Adieu, staubige Fälle

Kemal klopfte an. „Dein Besuch ist jetzt da. Versuch ihn ein wenig netter zu begrüßen, als mich vorhin, Süße." Mit einem breiten Grinsen im Gesicht ließ er den Beamten vor der Tür stehen.

Der atmete einmal tief durch und trat anschließend ins Zimmer. Ria lag in einem großen, auf einem kleinen Podest stehenden Bett, in dem gut und gerne vier Personen hätten schlafen können. Der weiße, undurchsichtige Bettvorhang war zurück gebunden worden, sodass sie alles im Raum im Blick hatte. Die gegenüberliegende Wand wurde von einem großen Kleiderschrank in Beschlag genommen. „Die meisten Dinge gehören Blake."

Überrascht wandte er den Kopf. Ria starrte ihn frustriert an. „Sie sind hier, um mich zu fragen, was passiert ist?"

Während er nickte fragte er sich, ob ihre Augen schon immer einen so hellen Braunton gehabt hatten. Im gedämpften Tageslicht wirkten sie fast gespenstisch orange. „Ja. Ich nehme an, mit Blake meinst du deinen Freund?" Sie nickte. „Er konnte mir nicht viel sagen. Ich brauche deine Aussage, damit die Kollegen ermitteln können."

„Paps!" Reece zuckte zusammen, als sie so plötzlich rief. „Ja", erklärte sie kurz angebunden, weil sie einen verdutzten Blick bemerkte, „mein Vater ist wirklich tot. Kemal hat mich aufgezogen."

Und eben dieser steckte den Kopf herein. „Man könnte meinen, du wolltest das Haus zum Einstürzen bringen. Du brauchst nicht so zu brüllen." Immerhin hatte er ihr extra ein Babyphon gekauft.

Nachdem Ria ihn mit Blicken geradewegs in die Hölle geschickt hatte, bat sie ihn um etwas zu trinken. Innerlich atmete Kemal erleichtert auf. Dass sie sich wieder aufregen konnte bedeutete, dass sie sich eindeutig auf dem Weg der Besserung befand.

„Also", begann Ria zögerlich, sobald Kemal die Tür hinter sich geschlossen und Reece sich ans Bettende gesetzt hatte. „Wie Sie wahrscheinlich wissen, bin ich spontan ans Meer gefahren. Als ich am Haus meiner Bekannten ankam, sah ich die Leichen vorne im Garten und bin weggerannt. Für meine Reise hat Blake mir extra ein Handy geholt. Er wollte, dass ich ihn anrufe, wenn ich Probleme haben sollte oder abgeholt werden wollte." Sie holte tief Luft. Es fiel ihr nicht leicht, Reece anzulügen. Aus irgendeinem Grund mochte sie ihn. „Auf meiner Flucht bin ich angeschossen worden. Ich weiß weder woher, noch von wem. Ich schaffte es, mich zu retten und wählte den Notruf. Ich meldete das Feuer, das mittlerweile aus dem Haus hochschlug. Dann sah ich zwei Streifenpolizisten und hörte, wie sie über ein Massaker in einem Haus sprachen, dass anscheinend vorbei zu sein schien. Da bekam ich es mit der Angst zu tun und rannte zum Bahnhof. Wie Sie wissen, bin ich mit dem Schwertkampf vertraut. Ich schaffte es also ohne Weiteres, meine Blutung mit einem Druckverband zum Stoppen zu bringen. Meine Sachen waren mittlerweile mit Blut durchtränkt. Ich hatte Angst, noch mehr korrupten Polizisten zu begegnen. Also warf ich meine Kleider in den nächstbesten Müllsack und zog meine Wechselsachen an. Ich wollte ja eigentlich ein paar Tage Urlaub machen." Sie nahm einen tiefen Schluck Wasser. „Ich fuhr nach Hause. Im Zug bemerkte niemand etwas von meiner Verletzung. Wieder in der Stadt nahm ich den Bus. Auf dem Weg von der Bushaltestelle hierher bin ich gestolpert. Ich weiß nur noch, dass ich mich ins Badezimmer schleppen wollte, um meine wieder aufgeplatzte Wunde zu versorgen. Dann bin ich im Krankenhaus wieder zu mir gekommen." Geistesabwesend starrte sie auf die Bettdecke.

„Kannst du wenigstens die Polizisten beschreiben?", fragte Reece vorsichtig. Dieses Mädchen hatte ohne mit der Wimper zu zucken Bilder von grausigen Morden betrachtet, aber dass sie nun selbst in eine solche Situation geraten war, schien sie zu verstören.

Mit gespieltem Bedauern schüttelte sie ihren Kopf. „Nein und ich kann mich auch nicht erinnern, wo ich angeschossen wurde. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wann und wo ich mein Handy verloren habe. Es war sowieso nur Prepaid. Ich bekomme bald ein neues." Verärgert verzog sie ihren Mund. „Weil mein Freund der Meinung ist, jeder bräuchte ein Handy."

Reece erhob sich. „Danke für deine Aussage. Ich werde sie an meine Kollegen weiterleiten. Wenn du fit genug bist, kannst du gerne wieder vorbeischauen. Ich habe noch ein paar weitere Fälle bekommen, die gelöst werden müssen."

Ungläubig musterte sie ihn. „Ich dachte, ich bin Expertin für exotische Mordwaffen und nicht zuständig für die Rekonstruktion von Mordvorgängen."

Dünn lächelte er sie an. „Weißt du, Ria, bevor ich bei der hiesigen Kriminalpolizei anfing, war ich als Profiler bei Interpol tätig. Ich hätte dich gerne im Team, weil ich denke, dass du gut darin bist, dich in die Köpfe der Mörder zu denken."

