Kapitel 7 - Das Spiegelbild des Schicksals



Vorsichtig öffnete Kiana die Augen. Einen Moment lang war alles verschwommen, die Konturen um sie herum schienen wie von einem Schleier verhüllt. Wo war sie? Langsam wurden die Umrisse klarer, und vor ihr entfaltete sich ein Meer aus sanftem Grün, durchzogen von einer Explosion bunter Blumen, die wie Farbtupfer auf einer Leinwand wirkten. Eine Wiese?
Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen, ihre Schritte wackelig, als wäre sie gerade erst geboren in dieser fremden Welt. Der Duft der Blumen, süß und belebend, mischte sich mit der frischen Brise, die ihr sanft durch das Haar strich. Instinktiv fuhr sie mit der Hand durch ihre lange, blonde Mähne, die ungezähmt um sie herum wehte. Zum ersten Mal seit Jahren war ihr Haar weder frisiert noch gebändigt – es fiel wild und frei, so wie in ihrer Kindheit. Sie bemerkte, wie es ihr bis über den Rücken und die Hüften strich, ein seltsam vertrautes, aber längst vergessenes Gefühl. Kiana holte tief Luft, atmete die klare, blumige Luft ein, die nach Freiheit und Frieden roch. Keine Schmerzen in ihrem Bauch, keine Last auf ihren Schultern. Eine tiefe, ruhige Freude durchströmte sie, so rein, dass sie für einen Moment alles andere vergaß. Sie fühlte sich befreit und losgelöst von allem, was sie je belastet hatte.
Langsam wagte sie ein paar Schritte weiter und das hohe Gras streifte ihre Beine. Doch die Frage blieb: Wo war sie? Dieser Ort war ihr völlig unbekannt, und doch fühlte er sich tröstlich an, wie ein Traum, den man nicht verlassen wollte.
Am Ende des Weges bemerkte sie ein sanftes Licht, das durch die Blumen und Gräser schimmerte. Vor diesem Licht standen zwei Gestalten, still, aber vertraut, als warteten sie nur auf sie. Irritiert rieb Kiana sich die Augen, blinzelte und versuchte, genauer hinzusehen.
Die beiden kamen ihr entgegen. Eine zierliche Frau mit langem, rötlichem Haar und ein großer, kräftiger Mann mit denselben goldblonden Haaren wie sie. Sein Schnauzer war unübersehbar, ein Merkmal, das ihn so eindeutig von den Römern unterschied wie ein goldverzierter Torc von einem schlichten Lorbeerkranz.
Kiana stockte der Atem. Erneut rieb sie sich die Augen, als wollte sie sicherstellen, dass das hier kein Trugbild war. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, trugen ihre Beine sie wie von selbst vorwärts. Sie rannte los, schneller und schneller, bis sie schließlich bei ihnen war.
Sie wusste nicht, wem sie zuerst in die Arme fiel. Es war egal. Beide hielten sie fest, umarmten sie mit einer Wärme, die sie fast vergessen hatte. Hände fuhren sanft über ihr Haar, und Lippen drückten Küsse auf ihre Stirn. Ein Orkan aus Emotionen brach aus ihr heraus. Weinend brach Kiana zusammen. Die Erleichterung und Freude, die sie verspürte, waren überwältigend.
«Ich habe euch so vermisst», schluchzte sie, ihre Stimme erstickt von den Tränen.
Ihre Eltern ließen sie nicht los. Sie sanken mit ihr auf den Boden, die Arme immer noch fest um sie gelegt. Während ihr Vater sie weiterhin schützend hielt, strich ihre Mutter ihr sanft über den Rücken.
«Komm, mein Kind, lass uns ein Stück gehen», flüsterte ihr Vater und streckte ihr die Hand entgegen. Sanft zog er sie hoch. Seine großen, warmen Hände umfassten die ihren, als er sie von dem Licht wegführte. An ihrer anderen Seite legte ihre Mutter eine Hand auf ihre Schulter, eine Geste, die beruhigte und gleichzeitig tiefe Erinnerungen wachrief.
Schweigend folgte Kiana ihnen. Ihre Augen nahmen jede Bewegung ihrer Mutter auf – die sanfte Anmut, mit der sie ging, die Eleganz in ihren Gesten. Sie hatte fast vergessen, wie sie war, wie sie sich bewegte und wie sie ihren Vater ansah. Diese Blicke voll tiefer Liebe. Es schmerzte sie, daran erinnert zu werden, und gleichzeitig fühlte es sich wie ein Geschenk der Götter an.
Sie liefen, bis sich vor ihnen eine Bucht öffnete. Das sanfte Rauschen des Meeres begrüßte sie, ein Klang, der sich wie eine Decke um ihre aufgewühlten Gedanken legte. Kiana blieb stehen, die salzige Brise strich ihr über das Gesicht. Vor ihr breitete sich der unendliche Horizont aus, doch erneut zog ein Licht ihren Blick an. Diesmal war es strahlender, heller, fast zu intensiv. Es blendete sie und dennoch konnte sie nicht wegsehen.
«Denk noch nicht darüber nach, a stórín*», flüsterte ihr Vater. Seine Stimme war beruhigend, doch die Sehnsucht nach dem Licht nagte an ihr. Widerwillig wandte sie den Blick ab. Das Licht versprach alles, wonach sie sich sehnte: Ruhe, Frieden, das Ende von Schmerzen, Ängsten und vor der Verantwortung, die sie so niederdrückte. Es versprach die sanfte Umarmung der Ewigkeit. Und plötzlich wusste sie, was es war.
