Eingesperrt

Nachdenklich musterte Kemal seine missmutig dreinblickende Ziehtochter. „Du siehst sauer aus."

Schnaubend knallte sie die Wagentür zu und schnallte sich an. „Nein, nicht wirklich. Er schien nur vergessen zu haben, dass ich keine Kriminalbeamtin bin. Weißt du, was los ist? Warum ruft Blake mich so plötzlich zurück?"

Geschickt fädelte ihr Ziehvater sich in den Stadtverkehr ein. „Anscheinend gab es einen Vorfall. Ich weiß nichts Genaues, weil er es uns erst sagen will, wenn wir bei ihm sind."

Verwirrt stellte Ria fest, dass er die Ausfahrt verpasste. „Ehm, ich will dir ja nicht vorwerfen, dass du dich verfährst, aber genau das tust du gerade."

Ernst schüttelte der Araber den Kopf. „Wir fahren zu Blakes Haus."

Ria fiel aus allen Wolken. „Er hat ein Haus?"

Jetzt war es an Kemal, sie ein wenig verständnislos anzustarren. „Du gehörst doch zu ihm. Als ihr euch gebunden habt, da musst du hier gewesen sein."

Äußerst ungern dachte sie an diese Nacht zurück. „Ich habe gar nichts mitbekommen. Blake hat mich ins Auto und dann sofort in ein Zimmer mit komischen Leuten geschleift. Anscheinend scheinst du ja zu wissen, wie so etwas abläuft." Sie schluckte schwer und betrachtete die an ihr vorbeiziehende Stadt.

Kemal antwortete nicht sofort. Als er es schließlich tat, war sein Gesichtsausdruck schmerzhaft verzerrt. „Ria, das Ritual war notwendig. Auch wenn du das noch nicht verstehst."

Die junge Frau schnaubte ungläubig. „Das hat nichts mit einem notwendigen Ritual zu tun. Das ist krank." Der Wagen passierte ein weißes Tor. Das Haus, das hinter einer Kurve vom Vorschein kam, sah ganz anders aus, als das aus jener Nacht. Die Anlage war komplett umzäunt und zweifellos mit modernster Sicherheitstechnik ausgestattet. „Das ist Blakes Haus?"

Fassungslos betrachtete sie die auf Hochglanz polierten Marmorfliesen. Von dem Flur aus, in dem sie nun stand, hatte man durch das hohe Glasfenster einen wundervollen Ausblick auf den riesigen Garten. Hinter ihr lagen die Treppen nach oben und unten, links von ihr befand sich eine gläserne Schiebetür.  Durch die unterschiedlich dicken, eingearbeiteten Streifen Milchglas konnte sie nicht genau erkennen, was sich dahinter befand. „Wo ist Blake?"

Kemal deutete auf die Glastür. „Im Wohnzimmer."

Sie stürmte los. Geräuschlos glitt die Tür auf, sobald die Bewegungssensoren sie erfassten. Zu ihrer maßlosen Überraschung fand sie sich in einem großen Raum wieder – Küche, Wohn- und Esszimmer in einem.  Direkt hinter dem Esstisch ging der Raum nahtlos in einen Wintergarten über. Von dort aus konnte man mühelos in den Garten gelangen. Sie drehte sich nach links und stellte fest, dass ein Kamin praktisch die Linie markierte, an der der Wohnbereich begann.

Blake saß auf einem Sofa, etwa am anderen Ende des großen Raumes. Durch ein Panoramafenster in seinem Rücken, fiel Licht in den Raum. Das Sofa nahm die komplette kurze und die Hälfte der langen Seite des Wohnraumes ein. Es war monströs und sah sehr bequem aus. Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen legte er die Bilder beiseite, die er gerade studiert hatte. „Da seid ihr ja endlich."

Mit verschränkten Armen setzte Ria sich ihm gegenüber, Kemal nahm auf Blakes anderer Seite Platz. „Was willst du, Blake? Und warum sind wir hier?"

Ihr Freund bedachte sie mit einem langen Blick. „Ihr seid hier, weil noch eine Leiche aufgetaucht ist. Wer immer es auf meine Leute abgesehen hat, wird langsam übermütig." Er reichte Kemal ein Bild, woraufhin dieser ganz ruhig wurde. Beunruhigend ruhig. Sofort wurde ihr mulmig zumute. Normalerweise konnte nichts und niemand ihren Ersatzvater aus der Ruhe bringen.

Irgendwann konnte sie es nicht mehr aushalten und sprang auf. „Ich sehe mir den Garten an."

„Nein." Blakes Stimme war schneidend. „Kemal, gehst du bitte nach oben? Ich werde mir deine Meinung später anhören."

Ohne ein Wort verschwand der Araber aus dem Raum.

Missmutig starrte Ria ihren Partner an. Ein wenig müde erwiderte dieser ihren Blick. „Ria, hör zu."

„Nein", schnitt sie ihm das Wort ab. „Du hörst mir jetzt einmal zu. Du nennst dich meinen Freund, verheimlichst mir aber, dass du ein Haus hast! Und ganz abgesehen davon, hast du mich und meine Katze entführt, sie als Geisel genommen und mich in dieses Haus geschleift, wo ich mich foltern lassen musste. Und dann sagt Kemal mir, dass das eine notwendige Sache gewesen sei und in deinem Haus stattgefunden hat."

Im Bruchteil einer Sekunde stand Blake vor ihr. Sie fuhr zusammen. „Wie kannst du dich nur so schnell bewegen? Das ist unmöglich!"

