Kapitel 9 - Veritas Revelata
Als Marcus das Atrium der Villa betrat, ergriff ihn sofort die ruhige, beinahe aristokratische Eleganz des Raumes. Die Marmorplatten auf dem Boden glänzten im sanften Licht, das durch die weite Öffnung im Dach strömte. An den Wänden zierten fein gemalte Fresken Szenen aus den Mythen der Götter, die sich in scheinbar unerschöpflicher Erhabenheit an die Decke wanden. Das leichte Plätschern eines Wasserspiels in der Nähe vermischte sich mit den gedämpften Geräuschen der Sklaven, die eifrig durch den Raum huschten. Ein junger Sklave trat schnell und mit gesenktem Blick an Marcus heran.
«Wo ist deine Herrin?», fragte er, seine Stimme fest, gleichwohl von einer Dringlichkeit durchzogen.
«Im Tablinum, Herr», antwortete der Sklave, doch zögerte dann. «Sie empfängt jedoch gerade Besuch. Ich muss Euch bitten, hier zu warten, bis sie mit der Audienz fertig ist.» Abrupt blieb Marcus stehen, während ein missmutiger Ausdruck auf sein Gesicht trat. Er hatte damit gerechnet, sofort von Livia empfangen zu werden.
«Besuch? Wer ist bei ihr?» Seine Stimme war nun schärfer als er den Sklaven mit einem durchdringenden Blick fixierte und dabei versuchte, seine innerliche Anspannung zu bekämpfen.
Der Sklave zog unwillkürlich den Kopf ein und wirkte noch kleiner als zuvor. «Eine Dame, Herr.»
Ungeduldig hob Marcus eine Augenbraue. Er schätzte es nicht, wenn er keine befriedigende Antwort erhielt.
«Scribonia», flüsterte der Sklave schließlich, so leise, dass Marcus für einen Moment unsicher war, ob er sich verhört hatte. Ungläubig blinzelte er und wiederholte den Namen.
«Was möchte Scribonia bei Livia», fragte er besorgt nach. Der Name ließ in Marcus' Kopf sofort sämtliche Alarmglocken schrillen. Scribonia, Gaius zweite Ehefrau und die Mutter von Julia, die so sehr an ihrer Ehre und ihrem Stolz hing, dass sie alles tat, um Livia zu schaden. Sie waren seit Jahren Feindinnen, und jeder wusste, dass eine Begegnung zwischen den beiden gefährlich war.
«Ist sie etwa alleine bei deiner Herrin?», fragte er ungehalten. Der Sklave vermied es, ihm in die Augen zu sehen und nickte langsam. Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, stürmte Marcus vorwärts, seine schnellen Schritte hallten in den Gängen der Villa wider. In dem Moment, in dem er die Türen aufstieß, erwartete er das Schlimmste – ein Dolch, der in Livias Brust gerammt wurde, ein finsterer Blick, der in seine Richtung zuckte. Doch was er sah, war etwas anderes. Scribonia saß aufrecht und mit gefalteten Händen vor dem großen, polierten Marmortisch. Ihre Haltung war so kontrolliert wie immer. Livia saß hinter ihrem Schreibtisch, ihre Stola in ruhiger, schlichter Eleganz um die Schultern drapiert, ihre Hände fest auf den Tisch gelegt, auf dem noch ein paar Wachstafeln und Schreibutensilien lagen. Sie wirkte wie immer – gelassen und beherrscht, fast als wäre sie diejenige, die die Fäden zog. Doch als ihre Augen Marcus trafen, zuckte sie zusammen und blickte ihn fassungslos an.
«Agrippa, was ...?», fragte sie überrascht. Marcus trat ein paar Schritte näher an sie heran, um sicherzugehen, dass sie wirklich nicht in Gefahr war. Ein flüchtiger Blick auf Scribonia reichte ihm, um zu erkennen, dass die Situation noch nicht eskaliert war.
«Verzeih mein Reinplatzen», begann er, seine Stimme nun weicher, doch der Blick in seinen Augen verriet, wie sehr er sich um sie sorgte. «Ich hatte nur Sorge, dass ...» Er brach ab, als sein Blick auf Scribonia fiel, da er die andere Frau nicht beleidigen wollte.
«Was geht hier vor?», fragte er stattdessen, seine Worte schärfer als beabsichtigt. Er fixierte Scribonia mit einem Blick, der so eindringlich war, dass sie kurz den Kopf senkte.
«Es ist auch schön, dich wiederzusehen, Agrippa», erwiderte Scribonia in einem kühlen, nahezu hämischen Ton. Sie erhob sich langsam, ihre Bewegungen wie flüssiges Silber, und ihre Augen funkelten vor unterdrücktem Spott. «Ich danke dir für deine Hilfe, Livia.»
Mit einer letzten, fast verächtlichen Geste drehte sie sich zur Tür und verließ das Tablinum, ohne einen weiteren Blick auf Marcus zu werfen.
«Sie war wegen Pompeia hier», erklärte Livia ihm mit einem leisen Seufzen und ließ sich in ihrem Stuhl zurückfallen, während ihre Finger gedankenverloren über die Kanten des Tisches strichen.
«Sextus' Tochter?», fragte Marcus mit einem Stirnrunzeln nach. Das Letzte, was er über das Mädchen gehört hatte, war, dass sie bei Antonius geblieben war, nachdem er ihren Vater hingerichtet hatte.
