sechsundvierzigster Brief: Wieso?
"Mein lieber zukünftiger Ehemann,
Lieber Unbekannter,
alles wirkt immer noch so irreal. Wie konnte das überhaupt geschehen? Dieser Wahnsinnige, jahrelang hatte ich ihn nicht einmal gesehen und nun ist er noch hier! Ich weiß nicht, wer er ist, aber innerlich brodele ich schon seit Stunden vor Wut. Wie kann ein Mensch nur so herzlos sein wie er? Ist so eine innerliche Kälte überhaupt möglich?
Ich hasse ihn! Ich hasse ihn so sehr! Wieso nur muss er überall mit seiner gottverdammten Kutsche aufkreuzen, wo ich gerade bin? Reicht es ihm nicht, mein Leben zerstört zu haben? Kann er mich verflucht noch einmal nicht in verfluchter Ruhe lassen? Ich hasse ihn! Verdammt, ich hasse ihn!
Niemals habe ich diesen erbärmlichen Jungen gemocht. Es war der größte Fehler der Welt, ihn zu retten. Aber was hätte ich auch tun sollen? Theodor ist meinetwegen ein Plagebalg, aber ich hätte ihm niemals den Tod gewünscht! Ich hätte nie im Leben für die Behandlungskosten aufkommen dürfen, was würden die Leute bloß von mir halten, wenn sie das erfahren! Doch alles ist, wie es ist. Leider.
Lilly versteht es ebenso wenig wie ich. Es ist vollkommen unlogisch. Ich bin eine Fremde für die Fosters, nicht mehr und nicht weniger. Welche schlechte Absicht habe ich wohl? Das habe ich mich selbst gefragt, ja, sogar danach gesucht, aber ich finde nichts. Dabei würde es alles viel einfacher machen. Ich würde wie immer Lilly Foster ärgern und sie würde wie immer aus gutem Grund wütend auf mich sein. Ich mag die alte Ordnung und würde es wirklich gerne dabei belassen.
Wieso? Diese Frage hatte auch sie gestellt. Ich habe selbst so lange darüber nachgedacht. Es gab keinen wirklichen Grund. Vielleicht erinnerte er mich in diesem Moment an Eleonore, die niemand gerettet hatte, vielleicht war ich aber auch zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und es hat sich einfach ergeben. Vielleicht trieb mich auch nur der Hass auf diesen Wahnsinnigen dazu, ihm zu helfen. Wer weiß; ich weiß es selbst nicht.
Und dann starrte sie mich an, als wäre ich ein Monster. Als hätte ich ein Verbrechen begangen. Es war wirklich skurril - dafür, dass ich meinen Ruf für ihre Familie riskiert habe und noch ziemlich viel Geld verliere, verurteilt sie mich. Es war aber auch ein schrecklicher Fehler gewesen, das weiß ich selbst.
"Miss Sky, egal, was Sie auch vorhaben mögen, ich würde Ihnen dringend davon abraten." Das war das Zweite, was sie mir mitteilte.
"Miss Foster, falls Sie einen hinterhältigen Plan zu meinen Gunsten vorzuschlagen haben, würde ich mich sehr darüber freuen. Ich habe leider noch keinen gefunden, bin aber immer offen für Vorschläge", antwortete ich ihr mehr oder weniger sarkastisch.
Verblüfft starrte sie mich an. Dieser Gesichtsausdruck war schon fast so lustig, dass ich beinahe lächelte. Und ja, fast und beinahe sollte in diesem Satz bestehen bleiben, da ihre absolute Dummheit mich zu ewigem Ernst in diesem Gespräch verpflichtete.
"Weshalb sollten Sie jemals Theodor helfen, wenn Sie nichts Konkretes vorhaben?"
"Das ist die Frage, meine liebe Miss Foster. Falls Sie eine Antwort darauf haben, lassen Sie es mich wissen."
"Das war aber jetzt ironisch, oder?"
Ich verdrehte genervt die Augen. "Das war sarkastisch, Sie Dussel!"
"Ja, ja, was interessiert es mich. Dad wird auf jeden Fall nicht sehr glücklich sein."
"Ich weiß, deshalb sollten Sie ihm lieber nicht erzählen, dass ich diesen verdorbenen Bengel hierher gezerrt habe. Es wird ihn sicher mehr erfreuen, wenn er erfährt, dass Cavendish ihn gefunden hat und keine Kosten für die Behandlung berechnet."
Wieder musterte sie mich mit diesem argwöhnischen und hasserfüllten Blick. "Weshalb?"
"Ihr Vater wird niemals eine Behandlung von Theodor auf meine Kosten billigen. Eher würde er Ihren Bruder sterben lassen, nicht wahr? Und wie ich Ihre Familie kenne, würden Sie nie im Leben so viel Geld auftreiben. Zudem würde er sich vermutlich dieselben Frage stellen wie Sie, und zwar wieso ich das getan habe. Nur leider finde ich darauf keine plausible Antwort und Unwissen ist nicht gerade ladylike."
"Sie sind wirklich seltsam, Elisabeth."
Sie nannte mich tatsächlich bei meinem Vornamen, allerdings fiel mir das erst nach einigen Sekunden auf, weshalb eine Reaktion zu peinlich wäre. Vermutlich war es keine Absicht, dennoch störte es mich. Ich konnte sie immerhin nicht leiden.
Als ich nicht auf sie reagierte, meinte sie noch: "Trotzdem vielen Dank." und ging.
War es wirklich falsch?
Deine
Elisabeth"
Gedankenverloren legte sie die Feder beiseite und blickte aus dem Fenster. Hass war das stärkste Gefühl in ihrem Inneren. Hass auf diesen Fremden, der beinahe ein zweites Mal, vielleicht auch öfter, getötet hatte. Hass auf Lilly, die sie nicht verstand. Hass auf ihren Verlobten, dessen Herz aus Stein zu sein schien. Doch der größte Hass war gegen sich selbst gerichtet. Sie hasste sich dafür, keine Antworten zu haben und das getan zu haben, was für viele selbstverständlich war, aber nicht für ihre eigene Familie. Die Grenzen zwischen falsch und richtig verschwammen. War es wirklich falsch für sie?
Denn manchmal ist falsch nicht falsch, weil das Richtige genauso falsch ist---
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top