neuntes Kapitel: tiefgehende Gespräche
"Mein lieber zukünftiger Ehemann,
lieber Unbekannter,
gibt es niemanden, den ich mag? Spontan fallen mir leider nur Verstorbene ein, von denen die meisten einfach keine Zeit hatten, mich zu enttäuschen. Nicht eine Woche kann ich in einer Kleinstadt verbringen, ohne mir Feinde anzuhäufen!
Neun Tage. Nur neun Tage in dieser Stadt und schon läuft alles schief. Aber eigentlich dürfte ich mich nicht beschweren, schließlich habe ich das erreicht, was ich immer wollte, nämlich dass sich etwas grundlegend ändert. Es hat sich alles geändert, ich erhalte nun Hass statt Ignoranz, immerhin besser als nichts.
Mister Alden versucht offenbar immer noch seine Schuld zu begleichen, doch eigentlich sollte er sich bei seiner unauffindbaren Frau entschuldigen.
In der Schule läuft es jedoch von Tag zu Tag besser. Die Schüler sind ruhig, arbeiten mit, manchmal sind sogar nur drei Ecken besetzt. Selbst Theodor lernt sich zu benehmen. Von fehlender Autorität kann man bei mir wenigstens nicht reden, auch wenn ich nur Blicke voller Zorn von den Reihen der Schüler erhalte.
James hingegen ist nach wie vor unmöglich. Nachdem ich, sehr zu meinem Widerwillen, heute einkaufen musste, da die brauchbaren Lebensmittel sehr knapp geworden waren und ich nicht in der Lage bin zu kochen, musste ich leider in den Laden. Mr. Alden begrüßte mich mit seinem schuldbewussten Benehmen, welches ich jedoch geflissentlich ignorierte und ich suchte mir zusammen was ich brauchte.
"Die Teller stehen normalerweise schräg hinter den Tassen", einen Kommentar konnte ich mir nicht verkneifen. Lucy würde es nicht sehr schätzen, wenn nicht alles seine Ordnung hätte. Lucy mag keine Unordnung, ebenso wenig wie ich.
"Alles in seiner perfekten Ordnung. So wie Mutter. Ein Glück, dass sie nun verschwunden ist", James ist solch ein unhöflicher Mensch! Ich hätte ihm so viel an den Kopf werfen können, doch ich tat es nicht. Mit Schimpfwörtern konnte man niemals viel ändern. Nicht bei ihm, und auch nicht bei anderen.
"Werden Sie Ihre Mutter etwa nicht vermissen? Schon tragisch, wenn sie einer Fremden mehr am Herzen liegt als ihrem eigenen Sohn", harte Worte, doch ich hoffte auf eine alles abstreitende Erklärung. Eine Erklärung, dass ich alles falsch verstanden habe und nichts so gemeint sei, wie er es sagte. Doch bei manchen Menschen konnte lange hoffen und doch niemals eine echte Antwort erhalten.
"Natürlich vermisse ich sie nicht. Sie würde mich auch nicht vermissen. Soll sie doch sterben. Es ist auch wieder egal", meinen Zorn auf ihn in diesem Moment kann man nicht in Worten ausdrücken. So war es auch kein Wunder, dass meine Hand ausrutschte und ich kann nur eins dazu sagen; ich bereue es nicht im Geringsten.
Sein fassungsloser Blick traf meine zornigen Augen. Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, fiel ihm nicht augenblicklich etwas ein, womit er die Ruhe unterbrechen konnte und wieder jemanden enttäuschen. Ich wollte nicht, dass er wieder in seine Gleichgültigkeit fiel, welche ihm viele schmerzhaften Worte gegenüber anderen ermöglichte.
"Sie sollten niemals, ich meine niemals, jemandem den Tod wünschen. Erst recht nicht, wenn es jemand aus der Familie ist."
"Als ob Sie nicht schon mehrmals in ihrem Leben jemandem den Tod gewünscht haben. So wie Sie sind, mindestens hundert Male. Wieso sollte ich es nicht?", seine unverschämten Worte waren kalt wie Eis. Nein, kälter als Eis, doch spitz wie kleine Holzsplitter.
