12. Auf Höhe der Ratten

Ihr erleichterter Seufzer wirbelte alten Staub auf, als sie auf die Straße zurückspähte, um zu sehen, ob der grimmige junge Mann ihr noch immer folgte.

Er war erschreckend gewesen, wie er so aus der Verwirrung aufgefahren war und sie angebrüllt hatte. Das Herz schlug ihr noch immer bis zum Hals und verengte ihre Kehle. Sicher würde er ihr etwas böses tun, wenn er sie zu fassen bekam. Denn schließlich waren alle Erwachsenen böse, so hatte sie es bereits gelernt. Böse und alt und grimmig. So wie dieser junge Mann, dessen Beutel sie sich an die Brust presste. Das war er also, der Verdächtige, von dem alle sprachen. Gestern hatte sie ihn nicht richtig erkannt, als sie ihm das Geld abgenommen hatte, aber nun kannte sie sein Gesicht. Sie hatte ihn noch einmal sehen müssen, in der simplen Hoffnung, es würde den Schmerz in ihrer Brust lindern. Aber das hatte es nicht. Denn der Mann hatte nicht wie ein Mörder ausgesehen, kein verrücktes Lachen, keine blutgetränkten Hände, kein bekanntes Gesicht und was Mina sich sonst noch alles in ihrer Fantasie ausgedacht hatte. Er war ein ganz normaler, vier etwas müde aussehender Mann.

Als sie ihn schließlich auf der vollen Straße ausmachte, hatte er sich jedoch bereits abgewandt und ging wieder davon. Die Blicke der Leute folgten ihm und missgünstiges Geflüster wurde zwischen fremden Mündern ausgetauscht. Mina stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus und wartete noch ein paar Minuten in der staubigen Ecke unter der Treppe zum ersten Stock einer Insulae. Spinnenweben hatten sich in ihrem Haar gefangen, aber das kleine Mädchen störte sich nicht daran. Sie hatte früh aufgehört vor Spinnen angst zu haben, denn die wahren Gefahren waren nicht so klein, dass man sie einfach fortpusten konnte.

Als es sicher war, kletterte sie aus ihrem Versteck heraus und lief von dem Laden fort hinunter zum Hafen. Ohne so richtig zu wissen, wo sie hingehen sollte, denn heim konnte sie nicht. Niemand erwartete sie noch dort, also war es nicht nötig den Weg zurückzufinden. Halb schlitternd, halb rennend rutschte sie über die glatten Steine des südlichen Stadttors, vorbei an der Therme und auf dem Weg zu den Anlegeplätzen. Die Sonne war warm auf ihrer Haut als sie zwischen Kisten und Seesäcken, Reisegepäck und Fischen in wassergefüllten Boxen hindurch schlüpfte. Sie wischte sich mit dem Handrücken die laufende Nase und schniefte dann. Immerhin hatte sie das Geld des wütenden Mannes und wie es sich anfühlte, war das nicht allzu wenig. Aber Hunger hatte sie nicht. Auch keinen Durst. Eigentlich fühlte sie momentan gar kein Bedürfnis. Sie war nur müde. Unglaublich müde, nachdem sie die letzte Nacht zwischen Ratten und Essenresten in einer feuchten Straßenecke, nahe ihres alten Zuhauses verbracht hatte. Frierend und sich auch ein bisschen fürchtend, hatte sie kaum an Schlaf denken können. Erst als sie mit dem Rücken an die Mauer gepresst vor Müdigkeit in Ohnmacht fiel war sie zu Ruhe gekommen.

Mina setzte sich an den Hafenkai und ließ die Beine über dem milden Wasser baumeln. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie fühlte sich verloren und einsam in dieser großen Stadt in ihrem Rücken. Alles schrie danach, dass Julia nicht mehr da war. Minas ältere Schwester. Oder wenigstens diejenige, die dem am nächsten kam. Diejenige, die sie aufgezogen hatte, mit ihr gelacht und die sie beschützt hatte. Die als einzige mit Mina geredet hatte und sich um sie gekümmert hatte. Denn Eltern hatte Mina keine. Ihre Erinnerungen begannen in dieser Stadtvilla am Meer, mit dem herrlichen Garten und dem großen Balkon den sie und die anderen Sklaven nicht betreten durften. Es gab einfach kein davor. Es gab keine Mutter und keinen Vater, es gab nur Mina. Vielleicht, so hatte sie schon manchmal gedacht, war sie einfach dem Staub am Boden entstiegen oder dem hellen Sonnenlicht. Denn ihre ältere Schwester war in ihrer frühesten Erinnerung ja selbst noch ein Kind. Kaum älter als dreizehn Jahre, aber fest entschlossen das kleine Mädchen namens Mina zu füttern, zu umsorgen und immerzu mit sich mitzuschleppen, wenn sie Wasser für die Herren holte, Feuerholz entzündete um den Herd zu heizen oder den Boden zu fegen.