«Wie du weißt, waren Sextus und ich ... Freunde, bevor ich Gaius geheiratet habe», erklärte Livia, ihre Stimme flackerte kurz bei der Erinnerung daran. Sie stand auf, ging langsam um den Tisch und winkte Marcus mit einer eleganten Handbewegung zu, sich zu setzen, wenn er wollte. «Und Sextus hat viel für mich und die anderen Exilanten getan. Ich stehe nach wie vor in seiner Schuld.»
«Ohne Sextus hättest du nie nach Rom zurückkehren können», stimmte Marcus zu und lehnte sich nachdenklich an den Schreibtisch. Seine Arme verschränkten sich vor seiner Brust, während er sie aufmerksam beobachtete. Livia, die nun in Gedanken zu versinken schien, begann langsam im Raum auf und ab zu gehen, als suche sie nach den richtigen Worten.
«Ich kannte Pompeia, als sie noch ein kleines Baby war. Sie war so ein süßes Kind. Genauso alt wie mein kleiner Tiberius», fuhr sie fort, und in ihrer Stimme schwang ein Hauch von Wärme mit, der für einen Augenblick die Härte ihrer sonstigen Ausführungen milderte. «Nur im Gegensatz zu meinem damaligen Mann war Sextus in seine Tochter regelrecht vernarrt. Er hat sie überall hin mitgenommen. Ihre Mutter, Scribonia, starb bei ihrer Geburt.»
«Ihre Mutter war die Nichte von Scribonia, oder?», fragte Marcus nachdenklich nach. «Soweit ich weiß, hatte Scribonia nur einen Sohn und eine Tochter namens Cornelia aus ihrer ersten Ehe. Eine weitere Scribonia müsste also die Tochter ihres Bruders gewesen sein.»
«Genau», bestätigte Livia. «Und dadurch ist Pompeia die Enkeltochter ihres Bruders – Lucius Scribonius Libo.»
«Und was will sie jetzt konkret von dir?» Marcus' Stimme war ruhig, doch langsam begannen sich die Puzzlestücke in seinem Kopf zu einer Vermutung zusammen zu setzen. Aber er war kein Freund davon, voreilige Schlüsse zu ziehen, wenn er nicht sicher war.
«Scribonia hat mich um Hilfe gebeten», erklärte Livia und seufzte erneut. Ihre Augen glitten zum Fenster, als suchte sie nach einer Flucht vor dem, was sie aussprechen musste. «Ihr Bruder, Libo, möchte Pompeia zurück nach Rom holen und sie in seinem Haus aufnehmen. Das Mädchen ist nun Vollwaise, ohne Schutz, ohne Heim – und in der Fremde. Der Mann, bei dem sie leben muss, ist der, der ihren Vater umgebracht hat.»
Marcus' Kiefermuskeln spannten sich, doch er sagte nichts. Er hatte einen klaren Standpunkt zu diesem Thema: Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er dafür gesorgt, dass Sextus schon früher hingerichtet worden wäre. Antonius hatte ihm in dieser Hinsicht einen Dienst erwiesen, indem er seinen ehemaligen Freund und Feind Roms beseitigt hatte.
«Libo hat bereits bei meinem Mann um Hilfe gebeten, doch Gaius blieb stur. Er hat die Bitte, Pompeia nach Rom zurückzuholen, abgelehnt. Wohl mit den Worten, er habe momentan keine Kapazitäten in seinem Verhandlungsspielraum mit Antonius, da die einstige Freundschaft der beiden aktuell sehr angespannt ist.»
«Die diplomatische Umschreibung für, er überlegt gerade wie er Antonius loswerden kann», fügte Marcus mit einem schiefen Grinsen hinzu. Livia nickte, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
«Scribonia hat an mich als Mutter appelliert, ihr zu helfen, und damit auch ihrem Bruder», fuhr Livia fort, ihre Miene wurde wieder ernst. Sie setzte sich abermals an ihren Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab. Ihre Augen suchten Marcus' Blick. «Ich bin Sextus immer noch etwas schuldig. Er hat Nero und mich aufgenommen, als uns niemand mehr aufnehmen wollte. Er hat uns versorgt und war mir stets ein guter Freund. Er hat mich vor meinem Ehemann beschützt, so gut er konnte. Zudem habe ich Pompeia selbst in meinen Armen gehalten, als sie ein Baby war.»
Livia schluckte schwer und drehte ihren Kopf weg, als ob sie einen Teil ihrer Verletzlichkeit vor Marcus verbergen wollte. Doch der Schatten der Erinnerung, der über ihre Züge zog, war nicht zu übersehen. «Ich wollte nie, dass er stirbt.»
Marcus seufzte leise und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter. Ohne ein Wort strich er mit dem Daumen über den Stoff ihrer Tunika, als wolle er ihr Trost spenden.
«Erzählt das bloß nicht meinem Mann», warnte Livia ihn, was Marcus nun erst recht zum Lachen brachte. Doch Livia schlug nur nach seiner Hand und wich von ihm weg.
«In seinen Augen wäre ich damit nur eine Verräterin.»
«Er weiß um Eure einstige Freundschaft», entgegnete Marcus ernst, als er ihren Blick suchte. «Er wäre naiv, wenn er glaubt, dass du nicht um ihn trauerst.»