"Zweimal in meinem Leben, um genau zu sein. Nicht hundertmal. Und ich bereue es. Wünschen Sie es sich wirklich, dass ihre Mutter stirbt? Wünschen Sie es aus ihrem ganzen Herzen? Wenn ja, dann sind Sie der schlimmste Menschen, welchem ich jemals begegnen musste. Wenn nein, dann sollten Sie sich mehr überlegen, was sie sagen oder gar denken. Welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Denn mit Ihren Worten sind Sie einfach nur jämmerlich."
Jämmerlich. Wie viel mehr habe ich im Kopf gedacht, doch nicht gesagt. Jämmerlich traf jedoch alles auf den Punkt. Ich muss mich einfach zusammenreißen, auch wenn mir nach den schlimmsten Worten der Erde zumute war. Nein, mit Mr. Foster konnte ich schimpfen, schreien und mich wie eine Furie aufführen, doch bei James kam man nur mit einfachen, bitteren Worten weiter.
Wie konnte er aber auch immer auf mich zurückkommen? Hielt er mich etwa für so ein Monster? Als würde ich jedem den Tod wünschen. Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Nicht einmal er war es wert, zu sterben. Meine Wünsche damals brachten sie auch nicht zurück und würden es nie tun. Meine Wünsche waren nur vergangene Hoffnung auf Rache, welche mich jedoch niemals weitergebracht hätte. Schmerz, welcher umsonst alte Wunden aufriss.
"Ich verbiete es Ihnen, so mit mir zu reden. Ich bin auch kein kleiner Schüler, den man einfach schlagen kann. Ich lasse mir nichts befehlen", nun sprach genauso viel Zorn aus seiner Stimme wie aus meiner.
Kein Schüler, damit hatte er wenigstens recht. Meine Schüler lernten mehr, als er es in seiner sturen Art jemals tun würde. Und trotz allem, was ich an schlechten Dingen bei ihnen sah, sah ich niemals einen Zorn so aus dem nichts aufsteigen.
"Ich befehle Ihnen nichts. Sollen Sie selbst darüber nachdenken. Vielleicht werden Sie eines Tages Ihre Worte von alleine bereuen. Und wie ich Sie behandele, geht Sie nichts an. Ich erweise nur denjenigen Respekt, die es auch verdienen. Zu welcher Sorte Sie demnach gehören, können Sie selbst herausfinden", ich lies den schockierten James stehen und zahlte, kurz bevor ich mit lautem Schritt aus dem Laden verschwand.
Manchmal frage ich mich, wie man so viel sagen kann, ohne auch nur über die Bedeutung nachzudenken. Wie man Worte nutzen konnte, nur um seinen Hohn über die Menschen auszudrücken. Ich weiß nicht, was er alles von mir hält, aber ich halte von ihm das schlechteste, was vermutlich auch lange so bleiben wird.
Ich hoffe wirklich, dass Lucy bald wiederkommt. Ich hoffe es mit meinem ganzen Herzen.
Heute Abend ist noch das Date mit Cavendish auszustehen, so wie kurz danach die Schulratsversammlung. Vielleicht werden mich alle wieder absetzen, vielleicht auch nicht. Ich tendiere zu der ersten Möglichkeit.
Rose Village ist wohl kein so rosiger Ort, wie ich dachte. Vielleicht wird es sich noch ändern, aber das glaube ich nicht. Rose Village. Die Stadt der Rosen. Die Stadt der erfrorenen Herzen würde besser passen.
Doch was schreibe ich da, während schon die ersten Kinder mit ihrem Aufsatz fertig sind! Ich sollte arbeiten!
Werde ich Dir jemals begegnen? Hier? In jedem Fall, irgendwann finde ich eine Antwort darauf. Irgendwann, vielleicht...
Auf Wiedersehen, ich schreibe Dir.
Deine
Elisabeth"
Der Brief wurde unter ein Schulbuch geschoben und Elisabeths Blick wanderte wieder zur Klasse.
Mit einem gekonnten Lächeln, welches all ihre echten Gefühle verbarg, wandte sie sich wieder der Klasse zu.
Denn manchmal bedeuten wenige Worte mehr, als ein Wörterbuch hätte sagen können---
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