«Das ist das Tor zur Anderswelt, habe ich recht?», flüsterte sie mit brüchiger Stimme.
Ihre Eltern antworteten nicht sofort. Stattdessen blickten sie ebenfalls auf den weiten Ozean. Kiana wandte sich zu ihnen, ihre Stimme zögerlich. «Was macht ihr hier?»
Ihre Mutter hob die Hand, streckte sie sanft aus und legte sie an Kianas Wange. «Wir haben auf dich gewartet, mo chridhe**», sagte sie mit einer Zärtlichkeit, die Kiana beinahe zum Weinen brachte.
Ein leises Seufzen entkam ihr. Sie wusste, was das bedeutete. «Bin ich ...?»
Ihr Vater schüttelte den Kopf. «Nein, noch nicht.»
Seine Worte ließen etwas in ihr aufatmen, und doch keimte eine neue Unruhe auf. «In der anderen Welt kämpfen sie gerade verzweifelt um dein Leben», erklärte er ihr weiter. «Deine Familie tut alles, um dich zurückzuholen.»
Kiana schluckte schwer. «Meine Familie?» Ihre Stimme zitterte leicht. «Ihr wisst von meiner Familie?» Sie sah erst ihren Vater, dann ihre Mutter an, ein Funken Unglaube in ihrem Blick. «Von Marcus und Sophia?»
«Natürlich wissen wir von ihnen, mein Liebling», antwortete ihre Mutter sanft. «Wir waren die ganzen letzten Jahre bei dir und haben dich beobachtet.»
Die Worte trafen sie tief. Ihre Stimme wurde leise, kaum hörbar. «Es ... es tut mir leid, dass ihr wegen mir sterben musstet», flüsterte sie, während ihr Blick suchend zwischen ihnen hin- und herwanderte. «Hätte ich gewusst, welche Konsequenzen mein Handeln haben würde, hätte ich mich nie geweigert.»
Doch ihr Vater schüttelte energisch den Kopf, eine Entschlossenheit in seinen Augen, die sie innehalten ließ.
«Wir hätten dich niemals einem Mann gegeben, der dich nicht respektiert», erklärte ihr Vater entschieden. «Und wir sind froh, dass du nun einen Mann gefunden hast, der dich wirklich liebt und respektiert», fügte ihre Mutter hinzu. «Und den du auch liebst.» Ein Lächeln umspielte Kianas Lippen bei dem Gedanken an Marcus.
«Ich hatte mehr Glück, als ich verdiene.» Die Sklaverei sollte eine Strafe sein, und das war sie auch. Doch mit Marcus an ihrer Seite wurde vieles erträglicher. Ihre Liebe zu ihm war trotz aller Umstände tief und ehrlich. Nie hätte sie ihm etwas vorgespielt, nur um ihr Schicksal zu mildern. Doch ihr Vater schüttelte den Kopf.
«Nein, mein Kind. Du warst mutig und wurdest dafür belohnt. Du hättest den leichten Weg wählen können, aber du hast dich immer entschieden, deinem Herzen treu zu bleiben.»
«Er ist ein guter Mann», flüsterte Kiana, und vor ihrem geistigen Auge blitzte das Bild ihres Geliebten auf. «Er hat sich nie über meinen Willen hinweggesetzt und behandelt mich gut. Auch wenn er ein Römer ist... Ich weiß, das hättet ihr nie für mich gewollt. Aber er ist keine Bestie.»
Ihre Mutter griff nach ihrer Hand und lächelte sie an.
«Das weiß ich, mein Schatz. Ich weiß, ich war oft sehr hart in meinem Urteil gegen sie. Aber solange er deiner würdig ist, ist es mir egal, ob er ein Gallier oder ein Römer ist.»
«Hättet ihr mich freiwillig an ihn übergeben?»
Ihr Vater seufzte und blickte nachdenklich zum Horizont.
«Ich weiß es nicht. Aber als ich ihm damals in Gallien begegnet bin, war ich von ihm wirklich angetan.» Kiana erinnerte sich daran, dass ihr Vater Marcus kennengelernt hatte. Etwa ein Jahr, vor seinem Tod, war Marcus als neuer Statthalter nach Gallien gekommen. «Besser als seine Vorgänger war er auf jeden Fall. Vielleicht etwas zu jung und ehrgeizig, aber das hat sich, von dem, was wir in den letzten Jahren beobachtet haben, ja nicht unbedingt geändert. Wenn du dich schon damals in ihn verliebt hättest und er dich als Tribut gefordert hätte, hätte ich es wohl erlaubt. Er hätte dich nur niemals gewaltsam entreißen dürfen.»
Kiana seufzte und blickte zum Horizont. Eine alternative Welt tat sich vor ihr auf. «Marcus...», flüsterte sie, als sie sein Gesicht erkannte. Sehnsüchtig streckte sie ihre Hand nach ihm aus, wollte ihn berühren, wollte bei ihm sein. Er sah genauso aus wie der römische General, den sie kennengelernt hatte – etwas jünger, aber mit einem steinharten Gesicht. Seine Männer hatten sich hinter ihm versammelt, als er in ihr Dorf geritten kam. Mit einem eleganten Schwung war er von seinem schwarzen Pferd abgestiegen. Dionysos, wie Kiana erkannte – sein treuer Hengst.
