Ein Hund?

Sechs Wochen nach Ihrer Krankenhausentlassung boxte Ria probeweise gegen den Sack. Mittlerweile war ihre Wunde am Arm wieder verheilt, ihre Beweglichkeit allerdings immer noch eingeschränkt. Dieser dumme Fuß. Und diese dumme Staatsanwältin, die sie letzte Woche so abfällig gemustert hatte. Sie arbeitete jetzt schon seit fast zwei Wochen mit Reece an seinen Fällen. Natürlich hatte Blake darauf bestanden. Nachdem noch zwei Ninja aufgetaucht waren, die versucht hatten seine Leute umzubringen – dieses Mal ging die Ninja-Gang zum Glück leer aus – wollte er nicht, dass sie sich draußen schutzlos bewegte. Ihr den Polizisten an die Seite zu stellen, bedeutete drei Fliegen mit einer Klatsche zu schlagen. Zum einen wurde sie beschützt, ohne dass er seine Leute immer wieder abstellen musste. Der zweite Grund war, dass er sie nicht in der Wohnung einsperren und abwechselnd mit Kemal zusammen ihre unterirdische Laune aushalten musste. Und der letzte, dass das für ihn der einfachste Weg war, an die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen in puncto Ninja zu kommen. 

Links, rechts, links. „Ria." Sie verpasste dem Boxsack einen letzten Haken, bevor sie sich Kemal zuwandte. Zu ihrer Überraschung hielt er ihr Schwert in der Hand. „Du bist fit genug. Aber denk bitte daran, mir nicht den Kopf abzuhacken. Und hab Nachsicht, ich bin ein alter Mann."

Schnaubend nahm sie ihr Schwert entgegen. Innerlich freute sie sich diebisch darüber, dass er sie nun nicht mehr mit Samthandschuhen anzufassen gedachte. Allmählich ging ihr das nämlich auf die Nerven. „Du wirst auch mit neunzig jeden noch so starken Gegner besiegen können."

Ein dünnes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Räum den Boxsack weg, dann fangen wir an."

Der Form halber verschwand Ria kurz in der Umkleidekabine, um sich ihre Kendo-Uniform anzuziehen. Schließlich trug Kemal seine.

Reece stockte der Atem, als er sah, dass der Araber, den er von seinem letzten Besuch her kannte, Ria von hinten mit einem Schwert angriff. Dabei war sie doch noch damit beschäftigt, den Boxsack beiseite zu räumen. Zu seiner Überraschung reagierte sie schnell genug, um dem Schlag auszuweichen. Aus derselben Bewegung heraus zog sie ihr eigenes Schwert aus der Scheide und schon war der Kampf in vollem Gange – trotz ihres verletzten Knöchels. Als er das erste Mal hier gewesen war, hatte er einen kleinen Eindruck dessen bekommen, was sie können musste. Vielleicht hatte er sich doch nicht geirrt, was ihre Augenfarbe anging. Zudem hatte sie sich ungewöhnlich schnell wieder erholt. Die Ärzte hatten Bedenken gehabt, ob sie überhaupt jemals wieder richtig würde laufen können. Und jetzt, gerade mal einen Monat nach diesem komplizierten Außenbandriss nutze sie ihren Fuß ohne irgendwelche erkennbaren Einschränkungen.

Kemal schaffte es, Ria auf den Rücken zu befördern. Reece sah den Kampf für beendet an und trat durch die offene Tür. In eben diesem Moment drehte sie sich um und brachte sich mit einer eleganten Drehung wieder auf die Beine. Dabei schlug sie ihrem Gegner die seinen weg. Einen Augenblick später steckte sie ihr Schwert wieder in die Scheide. „Reece." Sie streckte ihre Hand aus und half Kemal auf die Beine. „Komm hoch, alter Mann."

Kemal ergriff ihre Hand und steckte anschließend ebenfalls sein Schwert weg. „Du weißt ganz genau, dass wir noch lange nicht fertig wären, wenn der Herr Hauptkommissar nicht aufgetaucht wäre." Er schenkte Reece ein leichtes Lächeln. „Sie sind gekommen, um meine Kleine zu holen? Passen Sie gut auf sie auf." 

