Gefühlschaos
In dieser Nacht träumte Ria äußerst schlecht. Immer wieder drangen Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit in ihr Bewusstsein, mehrfach durchlebte sie den Tod ihrer Eltern. Ragna hatte am Abend die Barriere gelöst, die sie bislang daran gehindert hatte, sich zu erinnern.
Dementsprechend müde und mit dicken Rändern unter den Augen folgte sie Aleix am folgenden Morgen durch das lange, nach Tod riechende Pathologiegebäude. „Kein besonders anheimelnder Ort", mitfühlend drückte er ihre Schulter. „Und du bist dir sicher, dass du ihn sehen willst?"
Entschlossen nickte sie. „Ja. Ich muss es sehen, nicht nur fühlen."
Vor der Tür hielt er inne. „Darf ich dich etwas fragen?"
Seine zuvorkommende Art wunderte sie. „Kehrst du auf einmal den Kavalier heraus? Natürlich darfst du mich was fragen."
„Ich war schon immer ein Kavalier." Ein schelmisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Wie kommt es, dass du auf einmal so kooperativ bist?"
Zögernd sah sie ihn an. „Ich habe meine Gründe."
Angesichts ihrer abweisenden Antwort konnte er nur wortlos den Kopf schütteln. Soviel zum Thema kooperativ. Ächzend stieß er die schwere Tür zum Pathologiesaal auf. „Beantworte bitte die Fragen des Pathologen. Eine normale Vorgehensweise, er möchte nur sichergehen, dass er ihn richtig identifiziert hat."
Ria musste schwer schlucken. Auch wenn sie sich nach Kräften bemühte, sich nichts anmerken zu lassen, so fielen ihr die Schritte bis zum Pathologen sichtlich schwer.
Ein netter in die Jahre gekommener, grauhaariger Mann mit Halbglatze lächelte sie mitfühlend an. „Frau Konstantin?"
„Shaw", verbesserte sie ihn heiser. „Er war mein Lebensgefährte."
Offensichtlich betroffen drückte er ihre Hand. „Mein Beileid."
„Ich würde ihn gerne ein letztes Mal sehen", gab sie leise zu.
„Natürlich." Andächtig schob der Pathologe die Plane zurück, die Blakes toten Körper bedeckte. „Ich lasse Sie einen Augenblick alleine. Der Herr Hauptkommissar wird sicherlich solange auf Sie Acht geben." Mit einem Nicken an Aleix verschwand der alte Herr aus dem Zimmer.
Wie in Trance starrte sie zuerst auf das unberührte, bleiche Gesicht. Langsam trat sie an den kalten Stahltisch. Dort angekommen strich sie sanft über seine erschlafften Züge. Sie fühlte Tränen ihre Wange hinab rinnen, spürte jedoch nichts. Die innere Leere war ihr willkommen. Sie hielt sie davon ab, irgendetwas zu fühlen.
Aleix beobachtete, wie sie langsam den Rest der Plane entfernte. Als sie die tiefen Stich- und Schusswunden in dem toten Körper sah, wurde sie noch kälter. Emotionslos besah sie sich die tödlichen Wunden. „Ein einfacher Stich ins Herz", stellte sie beinahe vergnügt fest. Ihr Tonfall jagte ihm eisige Schauer über den Rücken.
Ohne Vorwarnung ruckte Ihr Kopf nach oben. Keine Sekunde später war der Leichnam bereits wieder verdeckt. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf trat der Pathologe ein. „Hat sie seine Identität bestätigen können?", fragte er den Polizisten mit besorgtem Blick.
Aleix nickte stumm. „Lassen sie ihr noch ein paar Augenblicke, um sich zu fassen."
Der Mann erklärte sich einverstanden. Tief durchatmend legte Aleix eine Hand auf Rias Schulter. „Komm."
Wortlos ließ sie sich von ihm aus dem Gebäude führen. „Wer auch immer das war", flüsterte sie mit vor unterdrücktem Zorn eisiger Stimme, „wird dafür büßen."
„Rede mit mir."
Seine sanfte Aufforderung brannte in ihr wie Säure, rüttelte an den festen Gitterstäben, hinter denen sie ihre eigentlichen Gefühle verschlossen hielt. „Ich habe schon so viele Leichen gesehen. Meine Eltern, unzählige Unbekannte und Aufträge, von denen ich nur die Namen kenne. Jeder einzelne hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Aber keiner dieser Anblicke hat mir jemals so zugesetzt wie dieser."
Fürsorglich strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Du irrst dich. Ich bin mir sicher, dass der Tod deiner Eltern mindestens genauso schmerzhaft war."
Schmerz schlich sich in ihre kalten Augen. „Ich weiß es nicht. Es ist alles so diffus. Ragna blockiert meine Erinnerungen nicht mehr. Die letzte Nacht war der Horror. Ich kann nicht einmal auseinanderhalten, welcher Schmerz genau woher kommt."