Und plötzlich war Julia tot. Weggerissen von ihrer Seite. Fortgenommen aus diesem Leben. Nun gab es niemanden mehr. Und Mina fühlte sich, als würde auch sie nicht mehr hierher gehören.

Mina wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und schaute auf das Meer. Da pikste sie auf einmal etwas an der Schulter, als hätte etwas sie gestochen. Noch immer unglücklich, schaute sie auf ihre Schulter, bereit, eine Wespe oder Biene zu sehen, die sich da zu schaffen machte, doch da war nichts. Stattdessen konnte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung sehen und schreckte hoch. Aber noch bevor sich wirklich Angst in ihr ausbreiten konnte, hatte die schon gesehen wer da hinter ihr stand. Es war ein Junge. Kaum älter als sie mit filzigen schwarzen Haaren und Lumpen, die wohl mal Kleidung gewesen waren über einem dürren Körper.
„Bist du ganz allein hier?", fragte der Junge auf einmal und Mina trat verunsichert auf einen halben Schritt zurück. Eigentlich sah der Junge nicht besonders gefährlich aus, eher im Gegenteil. Um seinen dünnen Hals lag eine verbeulte und zerkratzte Bulla, das Schutzamulett, das jedes Kind bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter trug. Keine Mutter würde erlauben, dass das Amulett so verkam. Anderseits... keine Mutter würde erlauben, dass ihr Kind rumlief wie ein räudiges Tier.
„Kannst du gar nicht sprechen? Aber verstehen kannst du mich schon?", fragte der Junge skeptisch, nachdem sie ihm keine Antwort gegeben hatte. Sie nickte hastig, sie konnte ja eigentlich sprechen, aber irgendwas hinderte ihre Zunge daran sich zu bewegen und ihren Hals, Töne von sich zu geben.
„Also... bist du allein?", wiederholte der Junge noch einmal und diesmal wagte Mina auch zu nicken. „Und deine Eltern? Suchen die dich nicht?", fragte er weiter. Wieder ein Kopfschütteln von Mina. Der Junge schien nachzudenken, legte den Kopf schief und betrachtete Mina. Die wusste nicht so recht was das jetzt zu bedeuten hatte, ob sie ihm das nicht hätte verraten sollen. Doch da verhärtete sich sein kindlicher Blick schon und er schien einen Entschluss gefasst zu haben.
„Dann komm mit.", sagte er und lief los. Mina öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Sie hätte ihm gesagt er solle warten, und wo er denn überhaupt hinwollte. Aber stattdessen entfernte er sich immer weiter. Wenn sie ihm jetzt nicht folgte würde sie nicht erfahren, wohin er ging, dann wäre er schon zwischen den Menschen und Kisten verschwunden. Also atmete Mina tief durch und begann ebenfalls loszulaufen, immer dem kleinen Schatten des Jungen hinterher.

Sie holte ihn allmählich ein, als er etwas zu plötzlich stehen blieb. Hier bei dem letzten Schiff an den Anlegeplätzen, etwas entfernt vom Haupthandel. Es war ein altes Fischerschiff, dessen Segel wahrscheinlich durch einen Sturm zerbrochen war und nun verlassen vor sich hin schaukelte.
„Eigentlich mag Vater keine neuen Kinder, aber wenn ich dich bringe, wird er vielleicht ein Auge zudrücken. Ich bin übrigens Jupiter, hab' mich selbst so genannt. Klingt gut, oder?" Er wirkte ein bisschen stolz auf seinen Namen, streckte sogar die Brust etwas nach vorn, wie ein echter Draufgänger und Mina nickte, weil sie nicht wusste was sie sonst tun sollte. Sie wollte ihn auch nicht kränken, obwohl sie seinen Namen ziemlich lächerlich fand. Jupiter lachte auf und trat dann auf die Planke zum Schiff hoch.
„Vater war mal ein starker Krieger, er kämpft besser als alle anderen, weil er trainiert hat seit er ein kleiner Junge war. Er kennt Tricks von seiner weit entfernten Heimat, die sonst niemand kann. Vielleicht bringt er dir was bei, wenn du hier bleiben darfst.", sagte Jupiter begeistert und seine Stimme zitterte unmerklich vor Aufregung und Bewunderung für diesen Mann. Mina folgte ihm mit gemischten Gefühlen und zusammen traten sie in die Dunkelheit der Schiffskajüte des alten Fischerschiffs.

