Briefe, Spuren und Flamenco
„Dunn, wir haben eine Spur", aufgeregt stürzte Rita Wegner in das Büro ihres Vorgesetzten.
Überrascht sah Reece von seinen Unterlagen auf. „In welchem Fall?"
„Der mit den Ninja." Triumphierend reichte sie ihm eine Akte. „Es ist uns gelungen, einen ehemaligen Freund Zajcs ausfindig zu machen. Er hat uns verraten, dass Zajc keine nennenswerten Vorstrafen hat, weil er hier einen Decknamen benutzt."
„Hol die anderen, dann brauchst du das alles nicht zweimal zu erzählen", unterbrach er sie ruhig.
Die Kommissarin stürzte raus, um ihre beiden Kollegen von ihren Aufgaben loszueisen. Unterdessen sah Reece sich die Akte genauer an. Wenn der dort aufgeführte Zeitplan tatsächlich mit dem von Zajc übereinstimmte, hatten sie wieder einen Ansatz.
Träge suchte er die Fallakte aus seinem Schrank. Rias Duft haftete noch ganz leicht an ihr. Seit er vor einigen Tagen bei ihr gewesen war, hatte er nichts mehr von ihr gehört. So verstört, wie sie ausgesehen hatte, war es allerdings auch kein Wunder. Dennoch vermisste er ihre stürmische Art, dieses stundenlange Anstarren der Bilder, um dann aufzuspringen, wie wild an der Tafel zu malen und dann festzustellen, dass ihr noch das eine oder andere Puzzleteil fehlte. Und ihre braunen Augen, die so unbeschreiblich hell leuchten konnten, wann immer sie sich auf die Jägerin in sich konzentrierte. Oder ihre Art, einen Tatort wahrzunehmen. Im Laufe der Jahre hatte er angefangen, diese Feinheiten zu vernachlässigen. Er hatte sich so sehr an das Leben unter Menschen gewöhnt, dass er die Welt mittlerweile mehr durch ihre Augen sah, als durch seine eigenen. Ria hatte ihm deutlich vor Augen geführt, wie viel er dadurch übersah. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass sie als Auftragskillerin ausgebildet wurde. Für sie war es essentiell, sich die Umgebung sofort genau einzuprägen.
Sein Mitarbeitertrio schneite herein. Wie immer hatten sie eine Ladung Kaffee dabei. Unwillkürlich zuckten Reeces Mundwinkel nach oben, als er seine Tasse von Lea entgegen nahm. Wann immer sie so die Köpfe zusammensteckten hatte er das Gefühl, mit Freunden ein Rätsel zu lösen. Auch wenn ihr Kontakt sich nur auf das Treffen auf der Arbeit beschränkte. Es erinnerte ihn erneut daran, weshalb er sein altes Leben aufgegeben hatte. Dieses vertraute Miteinander hatte es darin nur sehr selten gegeben. Einige flüchtige, zu vernachlässigende Momente.
Rita zauberte zur Überraschung aller auch noch Kuchen herbei. Mit Kaffee und Apfeltaschen versorgt, wandten sich die vier wieder ihrer Arbeit zu. Da Rita die Informationen ausgegraben hatte, stellte sie sie vor. „Es ist mir gelungen, einen alten Bekannten von Zajc ausfindig zu machen. Dieser hat zwei Namen ausgespuckt, unter denen er gelebt hat. Bei einem sind wir fündig geworden."
Im Laufe der nächsten Stunden verglichen sie Zeitfenster und versuchten alles zu einem großen Bild zusammenzusetzen.
Zajc hatte unter dem Namen Ivan Novak mehrere Vorstrafen. Unter anderem auch wegen schwerer Körperverletzung. Zwei Mal war er wegen Mordes angeklagt gewesen. Allerdings hatten die für eine Verurteilung stichhaltigen Nachweise gefehlt. Diese besagten Todesfälle waren dem Blutbad schon erschreckend ähnlich. Die Kommissare vermuteten, dass er im Gefängnis irgendwie Zeit und Gelegenheit gehabt haben musste, seine Technik oder besser gesagt Vorgehensweise zu verfeinern. Das änderte trotzdem nichts daran, dass der Tatort einem Schlachthaus geglichen hatte - wobei das vermutlich noch eine äußerst schmeichelhafte Beschreibung war.
„Ich gebe eine Fahndung nach Novak raus." Rita schnappte sich Foto und Name und verließ das Büro.
„Sonst noch irgendwelche Spuren, die wir verfolgen können?" Erschöpft fuhr Al sich durch die Haare. Es war ein langer Tag gewesen. Mittlerweile konnten sie zwar Zajcs Spuren quer durch Europa verfolgen, aber das Motiv hatten sie noch immer nicht in Erfahrung bringen können. Wenn sie wenigstens das hätten, könnten sie eventuell Voraussagen darüber treffen, was er als nächsten tun, wohin er gehen würde.