«Wir haben das Thema immer umschifft», erklärte Livia und stellte sich ans Fenster. Die Aussicht auf den Garten schien ihr einen Moment der Ruhe zu geben, doch in ihren Augen lag eine Unruhe, die nicht ganz verschwinden wollte. «Aber ich habe Scribonia versprochen, mit Gaius zu reden. Ich will versuchen, ihn zu überzeugen, Pompeia von Antonius herauszuverlangen. Das Mädchen kann nichts dafür, dass ihr Vater ein Feind Roms war, und sie hat schon ihre Eltern verloren. Der einzig lebende Verwandte ist Scribonias Bruder.»
«Wenn du willst, dann helfe ich dir», bot Marcus ihr an und trat neben sie an das Fenster. Überrascht drehte sich Livia zu ihm um. Mit seiner Unterstützung hatte sie offenbar nicht gerechnet.
«Das würdest du tun?», fragte sie, ihre Augen weit aufgerissen, eine Mischung aus Überraschung und Erleichterung.
«Sextus war zwar mein Feind», sagte Marcus, «aber das bedeutet nicht, dass ich kein Mitleid mit seiner Tochter habe. Wenn sie meine Tochter wäre, würde ich auch wollen, dass man sie zurück nach Rom holt.»
«Ich danke dir, Agrippa», sagte Livia, ihre Stimme war weicher geworden. «Zu zweit haben wir vielleicht mehr Einfluss auf ihn, als ich allein. Aber jetzt verrate mir, warum du hier bist? Sicher nicht, um mit mir über Sextus und Scribonia zu reden?»
Marcus nickte und bestätigte so ihren Verdacht.
«Kiana ist aufgewacht.»
Livia sprang auf, die Freude in ihren Augen war sofort erkennbar. Ohne nachzudenken fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn fest an sich. Es war das erste Mal, dass sie in seiner Gegenwart einen so offenen Gefühlsausbruch zeigte, und auch Marcus spürte, wie sich die Anspannung in ihrem Körper löste.
«Das freut mich sehr für dich und für euch beide», flüsterte Livia, ihre Stimme von echter Erleichterung erfüllt. «Ich habe gebetet, dass sie wieder wach wird.»
Marcus nickte, doch ein trauriger Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht, der Livia sofort auffiel. Sie zog sich etwas zurück, ihre Augen prüften ihn besorgt.
«Was ist passiert?», fragte sie sofort, ihre Stimme weich, aber bestimmt.
«Der Medicus meinte, dass Kiana keine Kinder mehr bekommen kann», antwortete er mit schwerer Stimme. Die Worte hingen wie ein Schatten in der Luft.
«Das tut mir leid», erwiderte Livia mitfühlend. «Aber ich dachte, Kiana wollte ohnehin keine Kinder mehr.»
«Hat sie dir das gesagt?», fragte er mit ruhiger, schwerer Stimme.
Livia biss sich auf die Zunge und versuchte, ihre Worte zu ordnen.
«Sie hat es ... angedeutet», murmelte sie. «Es tut mir leid. Das bedeutet nicht, dass sie ...»
«Es ist nicht so, als ob ich es nicht wüsste», unterbrach er sie. Er sah sie jetzt mit einem ernsthaften Blick an, der seine Trauer nur schwer verbarg. «Kiana wollte Sophia schon nicht und das Mädchen ...» Er brach ab, als ein schmerzlicher Gedanke an sein verstorbenes Kind ihn überkam. Seine Handballen drückten sich gegen die Tischkante, als wollte er verhindern, dass seine Emotionen überkochten. Es war immer er gewesen, der die Kinder mit Kiana genauso willkommen geheißen hatte, wie Vipsania und die weiteren Kinder, die er noch mit Caecilia zeugen würde. Immerhin hatte seine Frau ihn wieder in ihr Bett gelassen. Es würde also nur eine Frage der Zeit sein, bis sie erneut Nachwuchs bekamen.
«Aber nun haben euch die Götter die Entscheidung abgenommen, noch weitere Kinder zu zeugen?» Livia warf ihm einen sanften Blick zu, der dennoch eine Spur von Bedauern in sich trug. Traurig nickte Marcus. Er atmete tief durch und seine Augen senkten sich.
«Kiana muss starke innere Verletzungen erlitten haben, von denen sie erst vollständig genesen muss. Der Medicus hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass eine weitere Schwangerschaft – sollte sie überhaupt passieren – ihren Tod bedeuten würde.» Er hielt inne, als ob er diese Worte noch nicht wirklich fassen konnte, und ein letzter Seufzer entglitt ihm und er sah Livia ernst an. «Das ist auch der eigentliche Grund meines Besuchs. Der Medicus meinte zudem, sie muss erst wieder zu Kräften kommen, bevor ich sie in mein Haus zurückholen kann. Xenia hat angeboten, mit ihr in der Villa zu bleiben und sich um sie zu kümmern, wenn du einverstanden bist. Für die Unkosten ihres Aufenthalts komme ich selbstverständlich auf.»
Verständnisvoll erwiderte Livia seinen Blick.
«Natürlich kann Kiana, solange es notwendig ist und sie es will, in der Villa wohnen bleiben. Es ist ein schönes Anwesen, das ohnehin zu selten in Gebrauch ist, da es doch zu weit am Stadtrand ist. Ich werde sofort Anweisungen geben, dass sie dort mit allem versorgt wird, was sie braucht. Zudem liebt Xenia den Kräutergarten und kennt diesen auch deutlich besser als ich. Xenia ist wirklich ein Genie, wenn es um den Umgang mit Kräutern geht.»