Reece hielt es für überflüssig zu erwähnen, dass er nicht den Eindruck hatte, dass sie wirklich Schutz benötigte. Die Show eben hatte ihn zutiefst beeindruckt. „Natürlich." Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Bereit? Es gab einen Mord in einem der umliegenden Dörfer. Das ist unser Fall."

Mit einem knappen Nicken löste sie den strengen Knoten, mit dem sie ihre Haare hochgebunden hatte und verschwand in Richtung Dusche.

Reece nutzte ihre Abwesenheit, um Kemal genauer zu befragen. „Sie ist ungewöhnlich schnell wieder auf die Beine gekommen."

Der Araber sah ihn lange und nachdenklich an. „Weiß der Henker, warum Blake Ihnen vertraut. Wir stehen nicht gerade auf derselben Seite. Glauben Sie mir, ich kenne meine Tochter. Wenn Sie sie hintergehen ist mir egal, wer hinter Ihnen steht."

Die Miene des Kommissars verfinsterte sich schlagartig. „Solange sie bei mir ist, wird ihr niemand etwas zuleide tun."

„Sie gehört Ihnen nicht. Denken Sie jedes Mal daran, wenn Sie sie ansehen." Mit einem letzten warnenden Blick verließ Kemal den Raum.

Das war ja aufschlussreich. Mittlerweile war er sich sicher, dass Kemal und wahrscheinlich auch Ria anders waren. Demzufolge musste es auch ihr Freund sein.

„Reece." Voller Tatendrang schlug Ria ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Kommen Sie, gehen wir." Überrascht stellte er fest, dass sie sich wirklich darüber zu freuen schien, mit ihm zu einem Tatort zu fahren. Kopfschüttelnd stieg er in seinen Wagen. Verstand einer dieses Mädchen.

Am Tatort angekommen machte Ria einen völlig unerwarteten, kontextlosen Luftsprung. Offensichtlich hatte sie gute Laune. Sie grüßte jeden der Anwesenden und betrachtete leise summend die Leiche. „Sieht aus, als wäre er zu Tode geprügelt worden", mutmaßte sie.

Die Pathologin musterte erst sie, dann Reece, der ihr seine Marke zeigte eingehend. „Anscheinend wurde der Kehlkopf zerschmettert." Sie sah sich im Raum um. „Aber die Waffe scheint nicht hier zu sein. Für eine Hand ist der Abdruck zu breit, für einen Baseballschläger zu dünn."

„Oh, die Waffe." Ria sprang auf und verließ den Raum. Vermutlich, um sich im Haus umzusehen. Als sie wieder zurück kam hielt sie eine Konstruktion aus zwei miteinander verbundenen Stöcken in der Hand. „Unser Toter war wohl ein Freund der asiatischen Kampfkunst. Das hier soll ein Nunchaku sein. Eine stümperhafte Konstruktion, aber doch unverkennbar. Eine zivile Waffe des 17. Jahrhunderts. Der Hund schien das Ding für ein interessantes Spielzeug zu halten." 

Reece, der sich während ihrer Suche alle Zeugenaussagen angehört und sichergestellt hatte, dass das Opfer ganz alleine war als es starb, musterte die zerkaute Waffe. „Kennst du dich damit aus?"

Leicht beleidigt verzog sie einen Mundwinkel. „Ich würde nicht versuchen wollen damit zu kämpfen, so stümperhaft, wie sie zusammengesetzt wurde. Die Stöcke sind zu kurz und die Kordel zu lang. Oben in seinem Arbeitszimmer habe ich ausgedruckte Anleitungen gefunden."

Er ließ sich von Ria zeigen, was sie meinte. Auf einem großen Holzschreibtisch lagen Zettel, die eine Schritt-für-Schritt-Anweisung darstellten, wie man eine derartige Waffe bauen konnte. Dazu lag hier noch ein Teil des Seils rum, das die beiden Stöcke miteinander verband. „Abgesehen von einem Mord durch Dritte, was denkst du, könnte passiert sein?"