Kiana lief näher zu ihm, wie von seiner Präsenz angezogen. Sehnsüchtig richtete sich ihr Blick auf ihren Geliebten, als dieser zu sprechen begann.
«Ave, Domine Segusii***», sagte er, seine Stimme fest und doch warm. Der jugendliche Leichtsinn war unmerklich in seinem Gesicht zu erkennen – vielleicht nur für Kiana, da sie diesen Mann kannte wie kaum einen anderen. Ihr Vater, stolz und mächtig wie in Kianas Erinnerung, trat auf Marcus zu.
«Salve, Praefecte Romanorum****», begrüßte ihr Vater ihn mit einem Akzent.
Jetzt erkannte Kiana, dass die Götter ihr diesen Traum zeigten. Der Gedanke, der sie seit Jahren immer wieder verfolgte. Ihr Vater stellte Marcus ihre Mutter vor, ihren Bruder, ihre Tante und schließlich sie. Kiana sah sich selbst wie in einem Spiegel. Sie war gerade achtzehn geworden. Der Sommer hatte das Land erfüllt. Noch vor dieser verhängnisvollen Nacht mit Haerviu, noch vor ihrer Versklavung. Sie war die Fürstentochter. Ihr langes blondes Haar war zu einem schönen Zopf geflochten, und auf ihrem Haupt trug sie einen goldenen Reif, der ihre Stellung unterstrich.
Sanft neigte sie vor Marcus den Kopf, ehe sie ihn wieder hob und verstohlen musterte. Auch er neigte sanft den Kopf, bevor ihr Vater ihn zum Gastmahl einlud. Die Szene löste sich in einem Strudel auf und im nächsten Moment saß Kiana neben Marcus.
Sie hörte sich lachen, während sie das Bier in ihrer Hand trank. Der neue Statthalter hatte den Platz neben ihr gewählt – sehr zur Überraschung aller. Doch auch sein Blick war auf Kiana gerichtet. Sanfte Grübchen gruben sich um seine Augen und in seine Wangen, als er ebenfalls lachte.
«Vere loquuntur Lingua Vestra*****», lobte er ihre Lateinkenntnisse, was Kiana erröten ließ.
«Potio bibitur auxilio******», erwiderte sie, da es der Wahrheit entsprach. Der Alkohol hatte ihre Zunge gelöst. Die anfängliche Zurückhaltung, dem eindrucksvollen Mann gegenüber, war verschwunden. Er war nur ein paar Jahre älter als sie und ihr Bruder, und schon so weit oben angekommen. Doch er war ein angenehmer Zeitgenosse. Von der ersten Sekunde an hatte sie sich in seiner Gegenwart wohl gefühlt.

Wieder löste sich die Szene auf. Diesmal war sie allein mit ihm. Sie hatten sich im Wald auf einer Lichtung verabredet, weit abseits des Dorfes und des Castrums. Über ihnen lag der Vollmond, der nur schwaches, silbernes Licht auf den Boden warf. Der Wald war still – fast zu still. Das Knistern der Blätter unter ihren Füßen war das einzige Geräusch, das sie hörte, als Kiana vorsichtig durch das Dickicht schlüpfte, den Atem angespannt, immer wachsam.
Marcus wartete dort, nur von der Mondlichtbarke erleuchtet, fast als wäre er ein Teil des Waldes selbst. Er trug noch immer seine römische Uniform. Der Helm lag auf einem Baumstumpf, die glänzenden Metallplatten seines lorica segmentata reflektierten das schwache Licht, das durch die Baumkronen sickerte. An seiner Seite hing das gladius, das in einem schlichten Ledergriff befestigt war.
«Ich war mir nicht sicher, ob du kommst», sagte er, und seine Stimme klang im stillen Wald fast zu laut. Er strahlte sie an, doch Kiana konnte die tiefe, fast unmerkliche Anspannung in seinem Blick erkennen. Ein solches Treffen war gefährlich und riskant und Kiana wusste das nur zu gut. Ihr Volk würde sie verachten, wenn sie herausfänden, dass die Tochter des Fürsten sich heimlich mit dem römischen Statthalter traf.
«Ich hatte es Euch versprochen, Statthalter», erwiderte Kiana, die sich bemühte, ihre Unsicherheit zu verbergen, als sie auf ihn zutrat. Das Rauschen des Windes in den Bäumen schien plötzlich lauter als je zuvor. Sie wusste, dass sie nicht nur ihren Ruf aufs Spiel setzte, sondern ihr ganzes Leben, das Leben ihrer Familie und vor allem ihre Ehre.
«Das bedeutet nicht, dass du es dir nicht anders überlegen könntest», sagte er, die Worte ruhig, aber ernst. «Es ist leichtsinnig, sich mit mir zu verabreden. Alleine im Wald. Hier, abseits der Wachen, die dich vor mir beschützen könnten.»
Kiana schüttelte den Kopf und blickte ihm fest in die Augen.
«Ich habe keine Angst vor Euch, Statthalter.»