«Ich verdanke ihr viel», bestätigte Marcus. «Ohne sie hätte Kiana das alles nicht überlebt.»
«Mach dir keine Sorgen», sagte Livia mit einem Lächeln, das wie ein beruhigendes Versprechen klang. «Kiana wird schneller wieder auf den Beinen sein, als du bis drei zählen kannst. Das Schlimmste haben wir überstanden. Der Rest wird ein Kinderspiel.»
Marcus spürte, wie sich die Last von seinen Schultern zu nehmen schien, auch wenn er wusste, dass er noch einen langen Weg vor sich hatte. «Ich danke dir Livia», sagte er, und bevor er sich abwandte, um zu gehen, beugte er sich vor und küsste sie sanft auf die Wange. Ein Zeichen für seine Dankbarkeit.
Livia nickte ihm zu, ein Lächeln auf den Lippen, als er das Tablinum verließ.
~*~
Erleichtert, dass er die Situation mit Kiana so schnell hatte klären können, machte sich Marcus nun auf den Weg in das Hauptgebäude, den Teil des Hauses, in dem Gaius seine Klienten und Gäste empfing. Der Flur war kühl und schattig, die Wände des prächtigen Hauses aus hellem Travertin strahlten eine stoische Ruhe aus. Ein paar Schritte weiter, und er erreichte das private Arbeitszimmer des Hausherrn.
Marcus meldete sich bei Gaius' Sekretär an, und dieser führte ihn sofort zu einem der Wachen, die das Zimmer des Hausherrn bewachten. Der Sklave klopfte kurz an die schwere Holztür, die daraufhin von zwei stattlichen Wachen geöffnet wurde, die sich auf der Schwelle verbeugten. Die Luft im Raum war von einer Mischung aus Papyrus und dem Hauch von wohlriechendem Öl erfüllt. Gaius saß entspannt auf einem tiefen, mit roten Stoffen bespannten Sitz, während seine Tochter Julia fröhlich auf seinem Schoß saß und ihn mit kindlicher Neugier bei der Arbeit beobachtete.
Mit einer Hand hielt Gaius Julia fest, die gerade versuchte, einen der Papyri zu erhaschen, den ihr Vater so geschickt mit der anderen Hand hielt. Gaius selbst war völlig in die Korrespondenz vertieft, las einen Brief und diktierte dabei mit ruhiger Stimme einem der Privatsekretäre die Antwort. Doch als sie Marcus bemerkten, glitten Gaius' Augen überrascht von der Papyrusrolle auf. Julia hingegen sprang sofort auf und lief auf ihn zu.
«Onkel Marcus!», rief sie voller Freude, ihre kleinen Arme weit ausgebreitet. Mit einem Lächeln beugte sich Marcus hinab, fing das kleine Mädchen in einer Umarmung auf und hob sie hoch. Ihr Lachen hallte durch den Raum, und ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. Gaius war wie ein Bruder für ihn und Julia damit genauso seine Nichte, wie die kleine Tochter seiner Schwester.
«Hallo, kleiner Wirbelwind», begrüßte Marcus sie, hob sie mit Leichtigkeit höher und küsste sie auf die Wange. Doch er merkte, dass sie mit ihren fünf Jahren und gut einem halben Jahr schon einiges an Gewicht zugelegt hatte. Bald würde er sie nicht mehr so mühelos hochheben können.
Julia, die ihn nicht aus den Augen ließ, legte ihren Kopf schief und fragte neugierig: «Onkel Marcus, wann bringst du Sophia wieder mit?»
Leise lachte Marcus und setzte sie behutsam wieder ab.
«Bald. Sophia vermisst dich auch schon sehr.» Und es stimmte, seine Tochter fragte beinahe jeden Tag nach, wann sie wieder zu ihrer Freundin dürfe. «Aber jetzt muss ich mit deinem Vater unter vier Augen reden», erklärte Marcus, den Blick auf Gaius gerichtet, um Julia einen kleinen Wink zu geben, dass sie an diesem Gespräch nicht teilhaben konnte. Julia verzog das Gesicht und zog eine Schnute, ihre großen Augen blickten ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Ernst an.
«Versprichst du es?» Sie fragte mit der Sturheit, die er noch bei keinem anderen Kind erlebt hatte. «Hier ist es so langweilig ohne Sophia!» Marcus konnte nicht anders, als zu schmunzeln. Er beugte sich noch einmal zu ihr herunter und stupste ihr zärtlich auf die Nase, was sie zum Kichern brachte.
«Ich verspreche es. Bei Mars und Jupiter. Aber jetzt muss ich wirklich mit deinem Vater reden.»
«Julia, geh auf dein Zimmer», befahl Gaius mit einem strengen Blick. Doch seine Tochter hielt inne und drehte sich zu ihm um, ihre Augen fixierten ihn durchdringend. Marcus musste sich ein Lachen verkneifen, denn in diesem Moment sah sie ihrem Vater zum Verwechseln ähnlich. Gaius, der in seiner Rolle als Staatsmann immer so ruhig und kontrolliert war, schien von Julia und ihrer Unerschrockenheit oft an seine Grenzen geführt zu werden.
