, als ich ihren Fuß berührt habe. Glauben Sie mir", fügte er todernst hinzu, „wenn ich auch nur ansatzweise wüsste, wer ihr das angetan hat, sähe die Lage jetzt anders aus."
Geschickt genug, hier keine offene Drohung auszusprechen, dachte Reece. Was Rias mysteriösen Freund anging, so wusste er ihn einfach nicht richtig einzuschätzen. Genauso wenig wie sie. „Für das Protokoll muss ich Ihren Namen haben."
„Damian Konstantin. Wundern Sie sich nicht, wenn meine Süße mich anders nennt. Sie ist sehr eigensinnig, wenn es um Namen geht." Er stand auf. „Ich weiß Sie denken, ich würde sie gefangen halten. Daher wird es Sie wohl nicht wundern, dass hier immer jemand sein wird, der auf sie aufpasst. Soll ich meinen Leuten sagen, dass sie Sie benachrichtigen sollen, wenn sie wieder aufwacht?"
Reece schüttelte seinen Kopf. „Ich schaue heute Abend noch einmal vorbei."
„Ich begleite Sie nach draußen." Vor der Zimmertür hielt Blake Reece zurück. „Sollten Sie ihre Hilfe weiterhin benötigen, werde ich sie zu Ihnen schicken, sobald sie fit genug ist."
Das überraschte Reece. „Ich hatte bislang den Eindruck, dass Sie sie nur widerwillig haben gehen lassen."
Skeptisch wanderte Blakes Augenbraue nach oben. „Sie ist groß genug, um auf sich selbst aufzupassen. Und sehr dickköpfig."
Reece beschloss damit aufzuhören, sich rüber die beiden den Kopf zu zerbrechen. Offenkundig führte das zu nichts anderem als Kopfschmerzen. „Ich würde mich freuen, sie weiterhin als Sachverständige für ungewöhnliche Morde befragen zu können. Ich habe den Eindruck, dass sie eine durchaus fähige Profilerin abgäbe."
Blakes Lächeln ähnelte einem Zähnefletschen. „Einen schönen Tag noch, Hauptkommissar."
Mit mehr Fragen als Antworten kehrte Reece in sein Büro zurück. „Ihr geht es den Umständen entsprechend", informierte er Al kurz angebunden. „Keine Besuche im Krankenhaus. Konzentrieren wir uns auf Zajc. Er ist noch immer unser Hauptverdächtiger. Besprechung in fünf Minuten."
Mit einem letzten Blick auf den Rücken des Polizisten kehrte Blake ins Krankenzimmer zurück, wo er sich wieder neben seiner Frau niederließ. „Ria, wach auf." Ungeduldig strich er über ihre freie Hand. Sie schlief schon viel zu lange. Der Arzt schrieb das ihrem Blutverlust und ihrer Erschöpfung zu. „Ria."
Eine kalte Hand klammerte sich schwach um sein Handgelenk. „Nimm die Finger von meiner Ader."
Erleichtert lockerte er seinen Griff. „Du bist wieder wach." Zufrieden lehnte er sich zurück und beobachtete, wie sie sich verwirrt umsah.
Nachdenklich betrachtete sie die Infusion auf ihrem Handrücken. „Wie komme ich hierher?"
„Woran erinnerst du dich?"
Ruhig starrte Ria auf ihr geschientes Fußgelenk. Dass sie sich in einem Krankenzimmer befand und nicht in der städtischen Pathologie deutete sie erst einmal als vorsichtig-positives Zeichen. Aber wer konnte schon sagen, was in Blakes krankem Hirn vor sich ging? „Ich war in dem Haus und habe alles erledigt. Ich bin angeschossen worden, weil ich nicht aufgepasst habe. Die schossen einfach schneller, als ich mich bewegen konnte. Ich habe die Blutung gestoppt und den Polizisten ihren Tatort hergerichtet. Dann habe ich die Fotos gemacht und bin zurück." Ihre Hände vergruben sich in der Bettdecke. „Ich bin gestolpert. Am Bahnhof. Dann habe ich ein Taxi genommen. Auf dem Weg ist meine Wunde aufgebrochen. Ich weiß noch, dass ich die Unterlagen über den Kinderhandel auf deinem Tisch hinterlassen habe. Dann wollte ich im Badezimmer nach Verbandszeug suchen." Hilflos und mit glitzernden Tränen in den Augen sah sie ihn an. „Ich habe nicht aufgepasst."