„Steig ein, lass dir nichts anmerken. Wir werden beobachtet." Sein plötzlich harscher, befehlsgewohnter Ton ließ sie verwundert aufsehen.
Panik stieg in Ria auf. Sie war doch noch nicht soweit, sich jetzt dem Verantwortlichen zu stellen. Nicht, nachdem dir ihr nur zu vertraute kalte Wut untergraben worden war. Aleix packte ihren Arm und zog sie an sich. „Vertrau mir."
Seltsamerweise tat sie genau das - sie vertraute ihm. Blindlings.
Ria! Ragnaröks Schrei drang ihr durch Mark und Bein.
Etwas geschah hier. Etwas, das selbst ihm Angst bereitete. Ohne Vorwarnung zog ein heftiger Sturm auf, in dessen Auge sie sich zu befinden schienen. Alles in ihrem Kopf schwirrte. Um nicht gänzlich die Kontrolle über ihre Sinne zu verlieren, schloss sie die Augen.
Ragna, ich vertraue ihm.
Darum geht es nicht, fauchte er.
Worum dann?
Das ist mein Vater.
Hörbar sog sie die Luft ein. Dein Vater?
Dachtest du, ich sei eine Laune der Natur, entgegnete er sarkastisch.
Mach dich nur über mich lustig. Seit wie vielen Tagen haben wir wieder miteinander zu tun? Und seit wann kann ich mich erinnern?
Beide schnauften wütend. Es frustrierte sie gleichermaßen, dass so ein Chaos um sie herum herrschte. Ich höre dir später zu, okay?
Ein verlockendes Angebot, dem ihr Freund nicht wiederstehen konnte. Danke, Kleines.
Du musst dich ja auch dauernd mit meinen Sorgen herumschlagen, versuchte sie ihn aufzumuntern.
Als sie eine Tür aufgehen hörte, öffnete Ria ihre Augen und kroch ins Auto. Kurz darauf stieg Aleix auf der anderen Seite ein. „Ragnarök, hm?" Mit einem kurzen Seitenblick startete er den Motor. „Warte, bis wir bei mir sind."
Sie nickte, sagte aber nach kurzem Überlegen: „Ich habe noch Dinge bei Blake im Haus."
Nachdenklich musterte er sie. „Versprich mir bitte, deinem Ziehvater nicht gleich an die Gurgel zu gehen. Du bist noch nicht wieder ganz bei Kräften."
Die Sorge der beiden, Kemal am Haus anzutreffen, erwies sich als unnötig.
„Er ist gestern ausgegangen", lautete die Auskunft eines Jägers, der daraufhin sofort huldigend auf die Knie sank. „Meisterin. Wir hoffen, ihr werdet euch bald um uns kümmern."
Aleix erstickte Rias spontane Antwort im Keim, indem er ihr die Hand auf den Mund legte. „Sie wird ihre Aufgaben annehmen, wenn sie bereit ist. Bis dahin verwalte ich ihre Aufgaben."
Der Jäger wurde bleich, hielt seinen Blick jedoch weiterhin auf den Boden gesenkt. „Jawohl. Wir hoffen dennoch, dass Ihr uns nicht alleine lasst."
Ria löste sich aus Aleixs Armen und kniete sich neben den Jäger. „Ich werde euch nicht im Stich lassen. Bis ihr andere Befehle bekommt, wendet ihr euch an Aleix. Sag es den anderen. Ich werde dafür sorgen, dass ihr euch von Blake verabschieden könnt und das Haus wieder hergerichtet wird. Du darfst jetzt gehen", fügte sie schroff hinzu, als der Jäger weiterhin am Boden verharrte.
Mit reiner Dankbarkeit in den Augen verabschiedete er sich.
„Das war gruselig." Es behagte ihr gar nicht, wie die anderen sie auf einmal zu verehren schienen.
„Du bist Liams Tochter und warst Blakes Frau. Beide waren nicht gerade unbekannt."
Sie schenkte ihm einen bösen Blick und fauchte: „Und warum konntest du mich nicht vorher warnen?"
„Du wolltest unbedingt hierher kommen."
Wütend funkelte sie ihn an. „Okay, was ist dein Problem? Was willst du mir nicht sagen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte sie dir Treppe hinauf uns Schlafzimmer.
Um von den anderen ungehört zu sein, schloss er die Schlafzimmertür hinter ihnen. „Du bist die Erbin, das ist doch nichts Neues für dich. Was allerdings neu ist, sind die Regeln, nach denen unsere Welt spielt. Und das", er trat einen Schritt an sie heran, sodass sie nun zu ihm aufsehen musste, „sind eine ganze Menge. Du kommst nicht darum herum, du wirst lernen müssen. Zu deinem Schutze und zum Schutze deiner Leute. Und dazu bist du momentan noch nicht in der Lage. Ich habe dir gesagt, ich werde für dich da sein und dir helfen. Aber das kann ich nicht, wenn du versuchst, meine Autorität zu untergraben."
