Antje Dubin
Am nächsten Morgen tat Ria jeder Muskel ihres Körpers weh. Blake hatte ihr einen ziemlich tiefen Eindruck in die Welt des Kamasutras verschafft. Am Frühstückstisch erwartete er sie bereits mit einem spitzbübischen Grinsen. Sie war alles andere als froh, ihm so früh schon zu begegnen. Missmutig griff sie nach einem Brötchen und einem Messer. Sie wollte gerade ein Stück Butter erdolchen, da machte er zu allem Überfluss auch noch den Mund auf. „Eine erholsame Nacht gehabt?" Er wich dem Küchenmesser um Haaresbreite aus.
Finster schnappte sie sich sein Marmeladenbrötchen. Selbst schuld, wenn er meinte, Zielscheibe für ihr Messer spielen zu müssen. Sollte er das Teil doch selbst aus dem Fensterholz entfernen. „Du bist schuld, wenn ich meinen Auftrag nicht beenden kann."
Blakes Mundwinkel zuckten. Sie würde wieder werden, den Schrecken des Rituals überwinden und ihren Platz an seiner Seite einnehmen. „Du reist erst in drei Stunden ab. Bis du da bist, geht es dir wieder besser. Wenn nicht, wirst du deinen Auftrag eben um einen Tag verschieben müssen."
Ria verspeiste das Brötchen und schickte sich dann an, ihre sieben Sachen zu packen. Cora wartete schon ungeduldig maunzend im Wohnzimmer auf sie. Sie verlangte nach ihrem Futter. Während ihre kleine Katze fraß, hockte sie mit angezogenen Knien an die Wand gelehnt neben ihr. Das leise, gleichmäßige Fressgeräusch übte eine ungemein beruhigende Wirkung auf sie aus. Um nichts auf der Welt würde sie ihren kleinen Schatz verraten. Irgendwann würde es ihr bestimmt gelingen, Blakes Klauen zu entkommen. Dann konnten sie beide irgendwo neu anfangen. Durch die ganzen Aufträge hatte sie genug Geld zur Seite legen können, um sich eine kleine Wohnung kaufen zu können. Sie könnte einen Aushilfsjob annehmen, ihren Schulabschluss nachholen und Medizin studieren. Kurz gesagt: einfach das tun, was sie wirklich tun wollte. Dazu brauchte sie allerdings erst einmal einen Ort, an dem sie neu anfangen konnte. Einen Ort, der nicht vorbelastet war. Einen, mit dem sie keinerlei Erinnerungen verband. Aber das war noch nicht alles. Selbst wenn es ihr gelänge einen solchen Ort zu finden und Blake zu entkommen, stünde sie noch immer vor ihrem größten Problem: ihre Mitmenschen. Sie konnte nicht mit anderen. Kanon war ihre einzige wahre Freundin gewesen. Trauer keimte in ihr auf. Noch immer fiel es ihr schwer zu verstehen, wie das bloß hatte passieren können. Und dabei lag das ganze schon ein Jahrzehnt zurück. In der Nacht nach dem plötzlichen Tod ihrer einzigen Freundin hatte sie sich fest vorgenommen, sich nie wieder mit jemandem anzufreunden. Nähe bedeutete schmerzhaften Verlust und schmerzhafter Verlust bedeutete Verzweiflung. Niemals wieder wollte sie sich so fühlen. Niemals.
Cora, die sich schnurrend zwischen ihren Beinen hindurch schlängelte, riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Blick ruhte auf dem zierlichen schwarzen Katzenkörper – und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass die Festungsmauer, die sie um ihr Herz gezogen hatte, bereits Risse bekam. Diese Erkenntnis verschreckte sie dermaßen, dass sie nach Luft schnappend aufsprang und die Flucht ergriff.
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Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihre Waffen sauber waren und einwandfrei funktionierten, legte sie ihren Pistolengürtel an. Die Messer verbarg sie in ihren schwarzen Stiefeln. Bei dem langen Rock, den sie trug würden die dort niemandem auffallen. Beinahe wehmütig ließ sie ihr Schwert auf seinem Podest stehen. Beim nächsten Auftrag würde sie garantiert wieder darauf zurückgreifen können. In untypisch bedrückter Stimmung machte sie sich auf den Weg. Vielleicht war ein Urlaub ja genau das, was sie brauchte.