«Kommst du dann später, um mit mir zu spielen? Du hast versprochen mit mir zu spielen, wenn du mit deiner Arbeit fertig bist!» Julias Stimme war dabei fest und bestimmt. Nun konnte Marcus sich das Grinsen doch nicht mehr verkneifen. Es war fast schon eine Form der süßen Rebellion, die Julia gegen ihren Vater ausübte. Seit dem Sieg gegen Pompeius hatte Gaius deutlich mehr Zeit für seine Tochter und auch wenn er es nicht offen zugab, so genoss er es, Zeit mit ihr verbringen zu können.
Spielerisch erschrocken, griff sich Gaius an das Herz und antwortete: «Du weißt, dass ich meine Versprechen stets halte, Julia!»
Zufrieden nickte Julia, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen, und trat dann aus dem Raum, den Weg zurück in den privaten Wohnbereich einschlagend, aus dem sie gekommen war. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wendete sich Marcus mit einem breiten Grinsen an Gaius.
«Sie ist dir ziemlich ähnlich», bemerkte er mit einem neckischen Unterton. «Wenn du jemals Zweifel daran gehabt hättest, dass sie von dir ist ...»
«Habe ich nicht», antwortete Gaius schnell, ein Lächeln spielte um seine Lippen. «Aber du hast recht. Julia ist ganz meine Tochter.» Seine Miene nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, als er weiter sprach. «An manchen Tagen bedauere ich, dass sie nicht als mein Sohn zur Welt kam. Sie könnte sonst so viel Größeres erreichen.»
Marcus hörte den Hauch von väterlichem Stolz in Gaius' Stimme und verstand genau, was er meinte. Auch er kannte diesen bittersüßen Gedanken, denn er fühlte ihn bei Vipsania.
«Sie wird ihren Weg schon gehen, genauso wie Vipsania. Sie brauchen nur die richtigen Männer an ihrer Seite», sagte Marcus schließlich mit einer zuversichtlichen Miene, da er das Gefühl nur zu gut kannte. Vipsania war bereits jetzt in so vielen Bereichen wie er selbst, dass er sicher war, sie würde eines Tages eine würdige Erbin für sein Vermächtnis werden. Aber in dieser Welt, in der sich politische Allianzen oft durch Heirat und Familienbande koalierten, lag der wahre Erfolg seiner Tochter wohl eher in der Ehe – und in der Beziehung zu Tiberius, dem Sohn von Livia Drusilla. Immerhin würde seine Tochter in eine der größten und ältesten Familien Roms einheiraten, wenn sie das passende Alter erreicht hatte. Marcus hatte den Jungen nur flüchtig kennen gelernt, als Gaius und er zusammen mit Livias Exmann, Nero, die Verlobung der Kinder beschlossen hatten. Tiberius, mit seinem schüchternen und zurückhaltenden Wesen, wirkte wie ein Gegenpol zu seinem Bruder Drusus. Doch für Vipsania war dieser schüchterne Tiberius vielleicht genau der richtige Partner. Wenn er sich in den kommenden Jahren weiter entwickeln konnte, würde er ein würdiger Schwiegersohn werden.
«Um Sophia mache ich mir mehr sorgen. Ich weiß immer noch nicht, wen ich als ihren Ehemann überhaupt in Betracht ziehen kann», murmelte Marcus mehr zu sich selbst. «Und wer mit ihr fertig werden kann, wenn sie so wird wie ihre Mutter.» Im Grunde hatte Marcus an Letzterem keine Zweifel, da Sophia jetzt schon so wild und ungestüm wie Kiana war. Sophias Erbe war weitaus mehr das ihrer barbarischen Mutter als einer gesitteten Römerin. Eigenschaften, die nicht jeder Mann an Frauen liebte.
«Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir schon den richtigen Ehemann für sie finden», erwiderte Gaius trocken, setzte sich wieder hinter seinem Schreibtisch und fragte Marcus, warum er hier war, ohne weiter auf das Thema einzugehen. Sophia war nach wie vor ein wunder Punkt in ihrer Freundschaft, auch wenn Gaius es nicht mehr so offen zur Schau stellte.
«Kiana ist wieder aufgewacht», berichtete Marcus sofort. Das Strahlen in seinen Augen war unübersehbar.
«Das freut mich sehr», erwiderte Gaius und auch in seiner Stimme lag Erleichterung. «Das erklärt aber immer noch nicht, wer für diesen feigen Anschlag verantwortlich ist. Ich habe meine Spione bereits beauftragt eine Liste mit allen Antonius-Sympathisanten aufstellen zu lassen. Vielleicht finden wir so heraus, wer in deinem unmittelbaren Umfeld einen solchen Anschlag verüben konnte.»
Marcus nickte zustimmend und erklärte Gaius, dass das nicht der einzige Grund für sein Kommen sei.
«Ich habe mit Xenia gesprochen», begann er nun den wahren Grund offenzulegen. Irritiert hob Gaius die Augenbraue hoch. Er wusste, dass Marcus Xenias Einfluss auf Kiana alles andere als schätzte, doch er vermochte nie etwas dagegen zu unternehmen.
«Wer war Xenias Vater?» Abschätzig hob Gaius die Augenbraue, antwortete aber nicht. «Wie kommt es, dass du eine Sklavin freikaufst? Das passt nicht zu dir. Du bist Xenias Patron, kümmerst dich aber nicht um ihre Angelegenheiten. Du überlässt sie Livia als Privatsekretärin. Du lässt ihre Miethäuser auf deinen Namen laufen und gestattest ihr, das Geld, das sie dadurch verdient, zu behalten. Du lässt sie tun und machen, was sie will, ohne dir Rechenschaft abliefern zu müssen. Du beherbergst sie in deinem Haus, ohne aus ihren Talenten Gewinn zu schlagen.»