Blake wusste, was sie dachte. Normalerweise beseitigte er seine Leute, die schlampig waren und bei Aufträgen verletzt wurden. „Wie genau ist das passiert? Hast du versucht, die Spuren zu verwischen?", fragte er scharf. Die Befreiung, die er verspürt hatte, als er erfuhr, dass sie nicht in der Stadt angegriffen worden war, war innerer Anspannung gewichen.
Ria holte tief Luft. „Wenn du mich umbringst, mach es schnell, Blake."
Heftiger als beabsichtigt zog er sie an sich. „Niemand wird dich umbringen." Er konnte es zwar nicht aussprechen, versuchte aber seine Erleichterung darüber, dass sie noch lebte in seinen Kuss zu legen. „Also, was hast du getan?"
Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Mit den Händen klammerte sie sich an ihn. „Ich habe Feuer gelegt und dann den Notruf gewählt, damit das Arrangement nicht zerstört wird. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die richtige Stelle genommen habe. Ich weiß nicht, was gefunden werden kann."
Beruhigend strich er ihr übers Haar. Beim Anblick ihrer immer miserabler werdenden Miene beschloss er, das Thema zu wechseln. „Der Kommissar war hier und hat sich nach dir erkundigt", informierte er sie betont unbeteiligt. „Ich habe ihm gesagt, du wolltest für ein paar Tage ans Meer fahren, eine Bekannte besuchen. Überraschungsbesuch. Ich werde mir ein Alibi ausdenken, falls sie irgendwann auf dich kommen sollten." Sanft aber bestimmt drückte er sie wieder ins Kissen. „Deine Aufgabe ist es, wieder gesund zu werden. Sobald du dich fit genug fühlst, kannst du der Polizei helfen. Deine Dienste sind noch immer erwünscht."
Schwach lächelte sie ihn an. „Du willst mich bei der Kriminalpolizei einschleusen?"
Zweifelnd hob er eine Augenbraue. „Du leidest unter Wahnvorstellungen. Wie ich dich kenne, wirst du es kaum einen ganzen Monat im Bett aushalten. Ich sehe dich lieber im Polizeirevier als halb tot auf einer Mission oder im Fokus irgendwelcher Ninja."
Erschöpft griff sie nach seiner Hand. „Ich bin froh, dass du da bist, Blake."
Nachdenklich betrachtete Reece die schlafende Ria. Wenn ihr Freund die Wahrheit sagte, hatte sie sich zum falschen Zeitpunkt in einer äußerst gefährlichen Gegend aufgehalten. Zwar waren die Bösewichte ermordet worden, zuvor hatten sie jedoch noch etliche Mädchen entführt. Vielleicht war sie ihnen ja doch näher gekommen, als gut für sie war. Nach einem Gespräch mit dem Arzt wusste er, dass sie sich bald von ihrem Blutverlust erholt haben würde. Der Bänderriss im Fußgelenk machte den Fachleuten aber zu schaffen. Anscheinend sah die Sache ziemlich böse aus.