Blake begleitete sie noch bis zum Bahnhof. Erst als sie sicher im Zug saß, verschwand er spurlos in der Menge. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn schon jetzt vermisste. Das ist doch absurd, schalt sie sich innerlich. Der Kerl vergreift sich an dir und du bist auch noch so blöd und lässt dich auf ihn ein. Gefühle sind hier wirklich fehl am Platze. Das war nicht sie. Und er war ganz sicher nicht der Typ Mann, der ihr guttat. Den gab es nämlich überhaupt nicht. Alleine war sie besser dran. Cora und sie gegen den Rest der Welt. Das klang in ihren Ohren wie ein Paradies. Gemeinsam waren sie nicht zu stoppen.
Ein gellender Pfiff ertönte, dann setzte der Zug sich langsam in Bewegung. Immer schneller begann die Landschaft an ihr vorbei zu ziehen. Aus Hochhäusern wurden Häuser, aus Häusern Landstriche und aus Landstrichen Wälder.
Während der vierstündigen Zugfahrt prägte sie sich den Stadtplan von Brüssel ein. Es war das erste Mal, dass sie in diese Stadt fuhr. Am liebsten hätte sie noch Zeit für einen Stadtbummel eingeplant, aber Blakes Anweisungen waren sehr deutlich gewesen: nicht länger als nötig im Zielgebiet verweilen. In diesem Falle Belgien. Ob es in Belgien einen Ort gab, an dem sie neu anfangen konnte?
Schon als sie die eigenartige Stimmung in dieser Stadt wahrnahm wusste sie, dass dieses Land, oder zumindest diese Stadt, ein Klima verbreitete, das ihr nicht zusagte. Sie konnte sich mit Vielem arrangieren, aber das hier war einfach nicht ihre Welt. Außerdem gab es hier schrecklich viele Politiker. Früher oder später würde einer von Blakes Leuten einen Auftrag bekommen, der ihn oder sie herbrachte. Und wenn sie dem- oder derjenigen dann über den Weg lief... Er würde sie umbringen. Allein der Versuch, seinem Einfluss zu entkommen wurde mit dem Tode geahndet. Wie hatte sie bloß so dumm sein können, sich auf ihn einzulassen? Missmutig stapfte sie weiter zum ihrem Observationspunkt.
Sie hatte unverschämtes Glück. Nach nur drei Stunden verließ Antje Dubin ihre Wohnung. Ria hatte schon viel gesehen und erlebt, aber der Anblick der Zielperson versetzte sie kurzzeitig in Erstaunen. Diese Frau war nicht nur massig, sie platzte ja geradezu aus ihrem Kostüm. An ihrer Stelle hätte Ria den Schneider verklagt. Das war doch reine Körperverletzung. Und wenn die Frau es schon nicht als solche wahrnahm, dann auf jeden Fall alle, die sie ansehen mussten.
Die Frau blieb stehen. „Ich weiß, dass du da bist, Killer", rief sie in gebrochenem Englisch. „Ja, du bist da. Irgendwo wartest du darauf, mich umzubringen, aber ich werde es dir nicht leicht machen."
Ria seufzte. Ihre Zielperson schien das regelmäßig abzuziehen, denn die Worte klangen nach einer von unzähligen Wiederholungen. „Erst mein Freund in Dublin, dann der in Kopenhagen und jetzt bin ich an der Reihe, nicht wahr?" Sie zog ein kurzes Messer und fuchtelte damit wie wild um sich herum.
„Wenn Sie schon meinen zu wissen, dass ich da bin, sollten Sie wenigstens in meine Richtung fuchteln. Vielleicht hält mich das ja davon ab, Sie hier und jetzt umzulegen."
Ria fielen fast die Augen aus dem Kopf. Da tauchte doch tatsächlich ein Ninja auf. Was war das denn? Fasching? Verärgert griff sie nach ihrem Messer. Immer diese Wichtigtuer. Der würde ihr den Auftrag ganz sicher nicht vermiesen.