Wie sollte sie ihm bloß erklären, dass sie das gar nicht tat? Dass sie selbst einige der Morde verübt hatte, an denen er arbeitete? „Sobald ich nicht mehr dazu tendiere jeden, der durch diese Tür kommt, frustriert mit meinen Krücken abzuwerfen, sehe ich gerne bei Ihnen vorbei."

„Machst du sonst viel Sport?", erkundigte er sich höflich.

Abwägend neigte sie den Kopf von links nach rechts. „Das hier ist eine Kampfsportschule. Manchmal nutze ich die Tatsache aus, dass mein Freund der Chef hier ist und trainiere mit. Aber ich kann nicht behaupten, dass Karate oder Boxen besonders nette Sportarten sind. Und bei den anderen habe ich noch nie lange reingeschaut."

Mit einem höflichen Nicken verabschiedete der Kriminalbeamte sich von ihr und ließ sich von Rias Ziehvater nach draußen führen. Leise lächelnd verließ er das Gelände. Mittlerweile konnte er nur zu gut nachvollziehen, was Al an ihr fand. Es war die Mischung an Kontrasten, die sie so facettenreich und interessant machte. Unschuld und das Wissen über Grausamkeiten, Hilflosigkeit und Stärke. Ria spielte kein Spiel. Sie war einfach nur sie selbst. Am liebsten unnahbar und geheimnisvoll. Und das war sie bei Gott. Vielleicht gelang es ihm ja das eine oder andere ihrer Geheimnisse zu lüften, wenn sie mit ihm zusammen arbeitete. Er hatte zwar ein Team, aber im Grunde genommen arbeiteten sie alle für sich. Es sei denn, es gab einen größeren Fall zu lösen, wie den der Ninja und Dubin.

In den letzten Tagen war es ihnen gelungen, einen neuen Durchbruch zu erzielen. Von Zajc fehlte zwar weiterhin jede Spur, dennoch hatten sie es geschafft eine Verbindung zwischen dem Massaker und dem Mord an Dubin herzustellen. Einer der Ninja konnte als Zajcs aktenkundiger Freund Kobe Pegues identifiziert werden. Da über dessen finstere Machenschaften nicht allzu viel bekannt war, versuchten sie nun herauszufinden, ob der Ninja, der hier in der Stadt gefunden worden war, auch zu Zajcs Bande gehörte. Wenn ja, konnte er den Fall getrost dem organisierten Verbrechen überlassen und sich wieder seinen staubigen Fällen widmen.

Sein Handy klingelte. „Hauptkommissar Dunn? Es gab einen erneuten Ninja-Mord. Dieses Mal hat es eine Zivilistin getroffen. Zeugen sahen einen Ninja verschwinden."

Resignierend ließ er sich in den Fahrersitz seines Wagens sinken. Es war ein älteres Modell von VW, das ihm seit Jahren gute Dienste leistete. „Dann ist das nicht mein Fall, sondern ein aktueller. Sagen Sie der Staatsanwältin, dass sie mich gefälligst nicht mehr zu aktuellen Tatorten beordern soll. Das ist nicht mein Aufgabengebiet."

Kommissarin Lensing schnaubte. „Die Staatsanwältin erwartet Sie in ihrem Büro. Anscheinend werden wir unsere Schreibtische wieder häufiger verlassen."

Fluchend wendete Reece seinen Wagen und fuhr zum Büro der Staatsanwaltschaft. 


Die von Kemal angekündigte Kopfwäsche durch Blake bekam sie tatsächlich. Sie war noch nicht ganz wieder bei Atem, da fing er auch schon an. Vielleicht hätte sie nicht mit dem Betttraining – bestehend aus behelfsmäßigen Muskelaufbauübungen – aufhören sollen, dann hätte sie sich das jetzt ersparen können. „Warum bist du mitten in das Treffen hineinspaziert?"

Überrascht stütze sie sich auf den Ellenbogen auf. „Wie meinst du das?"

„Du hast mir ein Foto vorenthalten, Ria. Dein Auftrag lautete, den Kopf der Bande auszuschalten und die Akten zu besorgen." Mit seinen finsteren Blicken nagelte er sie geradezu an die Matratze. „Du hast die ganze Führungsetage ausgeschaltet. Ich dachte zuerst, das seien die Wachen, aber mittlerweile sind die Leichen identifiziert. Warum bist du da alleine rein? Das war lebensmüde. Selbst bei Fähigkeiten wie deinen. Du kannst von Glück reden, dass du nur mit einer Schussverletzung davongekommen bist."

Verärgert stieß sie ihn zurück. „Du bist ja lustig. Wer ist denn vielleicht schuld daran, dass ich so miese Laune hatte? Du machst doch keinen Hehl daraus, dass wir nicht besser als Schachfiguren sind! Das weiß jeder von uns!"

Nicht minder sauer fing er ihre Handgelenke ein. „Du bist kein Bauernopfer, Ria! Kemal und ich haben dich nicht ausgebildet, damit du aus reiner Launenhaftigkeit heraus Selbstmord begehst. Kemal, du und noch zwei andere – ihr vier seid meine besten Leute. Ich kann nicht riskieren euch zu verlieren. Dein Handeln wird Konsequenzen haben."

Seine Drohung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Du tust doch eh, was du willst", entgegnete sie bitter. Resignierend verkroch sie sich unter ihrer Decke. Solange ihr Fuß noch gefesselt war, konnte sie eh nichts gegen ihn ausrichten. 

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