Die Bilder des Blutbades waren an alle Kriminalbeamte gemailt worden. Vermutlich hofften die zuständigen Ermittler Hinweise auf ähnliche Fälle zu bekommen. Wer immer versucht hatte, diesen Schmugglerring zu zerschlagen, hatte einen ganz schön makabren Geschmack. Kommissarin Wegner war um eine Meinung zu dem Fall gebeten worden. Das Entsetzen noch in den Augen, war sie ins Büro zurückgekehrt. „Es war grotesk", hatte sie mit horrorerfüllter Stimme geflüstert. „Alles ist nachträglich arrangiert worden. In einem Raum fand man ein totes Pärchen, das bei ihrer Ermordung Geschlechtsverkehr hatte. Im Raum gegenüber... Das Sofa war in die Mitte des Raumes gerückt worden. Es war völlig durchlöchert. Die Leichen lagen betend darum herum. Und oben" - ein eiskalter Schauer überlief sie - „alle Leichen waren um den Boss arrangiert worden. Wie bei einem Familienfoto. Und der Boss selbst ... die Pathologin meinte, er sei mit unglaublicher Präzision und äußerst methodisch gefoltert worden. Es war so grotesk. Meine Tochter baut mit ihren Puppen ähnliche Szenarien." Kommissarin Lensing war auf der Stelle auf die Toilette geflüchtet. Auch Reece konnte sich schwer vorstellen, wie jemand zu so einer Grausamkeit fähig sein konnte. Allerdings war es nicht sein Fall. Wer auch immer dort operiert hatte, hatte seine Arbeit sauber erledigt. Ganz im Gegensatz zu Zajc, von dem noch immer jede Spur fehlte.
„Was hast du gesehen, dass du angeschossen wurdest, Ria?" Gedankenverloren blickte er in das hübsche Gesicht des unglaublich jungen Mädchens. Es war jetzt schon der dritte Tag, an dem er versuchte mit ihr zu reden. Zwar ging es ihr immer besser, aber sie schlief sehr viel. Vor allem immer dann, wenn er vorbeischaute.
„Sie hat vorhin versucht zu laufen." Ihr massig wirkender Wächter setzte sich auf den freien Stuhl. „Ende der Woche darf sie gehen, wenn sich nichts Neues ergibt. Vielleicht ist es besser, Sie versuchen sie in einer vertrauten Umgebung zu verhören. Sie ist sehr scheu, auch wenn sie das geschickt überspielt. Deshalb ist der Boss immer so grob, wenn jemand versucht, sich an sie heran zu machen."
Reece stutzte. Es war nicht das erste Mal, dass er bemerkte, wie respektvoll die Leute über Damian Konstantin sprachen. „In welcher Branche sind Sie noch einmal tätig?"
Der Schrank verzog freudlos die Lippen. „Sicherheitsgeschäft. Die Kampfschule ist nur ein Nebenverdienst. Wir sind alle ausgebildete Leibwächter. Nur die Kleine hier nicht. Er würde sie nie einer Gefahr aussetzen."
Der Kriminalbeamte wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ria zu. Ja, dachte er nachdenklich, ihm lag wirklich an ihr. „Wie gut ist sie? Ich habe sie mit einem Schwert eine nachgebildete Wirbelsäule zerteilen sehen. Aber das ist nicht alles, oder?"
Der Andere lachte. „Sie müssen noch viel lernen, Herr Hauptkommissar. Warum finden Sie nicht selbst heraus, was sie kann? Sobald sie ihren Fuß wieder richtig belasten kann, wird der Boss sie in die Mangel nehmen. Sie können gerne zusehen."
Und wieder stand Reece vor einem Rätsel.
Missmutig schleuderte Ria die Krücken von sich. So ein verdammter Mist! Warum musste sie bloß so dumm sein und stolpern? Dadurch war sie so gut wie ans Bett gefesselt und konnte fast gar nichts machen. Zwar konnte sie ihren Fuß immer mehr belasten, doch was nützten ihr die kleinen Fortschritte? Sie wollte endlich wieder durch die Gegend laufen und kämpfen!
Kemal steckte seinen schwarzhaarigen Schopf zur Tür herein. „Wenn du renovieren willst, musst du es dem Boss nur sagen."
Für diese Aussage erhielt er einen Gratisblick auf Rias ausgestrecktem Mittelfinger. „Wenn du den Tag überleben willst, Schätzchen, dann verschwinde."
Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Kemal war einer der wenigen Attentäter, die Ria schon seit Längerem kannte. Er hatte Blake ab und an bei ihrer Ausbildung geholfen. Und er war der schönste und charmanteste Araber, dem sie je begegnet war. „Du brichst mir das Herz, Süße." Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich zu Ria aufs Bett. „Ehrlich, da dachte ich er ruft mich aus Nepal zurück, damit ich einen der riskanteren Aufträge übernehme und dann stellt sich heraus, dass ich ab heute dein Babysitter bin."