Unterdessen war die dicke Frau schockiert herumgefahren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Ninja an.
Im Schutze der Schatten schlich Ria sich an Dubin heran. Sie sah etwas Metallisches im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung aufblitzen und handelte ohne zu zögern. Der Ninja hatte keine Chance. Mit einem gezielten Wurf landete ihr Messer in seiner Kehle. Gurgelnd sank er zu Boden.
Erneut wirbelte die Frau herum. Jetzt drohte sie Ria mit dem Messerchen. Diese hätte fast die Augen verdreht. Das war ja so gut wie stumpf. „Mit Ihrem Zahnstocher können Sie mir nichts antun", informierte sie die Frau freundlich.
Diese schien ihren Mut zusammenzuraufen und wollte sich auf sie stürzen. Im Nu stand Ria hinter ihr, die Pistole abschussbereit an ihren Hinterkopf gedrückt. „Wer ist hinter Ihnen her?" Wenn jemand ihrer Arbeit in die Quere kam, musste sie denjenigen ausschalten, bevor er noch zur Gefahr für sie wurde.
„Ich weiß es nicht. Meine Kontakte in Europa sind alle ausgeschaltet worden. Das Übelste war das Massaker in einer deutschen Stadt." Die Stimme der Frau glich einem zittrigen Kreischen. „Das ist alles, was ich weiß. Ich schwöre es."
Ria trat einen Schritt zurück und jagte der Frau ihre Kugel durch den Kopf. Während sie mit ihrem zweiten Messer das Projektil aus der gegenüberliegenden Wand kratzte ärgerte sie sich, dass sie die Killerwitzfigur umgebracht hatte. Vermutlich wäre aus dem mehr herauszuholen gewesen.
Nachdem sie jedwedes belastende Material beiseite geschafft und das verschwendete Messer eingesammelt hatte, verschwand sie in den Tiefen der Nacht.
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Ein Sausen erklang, dann schlug etwas in die Wand neben Blakes Kopf ein. „Willkommen zurück, Ria", begrüßte er sie ungerührt.
„Das Bild. Wer war noch auf sie angesetzt?"
Alarmiert betrachtete er das Foto, das sie mit ihrem Messer an seinen schönen Holzbalken geheftet hatte. Es war die gleiche Zielperson wie ihre. „Vielleicht hat sie viele Feinde."
„Blödsinn." Sie angelte sich seine Tasse und leerte seinen Kaffee in einem Zug.
Mit hochgezogener Augenbraue musterte er sie. „Seit wann trinkst du denn Kaffee?"
„Seit ich bei diesem Auftrag beinahe draufgegangen wäre", zischte sie ungehalten. „Die Frau wusste, dass sie verfolgt wird. Sie meinte, dass ein Massaker, das hier vor einigen Wochen angeblich stattgefunden hat, eigentlich ein Anschlag auf ihren Kontaktmann war. Ihre gesamten Kontakte seien ausgelöscht worden! Und dann noch dieses alberne Ninja-Kostüm! Welcher Auftragskiller arbeitet denn bitte in einem so lächerlichen Kostüm? Abgesehen von Spiderman, der kurz nach seiner Verwandlung im Karnevalsaufzug im Ring stand."
Blakes Mundwinkel zuckten. Lange hatte er nicht mehr richtig gelacht, aber ihre aufgebrachte Art und die Vorstellung, jemand im Ninja-Kostüm könne sich ihr in die Quere stellen brachten ihn zum Lachen. Rias zweites Messer landete über dem ersten. „Freut mich, dass du Spaß hast."
Schlagartig wurde er wieder ernst. „Ich werde die anderen informieren, dass sie aufpassen sollen. Sollte das der einzige Vorfall bleiben, war das ein blöder Zufall. Wenn nicht, müsst ihr auf der Hut sein."
Schulterzuckend verschwand sie wieder aus seinem Büro. Während sie sich auf die Suche nach Cora machte, überkam sie das Gefühl, dass es nicht das letzte Mal gewesen war, dass sie diesen Ninja gesehen hatte.
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