Marcus trat einen Schritt näher, und sie spürte die Nähe des Mannes, der so fremd und doch vertraut war. Der Geruch von Leder, von Metall und vom Wald umgab ihn. Sie konnte fast den harten Schlag seines Herzschlags spüren, der genauso laut in ihr dröhnte wie ihr eigener. Er war so nah, dass sie seinen Atem auf der Haut spüren konnte, und doch wich sie nicht zurück. Ihr Blick blieb fest auf ihm gerichtet.
«Ich würde auch nie etwas tun, was dir schadet, Kiana», sagte er, seine Stimme leiser, als wolle er ihr diese Zusicherung in der Dunkelheit des Waldes geben. In seinen Augen lag etwas, das sie bei ihm noch nie gesehen hatte: eine Art Verletzlichkeit, die in seinem gewöhnlichen Leben – im römischen Lager, zwischen den Soldaten und den Politikern – nie zu finden war. Für einen Moment schien die Gefahr dieser Begegnung von ihnen abzuperlen, und Kiana fühlte sich seltsam sicher.
«Es ist für uns beide ein Risiko», flüsterte sie schließlich, als die Worte in der kühlen Nachtluft verwehten. Sie wusste, dass sie sich in einem gefährlichen Spiel bewegte – aber sie konnte nicht anders. Sie fühlte sich auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen. «Warum wolltet Ihr mich heute Nacht sehen?»
«Weil ich sehen wollte, ob du mir vertraust», antwortete Marcus, seine Augen so tief wie die Nacht selbst. «Weil ich dich sehen wollte. Abseits von deinen Eltern und Leuten und abseits von meinen Männern. Und vielleicht... weil ich dich mag.»
Ein Zittern durchzog Kiana, als sie seine Worte vernahm. Der Mond schien die Klarheit der Nacht noch weiter zu verstärken. Sie hatte es immer gewusst, auch wenn sie es nie ausgesprochen hatte: Dieses Geheimnis zwischen ihnen war wie ein unsichtbares Band, das sie zwang, näher zu kommen. Aber sie wusste auch, dass es eines Tages zerreißen würde – und sie musste bereit sein, damit umzugehen.
«Lass uns ein Stück gehen», schlug er unerwartet vor, ein leises Lächeln auf den Lippen, das nicht ganz die Ernsthaftigkeit der Situation verschwinden ließ. Er wandte sich in Richtung Wald, und Kiana folgte ihm. Der Mond war ihre einzige Quelle des Lichts, als sie gemeinsam in die Dunkelheit des Waldes hinaustraten.

Wieder löste sich die Szene auf, und im nächsten Moment fand sich Kiana an einem anderen Ort wieder. Eine andere Nacht, ein anderes Kleid, und der Fluss rauschte leise im Hintergrund. Der Mond war hoch am Himmel, doch die Bäume und das dichte Geäst vor ihnen ließen nur wenig von seinem Licht auf den Boden fallen. Sie hatte sich wohl schon öfter heimlich aus dem Dorf geschlichen, um ihn zu treffen. Die Dunkelheit war ihr vertrauter Begleiter geworden. Hier, am Rand des Waldes, in der Nähe des Flusses, fühlte sie sich sicher.
Diesmal stand Marcus dicht vor ihr. Ohne ein Wort legte er seine Hand an ihren Nacken, zog sie zu sich und küsste sie. Der Kuss war sanft, doch durchzogen von einer Intensität, die sie fast den Boden unter den Füßen verlieren ließ. Sie hatte diese Küsse so sehr vermisst, so sehr geliebt. Doch in dieser Nacht, in dieser Traumversion von Marcus, hielt er sich zurück. Keine Forderungen, keine verlangenden Hände. Er nahm sich zurück, als müsste er sich selbst zügeln.
Mit einem Seufzen löste er sich von ihr und überrascht sah sie ihn an. Warum beendete er den Kuss so schnell? Was war passiert?
«Ich wollte dich wenigstens einmal küssen, bevor ich dir Lebewohl sage, Kiana», sagte er leise, fast wie eine Entschuldigung.
Ungläubig blinzelte Kiana und sah ihn flehend an. «Ihr geht fort?» Die Frage hatte etwas von einer Enttäuschung in sich, als würde ihr die Welt unter den Füßen wegbrechen.
Marcus' Augen verengten sich, und für einen Moment schien er über das Unglück der Situation mit sich selbst in Konflikt zu stehen.
«Ich muss Richtung Westen. Ein Aufstand dort verlangt nach meiner Anwesenheit.»
«Und wann kommt ihr wieder?» Kiana spürte, wie ihre Stimme zitterte. Der Gedanke, dass er wirklich gehen würde, brachte ihre Welt ins Wanken.
«Meine Zeit als Statthalter läuft bald aus. Ich denke, nachdem ich dort fertig bin, werde ich nach Rom zurückkehren.» Er wirkte dabei fast entschlossen, als ob er sich bereits von allem verabschiedet hatte, was er hier zurückließ.
Kiana fühlte, wie ein kaltes Ziehen in ihrem Inneren begann. Ihre Stimme war fast ein Flüstern, als sie ihn anflehte. «Bitte, geht nicht.» Sie ergriff mit beiden Händen seine und zog ihn zu sich, als wäre er das einzige rettende Ufer in einer stürmischen See. «Ich... Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll, wenn Ihr fortgeht.»