Die Waffe probeweise durch die Luft schwingend antwortete sie: „Selbstmord. Oder besser gesagt: Unfall. Ich halte das Teil für die Waffe. Allerdings musst du das noch von deinen Leuten bestätigen lassen." Vorsichtig legte sie die eigenwillige Konstruktion wieder zusammen. „Hier oben hat er die Waffe gebaut. Ich denke, er ist aus Platzgründen nach unten gegangen und hat versucht, dort den Umgang damit in Eigenregie zu erlernen. Haben Sie den Laptop unten gesehen? Die Spurensicherung müsste ihn mittlerweile mitgenommen haben. Er stand auf Standby. Vermutlich wird er ein Lehrvideo aufgerufen haben." Sie drückte ihm die Waffe in die Hände und zog ihre Handschuhe aus. „Sieh dich um. Ich habe schon viele Verletzungen gesehen, die unaufmerksame Menschen sich im Umgang mit Waffen zugezogen haben, die sie nicht ganz verstanden. Er könnte übermütig geworden sein. Vielleicht sind ja Spuren auf dem Holz, die der Hund noch nicht ab gesabbert hat."

„Wie kommst du auf einen Hund? Hier läuft weit und breit keiner herum."

Überrascht sah sie ihn an. „Ist dir die Leine unten nicht aufgefallen? Geh in die Küche und ins Schlafzimmer. In einem der Räume findest du garantiert Hinweise."

Wieder einmal wunderte Reece sich darüber, wie sie ihre Umgebung wahrnahm. Aber wenn er mit seiner Theorie richtig lag, sollte ihn das eigentlich nicht wundern. „Wir werden dennoch mit einigen Personen reden müssen."

Sie schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. „Du, mein Lieber, nicht ich." Sie warf einen Blick auf ihr neues Handy. Es zeigte ihr eine neu eingegangene SMS an. Nach Hause, sofort. Blake hatte sie schon lange nicht mehr so unfreundlich irgendwohin beordert. Es musste etwas Wichtiges vorgefallen sein. „Ich muss nach Hause." 

Verwundert hob er eine Augenbraue. „Seit wann?"

„Jetzt." Ihre Züge wurden hart. „Ich muss einen Anruf tätigen. Entschuldige mich bitte."

Ungläubig folgte er ihr nach draußen. „Ria. Du arbeitest gerade, du kannst jetzt nicht einfach gehen."

Mit funkelnden Augen drehte sie sich zu ihm um. „Falsch. Ich arbeite so lange, wie du meine Hilfe benötigst. Da das nicht mehr der Fall ist, kann ich tun und lassen was ich will. Und wenn Blake mich braucht, werde ich ganz sicher nicht arbeiten."

„Dein Freund ist stark genug, um sich alleine zu wehren."

Ria glaubte ihren Ohren kaum. „Willst du mich von meinem Freund fern halten?"

Beschwichtigend hob er die Arme. „Nein. Aber ich denke, wir sollten reden."

Ihn mit bösen Blicken strafend drückte sie die Kurzwahltaste. Waren denn alle Männer Idioten? „Blake? Holst du mich bitte ab?" Sie gab die Adresse durch und erhielt die Auskunft, dass in fünf Minuten jemand da sein würde. Um Reece nicht weiter ertragen zu müssen, marschierte sie ihrem Abholdienst entgegen.

„Ein störrisches Mädchen." Sprachlos starrte Reece den Mann an, der unheimlich schmunzelnd neben ihn getreten war. „Was ist mit deinem Zerfall?"

Der Ältere zuckte scheinbar desinteressiert mit den Schultern. „Ich dachte mir, ich lerne das Mädchen einmal kennen, das dabei ist, dir den Kopf zu verdrehen."

„Das tut sie nicht. Willst du mir nicht langsam verraten, warum ich sie bei mir halten soll? Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig."

Verärgert runzelte Juan die Stirn. „Wir sind Freunde. Ich dachte, du tust mir einen Gefallen."

„Genau genommen", sagte Reece gedehnt und steckte seine Hände in die Taschen, „sind wir nicht befreundet. Du warst mit meiner Schwester verheiratet, das ist alles. Ich bin dir nichts schuldig." Er wandte sich ab und verschwand im Haus, um die Frau des Toten noch einmal zu befragen. Juans Erscheinen konnte nichts Gutes bedeuten. Vielleicht sollte er jemanden bitten, ein Auge auf seinen Schwager zu haben. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top