Auch Lea fuhr sich durch die lockigen hellbraunen Haare. „Boss, wir könnten alle Feierabend gebrauchen. Der Kerl ist schon so lange auf der Flucht. Vielleicht fühlt er sich sicher. Wäre nichts Ungewöhnliches, immerhin rennt er seit Wochen frei draußen herum."
In diesem Punkt konnte Reece ihr nur zustimmen. „Wir machen morgen weiter. Vielleicht können wir seinen Zellengenossen ausfindig machen. Der kann uns eventuell mehr verraten."
Lea überredete ihre Kollegen, sie zum Abendessen zu begleiten. So kam es, dass die vier das erste Mal seit Anbeginn ihrer Zusammenarbeit nach Arbeitsschluss gemeinsam essen gingen. Ihr Ziel war ein kleines, lateinamerikanisch angehauchtes Lokal. Ein kleiner Mann mit einem riesigen Sombrero auf dem Kopf spielte munter Gitarre in einer Ecke und einige Kinder versuchten sich auf einer kleinen Tanzfläche im Flamenco.
Alle vier hatten das eigenartige Gefühl, in einer ganz anderen Welt angekommen zu sein. Das war ein Feierabend ganz nach Reeces Geschmack. Entspannt bestellten sie Essen und genossen es in ausgelassener Stimmung.
Weitaus weniger entspannt waren sie jedoch, als sie aufgefordert wurden, sich ebenfalls am Tanzen zu versuchen - Salsa, kein Flamenco. Wie nicht anders zu erwarten, waren die Herren schwieriger zu überreden als die Damen. Weder Reece noch Al hatten eine Vorliebe fürs Tanzen. Und schon gar nicht für lateinamerikanische Tänze. Man konnte auch sagen, dass die beiden einfach kein Rhythmusgefühl besaßen. Dafür, dass diese Ausrede nicht durchging, sorgten die kleinen Kinder. Äußerst hartnäckig versuchten sie, den Erwachsenen die richtigen Schritte beizubringen.
Am Ende des Abends hatten auch die Männer endlich den Dreh raus. Die Ladeninhaber, ein nettes, etwas in die Jahre gekommenes mexikanisches Ehepaar drückten ihnen zum Abschied noch ein Polaroid-Foto ihres Tanzversuchs in die Hand.
„Also", draußen vorm Lokal hakte Lea sich bei Reece und Al unter, „ich finde, ihr habt euch ganz gut geschlagen. Dafür, dass ihr solche Tanzmuffel seid."
„Ja", stimmte Rita ihr ausgelassen zu, „wir sollten häufiger hierhin gehen. Vielleicht lernt ihr dann irgendwann wie man richtig Salsa tanzt."
Al bekam einen solchen Hustenanfall, dass er stehen bleiben musste. Kreidebleich wandte er sich an Reece. „Die wollen uns umbringen."
Der lächelte nur müde. Als Kind hatte er oft mit seiner Schwester getanzt. Aber das war schon sehr viele Jahre her und die Tänze stammten aus einer anderen Zeit.
„Du brauchst gar nicht den Macho heraushängen zu lassen, Al." Empört stieß Lea ihn an. „Tanzen ist keine Schwäche. Frauen stehen auf Männer, die tanzen können. Das ist so etwas wie Allgemeinbildung."
Leidend verzog er seinen Mund. „Es hat mir schon gereicht, den Hochzeitstanz mit meiner Frau lernen zu müssen."
„Reece hat sich da schon nicht ganz so schlecht angestellt."
Alle drei blickten ihren Boss angespannt an. Der jedoch steckte nur die Hände in die Taschen seines Mantels und schlenderte entspannt weiter auf den Parkplatz zu.
Mühelos schloss Rita zu ihm auf. „Hey, Reece. Lea und ich gehen mit unseren Männern regelmäßig abends aus. Hast du Lust mitzukommen?"
„Ja", stimmte Lea ihrer Freundin begeistert zu. „Vielleicht findest du da ja eine nette Frau."
„Reece steht nicht auf reife Frauen", bemerkte Al bitter.
Das hätte er besser nicht gesagt. Reece drehte sich auf dem Absatz um und starrte ihn eisig an. „Nur weil sie mit mir gut auskommt und dich hat abblitzen lassen, bedeutet es noch lange nicht, dass wir eine Affäre haben, hatten oder jemals haben werden. Es gibt Grenzen, Al, und du hast gerade eben eine deutlich überschritten." Er wandte sich wieder zum Gehen. „Wir sehen uns morgen im Büro. Und Rita? Ich nehme dein Angebot gerne an."
Leise verschwand Reece im Schatten der Nacht. Innerlich kochte er. Dass Al Ria wieder zur Sprache bringen musste, hatte seine Laune auf den Tiefpunkt sinken lassen. Er hoffte für ihn, dass er dieses Thema nie wieder anschneiden würde. Vielleicht half es ja wirklich, wenn er mal ausging. Er hatte schon lange nichts anderes mehr getan als arbeiten. Vielleicht traf er ja eine nette Dame, mit der er es ein paar Jahre aushielt, ehe er sie verlassen musste, weil er nicht alterte.