Marcus sah sie mit einem schmerzhaften Ausdruck an. «Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben. Aber du weißt, dass es nichts ändern würde.» Er atmete tief ein, als würde er sich die ganze Tragödie dieser Verbindung bewusst machen. «Ich hätte mich nie in dich verlieben dürfen, Kiana. Es hat keine Zukunft...»
«Wieso nicht?» Ihre Stimme klang verzweifelt. «Was kann ich tun, um bei Euch zu bleiben?»
Er schüttelte den Kopf, und seine Miene wurde weicher, als er sie ansah. «Du kannst nichts tun. Ich würde dich nie...» Er legte behutsam eine Hand an ihre Wange, als wollte er sie vor der ganzen Welt da draußen schützen. «Die letzten Wochen mit dir waren wunderschön, aber dein Platz ist hier, Kiana. Hier bei deinem Volk, bei deiner Familie. Ich könnte dich nicht dazu zwingen, alles, was du kennst und liebst, hinter dir zu lassen.»
«Und wenn ich freiwillig mit dir komme?» Kiana stellte die Frage, obwohl sie wusste, wie unmöglich der Gedanke war. Marcus blinzelte überrascht. «Gibt es eine Möglichkeit, um freiwillig mit dir zu kommen? Würdest du mich dann mitnehmen?» Er seufzte und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen.
«Ich könnte dich als Tribut von deinen Eltern fordern. Dann könnte ich dich als Geisel mit nach Rom nehmen.»
Kiana trat einen Schritt näher. Ihre Augen flimmerten vor einer Mischung aus Hoffnung und Entschlossenheit. «Wenn ich mit dir als Tribut nach Rom käme, dann könnte ich alles hinter mir lassen. Alles. Meine Verlobung mit Haerviu, das Leben, das ich nicht mehr ertragen kann. Ich will zu dir kommen, Marcus. Es ist das Einzige, was für mich noch einen Sinn ergibt.»
Marcus' Miene wurde ernster, seine Augen suchten die ihren, als versuchte er, die Wahrheit hinter ihren Worten zu erkennen. «Du würdest also alles aufgeben, Kiana? Deine Familie, dein Leben als Tochter des Stammesführers, um mit mir zu kommen?» Seine Stimme war leise, fast ungläubig.
«Ja», flüsterte sie. «Für ein Leben, das ich selbst gewählt habe. Für die Freiheit, die ich mir wünsche. Und für den Mann, mit dem ich zusammen sein will. Lieber wäre ich deine Frau statt Haervius.»
Marcus' Blick wurde weicher, aber auch trauriger. «Ich kann dich nicht zu meiner Ehefrau machen, Kiana. Aber ich könnte dich als meine Konkubine nehmen.»
Die Dunkelheit der Nacht hüllte sie ein, und der Mond schien schwach durch die Bäume. Kiana fühlte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie die Nähe von Marcus suchte.
«Es würde nicht einfach für uns werden», fügte er leise hinzu. «Die politische Lage ist instabil. Deine Familie wird mich hassen, und dein Stamm wird alles tun, um dich zurückzuholen. Aber ich verspreche dir, Kiana, du wirst niemals ohne Schutz sein und du wirst nie unter meinem Dach etwas anderes als Respekt finden.»
Für einen Moment herrschte Stille. Kein Geräusch, außer dem Rascheln der Blätter und dem sanften Rauschen des Flusses. Kiana legte ihre Hand auf seine Brust und spürte das gleichmäßige Schlagen seines Herzens. Sie wusste, dass dies der Moment war, der ihr Leben verändern würde.
«Dann ist es das Risiko wert», flüsterte sie.
Marcus zog sie enger an sich, und seine Lippen fanden die ihren. Der Kuss war tief, intensiv und voll von all der Emotion, die zwischen ihnen stand. Als er sich von ihr löste, flüsterte er: «Ich werde dich nicht enttäuschen, Kiana. Aber du musst verstehen: Deine Familie und dein Stamm dürfen niemals erfahren, dass du freiwillig mit mir kommst. Wenn wir das durchziehen, muss ich dich zuerst als meinen Tribut fordern und dann die Verlobung zu Haerviu offiziell lösen.» Kiana nickte, eine Mischung aus Erleichterung und Angst in ihren Augen. «Ich vertraue dir, Marcus. Wenn das der einzige Weg ist, dann werde ich diesen Weg mit dir gehen.»

Wieder löste sich die Szene auf und Kiana fand sich in einem völlig anderen Raum wieder. Sie stand im Langhaus ihrer Eltern und sofort spürte sie die Schwere der Luft. Der Raum war groß, die Decke hoch und gewölbt, aus dicken Balken, die mit Schilfrohr und Lehm bedeckt waren. Das Feuer in der Mitte des Raumes knisterte und verbreitete wohltuende Wärme, während der Rauch durch den oberen Dachbereich des Hauses entwich. Es roch nach Holz, Rauch und feuchtem Moos – der vertraute Duft ihres Zuhauses, doch heute fühlte sich alles fremd an.
Die Wände waren mit Tierhäuten und einfachen Stoffen behangen, die teils von Handelsreisen aus fernen Orten stammten. Zwischen den Fellen und Holzverkleidungen waren kunstvolle Schnitzereien eingearbeitet. Auf den Regalen standen Waffen, Töpferwaren, edelmetallverzierte Gefäße und andere Artefakte, die den Status des Fürsten symbolisierten.