Sie ignorierte seinen leicht drohenden Unterton und baute sich trotzig vor ihm auf. „Okay, bring mir alles bei, was ich wissen muss. Aber zuerst kümmere ich mich um Kemal. Er kann doch nicht einfach meine Eltern hintergehen, meinen Mann umbringen und dann auch noch davon träumen, mich zu versklaven."
Aleixs Augenbraue wanderte fragend nach oben. „Offensichtlich kann er es. Zumindest versucht er es. Wenn er es denn war. Aber mal ehrlich, eine Heirat mit dir ist für jeden von uns vorteilhaft. Würdest du heiraten, ginge die Clanführung an deinen Mann. Das gilt natürlich nur für Unseresgleichen."
Schockiert stolperte sie rückwärts. „Ich bin ein Instrument?" Ihre Augen wurden immer größer, der Schock lähmte ihre Glieder. „Soll das heißen, ich werde gejagt, weil ich jedem Dahergelaufenen Macht bringe?"
Sein Ernstes Nicken unterzeichnete quasi ihr Todesurteil. Zumindest fühlte es sich für Ria so an. „Dann bleibt mir also nur noch Kemal oder seinen Kontakt zur Strecke zu bringen und jeden sonst, der es wagt, sich mir auch nur zu nähern."
„Aber bitte nicht mich." Abwehrend die Hände hebend trat er einen Schritt zurück.
„Sei nicht albern. Inzwischen ist mir sehr wohl klargeworden, dass Blake mich nur schützen wollte. Und du bist der einzig andere Mann, dem ich momentan dasselbe Motiv unterstelle."
Ein Poltern auf der Treppe kündete von Besuch. „Meisterin? Meister?" Vollkommen außer Atem klopfte der Jäger an die Schlafzimmertür.
„Geh du." Ria nickte zur Tür. Auf garkeinem Fall wollte sie riskieren, schon jetzt Opfer der Machtgeilheit irgendwelcher idiotischer Männer zu werden.
Aleix öffnete die Tür und fragte ungehalten: „Was gibt es?"
„Ich habe mich nach Kemal erkundigt. Die Meisterin wünschte ihn vorhin zu sprechen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er wünscht, die Beerdigung mit ihr planen zu dürfen."
Voller Entrüstung über diese Dreistigkeit schnappte Ria nach Luft. Aleix spürte ihren drohenden Ausbruch und schloss die Tür vor der Nase des Jägers. „Pack deine Sachen. Später kannst du noch genug reden."
Dieser plötzliche Befehlston überraschte Ria. Noch nie zuvor hatte er so mit ihr gesprochen. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass er sie damit gerettet hatte. Ein sanfterer Ton wäre bei dem Versuch, durch den Schleier aus Wut und Trauer zu kommen, der ihr die Sicht verunreinigte kläglich gescheitert.
Schweigend half er ihr dabei, die große Reisetasche zu packen, die Ria aus dem Kleiderschrank gezaubert hatte.
Nachdem auch dies erledigt war, riss Ria die Schlafzimmertür auf und rief: „Gian?"
Kurz darauf sprintete dieser die Treppe nach oben. „Meisterin?"
Kopfschüttelnd starrte sie auf den jungen Jäger hinab. Vor gar nicht so langer Zeit hatte er sie noch aufgezogen und sich schamlos an sie heran geschmissen. Tja, dachte sie vergnügt, Ironie des Schicksals. „Schnapp dir noch ein paar Leute und seht zu, dass ihr Blakes Klamotten aus dem Schrank bekommt. Sämtliche Kleidung wird an Bedürftigenorgansiationen gespendet. Wenn das Zeug nach der Beerdigung immer noch da ist, rollen Köpfe."
Gegen die in ihm aufsteigende Panik ankämpfend fragte der Jäger mit gen Boden gerichteten Blick: „Kann ich sonst noch von Diensten sein?"
„Du kannst aufhören so extrem unterwürfig zu tun. Das kotzt mich an. Respekt kann man auch anders demonstrieren. Sollte etwas Wichtiges sein, bin ich auf meinem Handy erreichbar. Für alle organisatorischen Fragen, wende dich an den da." Nachlässig deutete sie auf Aleix.
„Und wie können wir mit Ihnen in Kontakt treten?", erkundigte Gian sich bei ihm.
Ungerührt reichte der ihm seine Visitenkarte aus dem Polizeidienst. „Hier. Nach Ablauf der Trauerzeit wird wie üblich eine Versammlung anberaumt. Bis dahin bist du für den Tagesablauf hier zuständig."
Ehrfurchtsvoll sank Gian erneut auf die Knie. „Ihr ehrt mich."
„Nicht ich", widersprach Aleix trocken, „sondern sie."
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