Drinnen roch es erbärmlich nach Schmutz und Unrat. Die Filzdecken, auf denen nachts die Kinder schliefen, waren leer und verlassen. Tagsüber waren sie in der Stadt und fingen Mäuse und Katzen. An den ehemals hellbraunen Wänden, hinten unzähligen Spinnweben und neben kindlichen Kritzeleien war das Holz dunkelbraun, beinahe schwarz von Ruß und Fett. Als wäre das Schiff seit seiner Erbauung verwahrlost und vergessen worden. Nur der Mann, Vater, war in dem dunklen Raum, ganz hinten auf einem Strohsack sitzend. Oder der alte Holzsoldat, wie die Kinder ihn nannten. Mit einem rostigen Messer schnitzte er an einem Stück Holz herum und blickte auf, als die beiden Kinder vor ihm sehen blieben. Ihm gehörte das Schiff und auf ihn hörten die Kinder, deren einziges Zuhause dieses Schiff war.

Mina fühlte sich unwohl mit Jupiter auf diesen düsteren Mann zuzugehen. „Noch eine?", fragte der Mann noch ehe die beide ganz vor ihn getreten waren. Er hatte lange, filzige Haare die bis zum Boden reichten und beinahe seinen ausgezehrten, aber noch immer muskulösen Körperbau versteckten. Zahlreiche helle Flecken bedeckten seine nackten Arme, von seinem dickten Haar auf dem Kopf sprangen die Flöhe.
„Ich habe sie hier unten am Hafen gefunden. Ich dachte, vielleicht kann sie erstmal hier bleiben.", meinte Jupiter, seine Stimme kaum halb so mutig wie am Anfang. Er wirkte nervös und aufgeregt.
„Ich brauche keine weitere kleines Mädchen. Sie ist überflüssig, sie bringen kein Wert. Ich habe dir gesagt. Viele Male. Und nun trotzdem du stehst hier mit kleines Bettelkind." Der tiefe Bass seiner Stimme, zusammen mit dem harten Akzent ließ einen Eisklumpen in Minas Magen entstehen. Sie hatte angst, Angst vor dem intensiven Blick des Mannes vor ihn und am liebsten wäre sie nun davon gelaufen. Aber Jupiter hielt den Zipfel ihrer Tunika fest in seiner Hand. Der Mann fixierte sie mit seinem gesunden Auge. Das andere war weiß und leer, wie von einem toten Fisch.
„Sie wird uns sicher helfen, Vater. Schau nur, was sie uns bereits gebracht hat.", sagte Jupiter und griff Mina ungeniert in die Tunika und zog den prallen Geldbeutel heraus. Mina gab einen kleinen Laut des Protestes von sich und versuchte Jupiter aufzuhalten, aber er war stärker als er aussah und schupste Mina zurück, als sie den Beutel festhalten wollte. Feierlich überbrachte Jupiter das Geld und legte es dem Mann vor die Füße.
Die Augenbrauen des Mannes zogen sich erstaunt hoch, ehe er das Bündel aufhob. Er betrachtete den Beutel, dann sah er wieder zu Mina, die sich böse dreiblickend wieder aufrappelte. Das ist nicht deiner! Gib den sofort wieder her, wollte sie schreien, aber ihre bebenden Lippen kam nur ein erschrockenes Keuchen.
„Sie kann bleiben. Erstmal. Kleines Bettelkind wird zeigen, wie gut es jagen. Ob wichtig genug ist für anderes Kinder und Vater zum bleiben.
Aber, Jupiter! Wenn du bringst mir noch ein Bettelkind, ich werde deine Platz ersetzen. Denke daran, kleiner Jäger, ohne Platz bist du Futter von Ratten und es mir egal. Ich dich vergessen..." Mina sah Jupiter hart schlucken. Doch er wandte den Blick nicht vom Vater ab, als er verstehend nickte.

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