Der Raum war in zwei Hälften geteilt. Auf der einen Seite saßen die führenden Männer und Frauen des Stammes, deren ernste Gesichter im flackernden Licht des Feuers fast unheimlich wirkten. Sie standen um die Ehrentribüne, wo der Fürst thronte, ein hoher Sitz aus geschnitztem Holz, geschmückt mit kunstvollen Verzierungen und symbolischen Tierdarstellungen. Kiana konnte den Blick der Versammelten spüren, doch ihre Augen suchten nach dem einen Gesicht: Marcus. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite, direkt vor ihrem Vater, umgeben von seinen Soldaten. Das Licht des Feuers ließ sein Gesicht hart und kantig wirken, seine Augen kalt und unbewegt, als er mit ihrem Vater sprach. Kiana spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Die Luft war geladen mit Spannung, und sie konnte den Wind draußen hören, der durch die Ritzen des Hauses pfiff, als würde er den unaufhaltsamen Wandel ankündigen.
Kiana spürte, wie ihr Herz jedes Mal schwerer wurde, als sie Marcus' Stimme hörte. Der Ton, in dem er sprach, war der eines Mannes, der mit der Macht Roms und einer Entschlossenheit sprach, die keine Emotionen kannte. «Ich verlange die Tochter des Stammesfürsten als Geisel Roms», sagte er in einem so ruhigen, fast sachlichen Ton, dass es Kiana durch Mark und Bein ging. «Sie wird zeigen, dass die Segusiavi Rom treu ergeben sind. Es wundert mich ohnehin, dass meine Vorgänger das nicht bereits veranlasst hatten.» Das Wort «Geisel» hing in der Luft wie ein Fluch, ein Wort, das alles, was sie kannte, zunichte machen würde. Ihre Mutter, deren Gesicht sich von blassem Entsetzen zu einer leeren Maske der Verzweiflung wandelte, wich nicht von Marcus' Blick ab. Die Frau, die ihre Tochter ihr Leben lang in Sicherheit gewogen hatte, konnte es nicht fassen, dass Kiana nun in diese entsetzliche Rolle gedrängt wurde.
«Nicht meine Tochter», flüsterte sie und doch nahmen ihre Worte den gesamten Raum ein. Kiana sah zu ihr, spürte den Schock, die Angst und das unendliche Gefühl des Verlustes, das sich in ihrer Mutter breitmachte. Diese Worte hallten in ihrem Innern nach und stachen tiefer als jeder Dolch.
Doch Marcus' Blick huschte nur für einen Moment zu ihrer Mutter. Ohne Regung fuhr er fort: «Eure Tochter wird in Rom keine Sklavin sein. Sie wird als Ehrengeisel behandelt werden, mit allen Privilegien, die das römische Leben zu bieten hat. Sie wird an gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen, ein Zeichen für die Verbundenheit der Segusiavi zu Rom.»
Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort, den Blick nun auf ihren Vater gerichtet. «Dieser Stamm ist Rom doch verbunden, nicht wahr?»
Der Fürst nickte steif. Marcus hatte ihn verbal in eine Falle gelockt. Ein offenes Nein gegenüber seiner Forderung war nicht mehr möglich. «Natürlich sind wir das», sagte er mit brüchiger Stimme, und sein Blick wanderte schuldbewusst zu seiner Tochter. Er nickte sie zu sich, und sie trat zögernd an seine Seite. Ihre Hände zitterten leicht, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben, als ihre Augen auf Marcus trafen.
«Ich gehe gerne mit Euch, Statthalter, um die Loyalität meines Stammes zu repräsentieren», sagte Kiana mit fester Stimme, obwohl ihre Gedanken sich überschlagen und ihre Welt in diesem Moment ins Wanken geriet. Sie wollte ihre Eltern nicht so verletzen und nur zu gerne hätte sie ihnen die Wahrheit gesagt.
Das Gespräch ging schnell vonstatten, als hätte niemand die Zeit für höfliche Worte oder Einwände. Ihr Vater, normalerweise so ruhig und bedacht, schüttelte Marcus' Hand, doch der feste Griff, mit dem er die römische Hand ergriff, verriet eine unterschwellige Spannung, die das Maß an Widerwillen ausdrückte, das er noch zeigen durfte. Der Blick, den er Marcus zuwarf, war kühl, fast abweisend, und in den Augen der versammelten Stammesführer und Krieger war der Zorn kaum zu übersehen. Dann nahm er Kianas Hand, um sie ihm zu übergeben. Die Papyri wurden unterschrieben, die die Bedingungen ihrer Geiselnahme und die Auflösung ihrer Verlobung mit Haerviu festhielten.
Ein letztes Mal umarmte Kiana ihre Familie – zuerst ihren Vater, dann ihren Bruder, dann ihre Tante. Doch der Abschied von ihrer Mutter war das Schwerste. Kiana flüsterte ihr zu, dass sie sich keine Sorgen um sie machen solle. Ihre Mutter war stumm, doch in ihren Augen lag eine Mischung aus Sorge und Angst um ihr jüngstes Kind. Haerviu und sein Vater standen ebenfalls am Rand, und Kiana verabschiedete sich von ihnen mit einem kurzen Kopfnicken, bevor sie von Marcus' Männern in die Mitte genommen und zum Stützpunkt des Statthalters in Lugdunum gebracht wurde.