«Wieso fragst du überhaupt, wenn du die Antwort schon weißt?», erwiderte Gaius ruhig und hielt Marcus' Blick stand. Doch das Zucken seines Auges verriet ihm, dass er mit seiner Vermutung über Xenia richtig lag. Wieso hatte er es nicht früher erkannt? Kiana hatte ihm so viel über Xenia erzählt. Doch es war mehr die Ähnlichkeit zu Sophias Leben, die ihn die Wahrheit über ihre Herkunft hatte erkennen lassen.
«Ich möchte es gerne von dir hören», erwiderte Marcus und setzte sich seinem Freund gegenüber.
Gaius seufzte und sah Marcus eine Zeit lang nur stumm an, während er überlegte, was er sagen und wo er anfangen sollte.
«Livia hat es mir erst ein oder zwei Monate nach unserer Hochzeit erzählt», begann er schließlich. «Auch wenn sie meine Gefühle erwidert hatte, brauchte sie doch sehr viel Zeit, um mir vollständig zu vertrauen. Ihr Vater hatte sie an Nero verkauft, kaum das sie alt genug zum Heiraten war und die Flucht hatte ihn nicht unbedingt zu einem angenehmeren Ehemann gemacht.»
Marcus verkniff sich den Kommentar, dass Livia und Nero einst vor ihm geflohen waren, und wartete weiter ab, was Gaius noch zu sagen hatte.
«Doch das war nicht der einzige Verrat, denn Drusus an seiner Familie begonnen hatte. Einen schnellen Ehemann für Livia zu finden, der sie während der Ehe misshandelt hatte, war das eine. Aber Drusus hatte ein weiteres Kind. Eine Tochter mit einer seiner Sklavinnen.»
«Xenia», schlussfolgerte Marcus und Gaius nickte bestätigend.
«Livia meinte, er mochte die Sklavin - Xenias Mutter sehr gerne und hat sie zudem ihrer eigenen Mutter vorgezogen. Auch dass Xenia ihre Halbschwester war, war nie ein Geheimnis in seinem Haushalt gewesen und er ließ zu, dass die beiden als solche aufwuchsen. Livia lag viel an ihrer Halbschwester. Doch als die Proskriptionen kamen, ging alles ganz schnell. Drusus hatte Livia Nero zur Frau gegeben, um so einen Großteil seines Vermögens zu retten. Xenia gab er hingegen an einen Freund. Durch die Flucht war es Livia nicht möglich gewesen, das Schicksal ihrer Schwester zu verfolgen, und so trennten sich ihre Wege. Als sie schließlich nach dem Vertrag von Misenum zurückkehrte und Xenia zu sich zurückholen wollte, musste sie feststellen, dass der Freund ihres Vaters selbst hingerichtet worden war und von Xenia jede Spur fehlte. Der Verlust ihrer Schwester hat ihr sehr zugesetzt, auch wenn sie es nie direkt aussprach.»
Gaius seufzte und stand von seinem Stuhl auf, ging um seinen Schreibtisch herum und lehnte sich gegen die Kante. Er verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er Marcus ernst ansah und den Kopf schüttelte.
«Sie hat eine Zeit lang gebraucht, um zu erkennen, dass der Albtraum mit Nero endlich vorbei war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm ihr Körper aussah. Überseht mit blauen Flecken. Es hat Monate gedauert, bis sie sich überhaupt von mir hat anfassen lassen können.»
Marcus Gesicht wurde hart und instinktiv ballte er die Fäuste zusammen. Livia war auch für ihn eine Freundin geworden, die er sehr schätzte und in diesem Augenblick hätte er nichts lieber getan, als Nero dafür zu töten, dass er ihr Gewalt angetan hatte.
«Du hast mir nie wirklich erzählt, wie es dazu kam, dass du Livia so schnell geheiratet hast», erklärte Marcus und lehnte sich neben Gaius an den Tisch.
«Ich habe sie das erste Mal auf meiner Geburtstagsfeier gesehen. Es war kurz nach ihrer Rückkehr. Nero war nicht gerade diskret. Sie hatte eine aufgeplatzte Lippe und ein blaues Auge, das sie versucht hatte, mit Fassung zu tragen, obgleich sie natürlich alle meine Gäste anstarrten. Mich eingeschlossen. Doch trotz allem konnte ich nicht umhin zu denken, dass sie die schönste und begehrenswerteste Frau war, die ich je gesehen hatte. Auch wenn ich sie zuvor nicht kannte, tat es weh zu sehen, wie Nero vor aller Leuten mit ihr sprach. So als wäre sie ein Nichts. Als wäre sie es gar nicht Wert, seine Frau zu sein.»
Ein leichtes Knurren entwich Marcus' Kehle. Unbeirrt fuhr Gaius fort.
«Ich weiß nicht warum, doch irgendwann hatte Livia den Saal verlassen und Nero ging ihr wütend hinterher. Ich hatte ein ungutes Gefühl dabei und folgte ihnen. Es war nicht schwer, sie zu finden, denn Nero schrie sie an und hielt sie gepackt. Als er sie schlagen wollte, schritt ich sofort ein und befahl den Wachen, ihn zu ergreifen. Aber ich konnte nicht viel tun. Sie war seine Ehefrau und so musste ich mit ansehen, wie sie zusammen mein Haus verließen. Am nächsten Tag musste ich nach ihr sehen und sichergehen, dass es ihr gut ging.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, dass Nero deine Einmischung einfach hingenommen hat?»