Ria verdrehte die Augen. „Hör mal, ich finde es ja auch schön dich wiederzusehen, Schönheit, aber du kannst bestimmt verstehen, dass ich dir nicht trauen kann. Genau wie ich würdest du jederzeit jeden von Blakes Befehlen ausführen. Und ich bin angeschossen worden. Gestolpert bin ich auch noch. Allerdings erst nach dem Auftrag."
Ein trauriger Seufzer entfuhr ihm. „Süße, du bist wie eine Tochter für mich. Ich würde dich nie umbringen und das weiß Blake. Er hat mich hergerufen, damit ich dich mit allen nur erdenklichen Mitteln beschütze. Und aufpasse, dass du keinen Blödsinn machst", fügte er grinsend hinzu.
„Du willst also wieder Paps genannt werden?" Skeptisch hob sie die Augenbrauen.
Kemals Grinsen wurde zu einem offenen Lächeln. „Wenn du mich immer noch so siehst, wäre es mir eine Ehre." Nachdenklich strich er sich über seinen dachsartigen Dreitagebart. „Also, was hältst du von einem entspannten späten Mittagessen und einem guten Film? Ich bin mir sicher, Blake hat hier irgendwo eine große Sammlung Filme."
Ria konnte ihr Lachen nicht verbergen. „Du bist so ein Filmfanatiker."
Sacht schlug er mit der Hand auf ihr Schienbein. „Also, dann werde ich mal nachsehen, was eure Küche so zu bieten hat. Ach, und noch etwas. Da ist ein Polizist, der wohl schon seit Tagen mit dir zu reden versucht. Wegen deines Unfalls."
„Dann schick ihn rein. Besser, ich rede mit ihm." Stöhnend ließ sie sich wieder in ihre Kissen fallen.
Mitleidslos lächelnd warf Kemal eine Decke über sie. „Niemand ist schnell genug, um allen Projektilen auszuweichen, Süße. Du kannst von Glück reden, dass du da lebend wieder rausgekommen bist. Blake wird dir nachher noch einmal gehörig den Kopf waschen. Warum hast du ihn den Raum mit den Leichentürmen nicht auch gezeigt?"
Ihre Antwort bestand aus einem möglichst unbeteiligten Schulterzucken. „Dann hätte ich gleich meinen Sarg aussuchen und meine Beerdigung planen können."
Kopfschüttelnd verschwand Kemal, um den Polizisten zu ihr zu schicken.
Reece staunte nicht schlecht, als er durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer trat. Das letzte Mal, als er hier gewesen war, hatte er dem Mobiliar keine große Beachtung geschenkt. Dieses Mal hatte er genug Zeit, um sich umzusehen. Das Wohnzimmer war in zwei Ebenen aufgeteilt. Oben standen lauter antike Gegenstände herum, allesamt ordentlich auf Regalen oder in Vitrinen arrangiert. Die untere Ebene reichte bis zu zwei großen Glasschiebetüren, die in einen gepflegten Garten führten. Um den massiven Holztisch in der Mitte der unteren Ebene herum standen zwei große weiße Ledersofas. Es würde ihn nicht wundern, wenn die Fliesen aus Granit wären und es hier eine Fußbodenheizung gab. Das Wohnzimmer stellte eine bizarre Mischung aus moderner Eleganz und antiker Heimeligkeit dar. Genauso widersprüchlich und verwirrend wie der Mann, dem das alles gehört.
„Herr Hauptkommissar?" Der Araber von vorhin trat wieder ins Wohnzimmer. „Sie ist wach und wünscht Sie zu sprechen." Ein Grinsen umspielte dessen Lippen. „Passen Sie auf ihren Kopf auf."
Was für ein skurriler Haufen, dachte Reece sich und folgte dem etwa dreißigjährigen Mann durch einen nichtssagenden Flur, bis vor eine schlichte Holztür.
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