Er lächelte nur ruhig. „Oh, das kannst du auch. Zwar noch nicht ganz so schnell wie ich, dafür bist du noch zu jung, aber du wirst es auch bald können. Genauso wie du von Tag zu Tag ein wenig stärker wirst." Er beugte sich leicht vor, umfasste ihre Wange mit beiden Händen und ließ eine ihrer feinen Haarsträhnen durch seine Hand gleiten. „Aber du bist noch nicht stark genug, um gegen die anzukommen, die hinter dir her sind."

Ria schnaubte verächtlich. „Ich bitte dich, Blake. Wer sollte schon hinter mir her sein? Meine Mutter wurde von meinem Vater ermordet. Das klingt ja nach einem wunderbaren Grund, mich verfolgen zu müssen."

Er zog sie an sich. „Du, meine Süße, bist sehr wohl verfolgenswert. Vielleicht nicht für die, die du im Kopf hast, aber es gibt sie. Personen, die deinen Kopf wollen."

Das alles wollte sie nicht hören. Mit aller Macht versuchte sie sich aus seinen Armen zu befreien. Ihr Versuch endete in einem Gerangel, aus dem Blake als Sieger hervorging. Ihr die Hände über den Kopf festhaltend, drückte er sie mit seinem Körpergewicht auf den Boden. „Jemand ist dir bei einem deiner Aufträge gefolgt. Es ist mir aufgefallen, als ich dich beobachtet habe." Das mit der Beobachtung war nichts Neues. Ab und an begleitete Blake seine Leute auf ihren Missionen. Aus sicherer Entfernung sah er sich die Morde an. „Diese Person ist gestorben, bevor ich irgendwelche Informationen aus ihr herausbekommen konnte. Daher habe ich Harriot zu dir geschickt. Er sollte darauf achten, dass dir niemand folgt."

„Oh, er war sehr erfolgreich dabei", kam es vor Sarkasmus triefend zurück.

Ein dünnes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Ja. Und dabei ist er ein gar nicht so schlechter Attentäter. Als er mir erzählt hat, dass du ihm immer öfters entwischt, wusste ich, dass es an der Zeit war, dich zu mir zu holen. Und jetzt bleibst du immer bei jemandem, der so ist wie wir."

Ria verstand nicht, was er meinte. „Du willst mich also wieder einmal einsperren? Und was meinst du mit jemand, der so ist wie wir?"

Tief durchatmend erhob er sich. „Dieses Haus ist sicher. Deine Sachen sind schon im Schlafzimmer. Kemal wird dich gleich in unseren Privatbereich führen. Er, ich und dein Polizist. Du hältst dich immer bei einem von uns auf. Heute bleibst du bei mir." Ein finsteres Lächeln auf den Lippen, zog er ein Messer hervor und durchschnitt ohne Vorwarnung ihr Oberteil. „Nur ein kleiner Anreiz, dass du auch wirklich hier bleibst. Und solltest du dennoch abhauen... tja, sagen wir es mal so: ich werde dich finden." Mit funkelnden Augen steckte er das Messer wieder ein und verschwand.

Zitternd rappelte Ria sich auf. Sie hatte zwar immer einen gesunden Respekt vor ihm gehabt, aber das war nichts im Vergleich zu jetzt. Jetzt gerade jagte er ihr eine Heidenangst ein.

Ein heftiges Zittern überkam, sie woraufhin sie sich die Arme rieb, um wieder warm zu werden. Auf einmal war es um sie herum so unsäglich kalt. Sie fröstelte. Auf dem Sofa fand sie keine Decke, mit der sie sich hätte zudecken können. Daher versuchte sie nach oben zu gelangen, um dort nach etwas zum Anziehen oder Zudecken zu suchen. Doch die Glastür öffnete sich nicht. Nirgendwo konnte sie einen Schalter oder Sensor erkennen. Frustriert trat sie gegen das Glas. Als auch das nicht half, lief sie zur Gartentür. Hier passierte genauso viel – nämlich gar nichts. Blake verfluchend suchte sie in der Küche nach Messern. In der Hoffnung, die Tür doch noch irgendwie öffnen zu können. Aber auch hier öffnete sich keine Schublade. Einzig und allein der Kühlschrank und ein Schrank mit Plastikbechern ließen sich öffnen. Geschickt. Sie hätte auch mit Glas arbeiten können.

Ernüchtert sank sie vor der Glastür zum Flur zusammen. Blake konnte sich auf was gefasst machen, wenn er wieder her kam. Das konnte ja nicht allzu lange dauern. Doch aus Sekunden wurden Minuten und aus Minuten wurden Stunden. Es dämmerte bereits, als sie endlich Schritte im Flur wahrnahm. Mit steifen Gliedern versteckte sie sich hinter der Mauer. Wer auch immer da kam, würde was erleben.

Blake erntete einen Schlag in die Nieren und die Kniekehlen, ehe er die Möglichkeit bekam, ihre Angriffe abzublocken.

Das erste, was Kemal sah, als er in den Wohnbereich trat, waren die umgeworfenen Stühle. Anscheinend war Ria sauer. Richtig sauer. Verübeln konnte er es ihr nicht, immerhin hatte Blake sie wieder einmal eingesperrt, ohne ihr eine Erklärung zu liefern. Eine längst überfällige Erklärung, wohlgemerkt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wusste sie immer noch nicht, was sie eigentlich war.

„Kemal, wenn du das bist, dann schnapp dir ein Messer und zeig dem Idioten hier, dass er nicht mit jedem Mist durchkommt", schwebte ihre körperlose Stimme in den Küchenbereich. Ein paar Schritte weiter konnte er sie sehen. Blake hielt sie bewegungsunfähig auf den Boden gedrückt, ihre Arme auf ihrem Rücken verschränkt.

Anstatt ihr zu helfen, bedachte er sie mit einem mitleidigen Blick und überließ es Blake, seine Suppe selbst auszulöffeln. 

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