«Hat er auch nicht. Sie sah schlimm aus.» Gaius schüttelte den Kopf. «Du kannst dir nicht ausmalen, wie schlimm. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe meinen Wachen, die mich eskortiert hatten, einfach den Befehl erteilt, Livias Sachen aus dem Haus zu tragen und zu mir zu bringen, während ich sie selbst in mein Haus begleitete. Nero war an dem Tag außer Haus, also konnte er uns nicht aufhalten. Am nächsten Tag habe ich ihn noch einmal alleine aufgesucht. Ich hatte ihm offenbart, dass Livia von nun an bei mir leben würde und zwang ihn dazu, sich von ihr scheiden zu lassen.»
«Ein Wunder, dass du ihn nicht töten hast lassen. Das hätte die ganze Sache einfacher gemacht.»
«Die Versuchung war groß», erwiderte Gaius, ohne mit der Wimper zu zucken. «Vor allem, nachdem er die Jungen für sich gefordert hatte. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht mit dem Gedanken spiele, ihn töten zu lassen. Doch die aktuelle politische Situation ist heikel genug. Eine schwangere Frau in mein Haus zu holen war schon schwierig genug. Ich habe einige Hebel in Bewegung setzen müssen, um sie überhaupt ehelichen zu können, ganz zu schweigen von dem Skandal, den ich damit provoziert hatte. Doch das war mir egal. Ich wollte sie von Nero erlösen und ich wollte sie für mich haben.»
«Ich dachte mir schon, dass mehr hinter dieser überstürzten Heirat gesteckt haben muss. Ihr guter Name allein hätte dich sicher nicht dazu gebracht, zu solch drastischen Mitteln zu greifen.»
«Ihr Name war das einzige, was ihr geblieben war, nachdem ihr Vater sie und ihre Halbschwester schutzlos zurückgelassen hatte.»
«Hatte sie keine Angst vor dir? Immerhin warst du wenige Wochen zuvor noch ihr schlimmster Feind.»
«Sie hat schnell erkannt, dass sie vor mir nichts zu befürchten hat, und sie war mir durchaus zugetan. Aber ich wusste, dass ich etwas Großes tun musste, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Also habe ich angefangen, auf eigene Faust nach Xenia zu suchen. Es dauerte Wochen, bis ich eine Spur hatte, doch schließlich machte ich den Mann ausfindig, an den Xenia nach der Hinrichtung ihres Herrn verkauft wurde. Es war ein Hof abseits von Rom. Ich kannte den Besitzer - Lucius Munatius Plancus - sogar flüchtig und so meldete ich mich als Gast an. Er ließ es sich natürlich nicht nehmen, eine große convivia auszurichten. Als es schlussendlich zu dem Teil kam, an dem wir uns Mädchen oder Knaben nehmen konnten, versuchte ich Xenia unter den Sklavinnen ausfindig zu machen. Von Livia hatte ich nur eine grobe Beschreibung, also setzte ich alles auf eine Karte und nahm eines der Mädchen, das am ehesten auf die Erklärung passte. Die ersten Nächte hatte ich Pech gehabt, doch in der vierten Nacht hatte ich Glück und fand sie schließlich.»
«Woher wusstest du, dass es die Richtige war?»
«Ich habe den Mädchen Fragen gestellt, die nur jemand wissen konnte, der in Livias Umfeld aufgewachsen war. Zunächst glaubte sie mir nicht, dass ich Livias Ehemann war, da sie Nero noch für eben jenen hielt. Sie sah schlimm aus. Abgemagert und misshandelt. Plancus war für seinen harten Spaß bekannt und die Mädchen und Knaben, die er für die Orgien auserwählt hatte, waren alle bereits entsprechend zugerichtet. Sie war schon dabei, ihre Pflichten als Liebesdienerin zu erfüllen, doch ich hielt sie davon ab. Schließlich bekundete ich Plancus gegenüber mein Interesse an seiner kleinen Lustsklavin und kaufte sie ihm ab. Ich brachte sie zurück zu Livia und meine Frau konnte es nicht fassen, dass ich ihre Schwester wahrhaft gefunden hatte. Ich unterschrieb die Freilassungsurkunde für Xenia und Livia entschied, dass sie am besten als ihre Sekretärin arbeiten sollte, um keinen Verdacht zu erregen. Ansonsten ließ ich den beiden freie Hand und schritt nur da ein, wo sie meine Unterschrift brauchten. Und ich half Livia dabei, ihr rechtmäßiges Erbe zurückzubekommen.»
«Das erklärt immerhin, warum Xenia mich hasst», seufzte Marcus und sein Blick schweifte ab. Mit Gaius konnte er immer offen reden. Keinem anderen Menschen, nicht einmal mit Kiana, konnte er diese Gedanken und Ängste teilen, die ihn spätestens seit Sophias Geburt umtrieben. Kiana kannte mittlerweile zwar seine Familiengeschichte, wenn auch nur in groben Zügen, doch Gaius hatte sie miterlebt.