Zuhause angekommen fand er einen Brief unter seiner Haustür durchgeschoben. Mit dem Fuß kickte er die Tür zu und hob nachdenklich den Umschlag auf.
Er war schon auf dem Weg ins Wohnzimmer, als er an der Türschwelle innehielt. Carmen hatte ihm immer wieder Vorträge darüber gehalten, dass er, wollte er nicht immer gründlich putzen, seine Schuhe gefälligst im Flur ausziehen sollte. Seufzend legte er den Brief beiseite und zog Schuhe und Mantel aus.
Mit Kaffee und Brief bewaffnet machte er es sich kurze Zeit später auf seiner Couch bequem. Lässig legte er seine langen Beine auf dem Tisch ab. Er nahm einen tiefen Schluck Kaffee, bevor er vorsichtig den Umschlag öffnete. Dem Brief war ein Foto beigefügt. Das Bild sagte ihm gar nichts. Aber vielleicht würde sich das ja noch ändern.
Als er den Brief entfaltete, fiel ihm ein zweites Foto entgegen. Jetzt fiel ihm auch auf, dass auf der Rückseite der Bilder Namen standen. Richard Grünfeld. Dieter Halbermann. Noch immer wusste er nicht, um wen genau es sich dabei handelte. Er legte die Bilder beiseite und wandte sich wieder dem Schreiben zu. Darin würde sich hoffentlich eine Erklärung finden.
Lieber Reece,
Kemal hat gesagt, dass ich Dir schreiben soll. Anscheinend hast Du mit ihm und Blake die Absprache getroffen, euch gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, was diesen Fall angeht. Anscheinend sind die beiden viel zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern...
Also, Du wirst Dich bestimmt wundern, was die beiden Bilder bedeuten. Nun ja, am besten beginne ich am Anfang. Du erinnerst Dich doch sicherlich an unser letztes Treffen. Ich bin von Deinem Büro aus direkt zur Kampfschule gefahren, um ein wenig zu trainieren. Dort konnte ich beobachten, wie unser verehrter Herr Grünfeld einen der Lehrer zu erstechen versuchte. Dem Verletzten geht es gut, was ich von dem Täter allerdings nicht behaupten kann. Du wirst verstehen, dass wir ihn nicht ausliefern werden. Allerdings hat er uns ein paar Namen ausgespuckt. Es ist Blake gelungen, eine Liste mit Angehörigen des Ninja-Grüppchens in die Hände zu bekommen. Problematisch an diesem Club ist, dass anscheinend auch Jäger daran beteiligt sind.
Solltest Du also bei deinen Ermittlungen auf welche stoßen, wundere Dich bitte nicht.
Das zweite Bild zeigt den Stellvertreter Zajcs. Die beiden erhoffen sich Informationen über dessen Verbleib aus ihm herauszubekommen. Versprechen, dass Du ihn jemals zu Gesicht bekommst, kann ich auch nicht. Vielleicht gelingt es Dir ja, ihn vor den beiden ausfindig zu machen. Wir wissen nur, dass Halbermann sich zurzeit auf der Flucht befindet.
Da Blake nicht sonderlich scharf darauf ist, Dir die Sachen zu überlassen, musst Du Dich also mit dem zufrieden geben, was ich Dir sagen kann. Dazu sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich nur mit den nötigsten Informationen abgespeist werde.
In wenigen Tagen beginnt das neue Schuljahr. Ich habe mich dazu entschieden, meinen Schulabschluss nachzuholen. Nun ja, mein Abitur zu machen. Nach deinem Besuch bei Blake war ich ziemlich durch den Wind. Ich habe viel nachgedacht und mich mit Paps beraten. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht zwischen euch entscheiden muss. Ich werde meinen eigenen Weg gehen und sehen, wohin er mich führt. Zumindest in der Theorie.
In den letzten Tagen sind einige abgefahrene Dinge geschehen. Wenn wir uns wiedersehen, erzähle ich Dir mehr davon. Ich habe Anweisung, mich kurz zu fassen. Ich glaube, dass diese Länge schon zu lang ist.
Nun ja, das sind die neuesten Informationen. Liebe Grüße,
Ria.
Wortlos legte er das Schreiben beiseite. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich jemals wiedersehen würden. Geschweige denn, dass sie sich erneut an ihn wandte.
Er überflog ihre letzten Worte nochmals. Sie hatte recht. Sie war noch zu jung, um sich entscheiden zu müssen. Da war es egal, ob er es sich wünschte oder nicht.
Um sich nicht weiter damit befassen zu müssen, legte er Brief und Bilder beiseite und schaltete den Fernseher ein. Es lief bestimmt irgendein mittelmäßiger Film, den er sich anschauen konnte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top