Wieder löste die Szene sich auf, und Kiana fand sich in einem neuen Raum wieder. Diesmal war es das Schlafzimmer in der Villa des Statthalters in Lugdunum. Marcus stand vor ihr, in seiner einfachen Tunika. Trotz der aufrechteren Haltung, die er stets einnahm, wirkte er weniger wie der unnahbare Statthalter und mehr wie der Mann, der versucht, die Frau zu erreichen, die er liebte – auch wenn er wusste, wie weit entfernt sie war, wie tief der Abschied sie getroffen hatte.
«Geht es dir gut?», fragte er, seine Stimme ruhig, aber die Besorgnis war ihm trotzdem anzumerken. Als er einen Schritt auf sie zumachte, strich seine Hand sanft über ihr Gesicht. Der Kontakt war zart, so als ob er Angst hätte, sie zu verletzen, und seine Augen suchten die ihren mit einer Intensität, die sie fast zerbrach.
Kiana nickte stumm, doch der Schmerz war zu groß, um ihn zu verbergen. Ihre Tränen, die sie in den letzten Stunden so tapfer zurückgehalten hatte, stiegen nun in ihre Augen. Sie spürte, wie die Wellen der Verzweiflung sie ertränkten, und es war der Moment, in dem ihr Widerstand brach. Ihre Wangen feucht von den Tränen, die sich ihren Weg bahnten, ließ sie ihren Blick auf den Boden sinken. Sie fühlte sich so verloren in diesem fremden Raum, in einer Welt, die sich von allem, was sie gekannt hatte, so weit entfernt anfühlte.
Marcus' Blick war weich und voller Mitgefühl, und er hob ihr Kinn sanft mit einer Bewegung, die sie an das erste Mal erinnerte, als er sie an sich Nähe gezogen hatte, als sie sich zum ersten Mal in seinen Augen verloren hatte. «Es ist kein Lebewohl für immer», versicherte er ihr leise, und seine Stimme war so beruhigend, dass Kiana fast glauben wollte, dass es wahr war. «Die ersten Jahre müssen wir in Rom verbringen, aber sobald es die politische Lage zulässt, bringe ich dich zurück.» Kiana nickte, aber der Klang seiner Worte konnte nicht die Leere füllen, die sie fühlte. Doch in Marcus' Umarmung fand sie auch etwas anderes – Geborgenheit. Vielleicht war es der Trost seines festen Griffs und das Versprechen seiner Nähe, das sie durch diese kalte, fremde Zeit zu begleiten schien.
Sie ließ sich in seine Arme sinken, den Kopf an seine Brust gelegt, und schloss die Augen, als wollte sie sich von der Welt abkapseln. In seinen Armen fühlte sie sich sicher. Marcus strich sanft über ihr Haar, als wolle er den Schmerz aus ihrem Inneren vertreiben. «Ich werde alles tun, um dich glücklich zu machen, Kiana», flüsterte er. Kiana hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. In seinen Blicken lag eine Mischung aus Liebe und Fürsorge.
«Ich weiß», flüsterte sie, und ein Hauch eines Lächelns huschte über ihre Lippen, wenn auch nur für einen Moment. «Ich werde mich an das neue Leben gewöhnen, Marcus. Ich werde lernen, mit dir zusammen zu leben.»
«Ich werde dich niemals enttäuschen, Kiana», versprach er, und in seinen Augen war ein Funken Hoffnung zu sehen, als ob er an eine Zukunft glaubte, die noch nicht in Sicht war, aber von beiden gebaut werden könnte.

Erneut löste sich die Szene auf, und Kiana fand sich wieder in dem vertrauten Raum der Villa des Statthalters, diesmal jedoch in einer Atmosphäre, die ihre Sinne berührte. Der Raum war einfach, aber elegant, in seinem kühlen Licht schien alles klarer, fast zart. Marcus stand vor ihr, ruhig und doch von einer intensiven Präsenz erfüllt, die den Raum ausfüllte. Der Augenblick, den sie beide teilten, war jetzt von einer neuen Tiefe durchzogen – eine Tiefe, die nur in der Stille zwischen ihnen existierte.
«Hab keine Angst», flüsterte Marcus leise, als seine Hand sanft über ihr Gesicht strich. Es war eine Berührung, die so zart und doch so vertraut war, dass Kiana sich wie in einem Traum fühlte. Sein Blick, der sie durchdrang, war weich und zugleich voller Entschlossenheit. Sie konnte sehen, dass er alles für sie tun würde und dass er nicht wollte, dass sie sich unwohl oder unsicher fühlte.
«Du musst das nicht tun, wenn du nicht willst. Du weißt das, oder?» Wieder sprach er in jenem beruhigenden Ton, der sie immer wieder in einen Zustand der Ruhe versetzte. Doch diesmal war es anders. Sie wusste, dass es nicht nur um das Tun oder Nicht-Tun ging. Es war der Moment, in dem die Welt um sie herum still zu werden schien. Es war der Moment, in dem sie sich für einen Augenblick völlig verloren fühlen konnte – und doch war er da, der Mann, dem sie vertraute.
Kiana atmete tief ein und suchte dann seinen Blick. «Es ist nicht so, dass ich nicht will», flüsterte sie, ihre Stimme zitterte ein wenig, aber nicht vor Angst, sondern vor der Intensität des Augenblicks. «Ich bin nur... nervös.»