«Nun, es ist ein Wunder, dass sie solange überlebt hat. Aber es rechtfertigt nicht, dass sie dir misstraut. Sophia macht auf mich nicht gerade einen ängstlichen und misshandelten Eindruck. Jedenfalls nicht, wenn sie mit meiner Tochter zusammen ist.»
«Natürlich nicht. Sophia mangelt es an nichts. Aber Xenia hat durchaus den wunden Punkt in meiner Beziehung zu meiner Tochter erkannt. Ich lasse ihr zu viele Freiheiten und das kann auf Dauer nicht so weiter gehen. Vielleicht ist es das Los aller Sklavenkinder, egal, wie sehr ihre Väter sie lieben. Es scheint immerhin so, als hätte ihr Vater ihr einst auch eine angenehme Kindheit ermöglicht. Sophia ist fast vier Jahre alt und langsam wird es Zeit, dass ich ihr erkläre, dass ich für die Öffentlichkeit ihr Herr bin und das sie mich als solchen bezeichnen muss. Xenia hat genau den Punkt angesprochen, welchen ich seit ihrer Geburt fürchte. Was mache ich mit Sophia, wenn sie aus der Rolle fällt? Wie hart werde ich sie dafür bestrafen müssen?»
«Nicht jede Strafe muss in Gewalt ausarten. Dein Vater war in der Hinsicht nicht gerade das leuchtende Beispiel», erwiderte Gaius ruhig.
«Ich weiß, aber Worte können genauso weh tun. Und wenn ich den Gehorsam und Respekt von Sophia einfordere, den sie mir in der Öffentlichkeit entgegenbringen muss, dann werde ich ihr damit weh tun. Vor allem, weil sie sieht, dass es bei Vipsania anders ist. Oder bei Julia. Von unseren legitimen Töchtern erwarten wir nicht das gleiche Maß an Gehorsam, wie von einer Sklavin.» Marcus schluckte und sah Gaius ernst an. «Ich hatte Kiana einst versprochen, dass unser Kind nie spüren wird, dass sie meine Sklavin ist.»
«Und das hast du auch nicht. Sophia vergöttert dich. Das sieht jeder, der Augen im Kopf hat.»
«Und trotzdem schaut mich Kiana immer mit diesem hilflosen Blick an, wenn ich andere Sklavenkinder bestrafen muss. Ich weiß, dass Xenia ihr einredet, dass sie Sophia nicht vor mir schützen kann, wenn ich auch Sophia einmal maßregeln muss. Ich weiß, dass Kiana heimlich Geld spart, um sie von mir eines Tages freikaufen zu können.»
Nun war es Gaius, der überrascht blinzelte.
«Und das erlaubst du ihr?»
Marcus zuckte mit den Schultern und erwiderte: «Natürlich erlaube ich es ihr, auch wenn ich das Geld nie annehmen würde.» Marcus schüttelte den Kopf. Er hatte es in dem Moment gewusst, als sie ihn gefragt hatte, ob sie das Geld, dass sie als seine Sekretärin verdiente, überhaupt behalten dürfte. Doch Sophias Freilassung lag alleine in seinen Händen. Das würde er sich nicht nehmen lassen.
«Es gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit. Sie versteckt sie es in einer losen Diele in Sophias und Vipsanias Schlafzimmer vor mir. Und bloß bei dem, was ich ihr in den letzten Jahren über gezahlt habe, sollte einiges zusammen gekommen sein.» Marcus lachte freudlos. «Ich habe mir sogar manchmal den Spaß gemacht, ihr noch ein paar Denare zusätzlich zu geben. Ich wollte, dass sie sich etwas Schönes davon kauft und als ich sehen wollte, was sie sich gekauft hat, ist sie immer so süß ins Stottern geraten. Ein paar Ausflüchte später, hat sie dann eingewilligt, dass ich sie in die Stadt begleite. Ich habe natürlich den verständnisvollen Herrn gespielt, der versteht, dass sie sich als Sklavin und als Frau nicht alleine auf den Markt traut. Es war durchaus amüsant, mit anzusehen, wie sie sich windet, wenn sie von dem Geld etwas kaufen sollte. Am Ende habe ich dann die Sachen, auf die sie am meisten ein Auge geworfen hatte, gekauft. Gerade gallisches Handwerkszeug, dass sie an ihre Heimat erinnert, hat es ihr angetan. Und da der Schmuck ohnehin zu teuer für eine einfache Sklavin war, glaube ich nicht, dass ihr aufgefallen ist, dass ich sehr genau weiß, was sie mit dem Geld vorhat.» Bei der Erinnerung musste er tatsächlich kurz lachen, ehe sein Gesicht wieder schmerzhaft ernst wurde. «Spätestens aber mit ihrer erneuten Schwangerschaft wusste ich, dass ich Recht hatte. Es hat nicht gereicht, dass sie weinend zusammengebrochen ist. Nein, sie hat sich auch in Sophias Zimmer geschlichen, den Beutel mit dem Geld herausgeholt und es eifrig nachgezählt und ihre Hand immer wieder auf ihren Bauch gelegt.» Marcus schluckte. Es war der Moment, in dem er wusste, dass er sie vor der Geburt freilassen musste. Kiana war zu Tode betrübt gewesen, weil sie erneut sein Kind empfangen hatte. «Und nun ist ihr Wunsch in Erfüllung gegangen. Sie kann keine Kinder mehr bekommen», fügte er noch voller Bitterkeit hinzu.
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