Marcus' Augen wurden weich, und ein sanftes Lächeln spielte um seine Lippen, als er ihr die Sicherheit gab, die sie in diesem Moment so dringend brauchte.
«Ich werde ganz vorsichtig sein, Kiana. Wir haben alle Zeit der Welt.»
Seine Worte beruhigten sie, aber was noch viel mehr zählte, war die Art und Weise, wie er sie ansah – mit einer Zuneigung, die nicht in Worte zu fassen war, aber die sie spüren konnte, tief in ihrem Inneren. Es war, als ob sie von seiner Wärme umhüllt wurde, als ob der Raum selbst sich enger zog, um sie beide zu schützen.
Kiana schloss die Augen, atmete noch einmal tief ein und ließ sich von der Welle der Zärtlichkeit mitnehmen. Es war der Moment, in dem sie sich vollständig der Nähe hingab, in dem die Welt um sie herum verschwand, und nur er und sie übrig blieben. Als er sie dann zärtlich küsste, war es, als ob die Zeit stillstand. Der Kuss war sanft, aber auch von einer tiefen Leidenschaft durchzogen, die sie niemals für möglich gehalten hätte.
Es war ein Kuss, der wie ein Versprechen wirkte – ein Versprechen, das von Nähe, Vertrauen und einer Welt der Zuneigung sprach, die sie zusammen erschaffen würden. Marcus hielt sie fest, aber nicht so, als wäre sie sein Besitz – er hielt sie in einer Weise, die ihr das Gefühl gab, unendlich sicher zu sein. Ihre Hände suchten automatisch seine, als wollten sie sich gegenseitig daran erinnern, dass sie nicht allein waren. Es war kein hastiger, ungeduldiger Moment, sondern einer, der in jeder Bewegung und jedem Blick die Tiefe ihrer Verbindung widerspiegelte.
«Vertraust du mir?», fragte er leise und zärtlich.
«Ich vertraue dir», flüsterte sie voller Überzeugung.

Als sich die Szene wieder auflöste, flimmerte Kianas Leben in wilden, sich ständig verändernden Bildern vor ihr. In diesen flimmernden Visionen sah sie sich als römische Geisel, die mit Marcus nach Rom gegangen war. Zu Beginn war sie von der Vorstellung beflügelt, in der Hauptstadt der Welt zu leben, in einem prächtigen Haus, umgeben von Luxus, und vielleicht – so hatte sie geglaubt – von einer Art Freiheit. Doch schnell musste sie erkennen, dass dieses Leben weit von dem entfernt war, was sie sich erträumt hatte.
Als Geisel war sie von den Mächtigen Roms abhängig, ein politisches Werkzeug, das in einem goldenen Käfig lebte. Zwar hatte sie mehr Freiheiten als als Sklavin, doch ihre Freiheit war stets eingeschränkt. In Marcus' Haus hatte sie ein eigenes Zimmer, aber die Wachen, die ständig um sie waren, erinnerten sie immer wieder daran, dass sie nicht wirklich frei war. Jeder Schritt, den sie tat, wurde beobachtet, jede ihrer Bewegungen, jedes ihrer Worte – alles war von den Erwartungen und der Kontrolle der Römer bestimmt. Selbst wenn sie das Haus verließ, konnte sie das nicht ohne Begleitung tun. Die wenigen Momente, in denen sie sich frei zu fühlen glaubte, zerbrachen an der Realität des Überwachtwerdens.
Das Gefühl der Einsamkeit übermannte sie oft. In einem fremden Land, umgeben von fremden Gesichtern, konnte sie niemanden wirklich um sich haben. Marcus war oft abwesend, beschäftigt mit politischen Angelegenheiten, und obwohl er ihr versicherte, dass er für sie da war, fühlte sich seine Nähe immer mehr wie eine ferne Erinnerung an bessere Zeiten an. Es schien, als sei auch er in der römischen Welt gefangen, so wie sie.
Kiana sah, wie Marcus sich immer wieder mit seinem besten Freund Gaius stritt. Der Streit drehte sich um sie – um ihre Position als Geisel und die Idee, sie zu einer Konkubine zu machen. Gaius sah in ihr nur eine Last und einen Skandal, der ihrer beider Karrieren schaden konnte. Hatte sie wirklich geglaubt, dass sich die politischen Verhältnisse verändert hätten? War sie wirklich so naiv gewesen zu denken, dass sie in dieser Welt einen Platz finden könnte?
Sie fühlte sich wie ein Spielball der Politik, zerrissen zwischen zwei Welten, zwischen den Erwartungen der Römer und den Versprechungen von Marcus. Als sie sich selbst beobachtete, wie sie immer mehr in ihrem Zimmer verschwand, verschloss sie sich nicht nur vor der Welt, sondern auch vor ihren eigenen Gefühlen. Es begann mit Heimweh – das schmerzhafte Ziehen in ihrer Brust, das Verlangen nach den vertrauten Hügeln von Gallien, nach den Gesichtern ihrer Familie. Doch bald war es nicht mehr nur Heimweh, sondern Kummer, der sie quälte. Der Kummer, Marcus dabei zuzusehen, wie er schließlich Caecilia heiratete.
In den vielen stillen Nächten, in denen sie allein in ihrem Zimmer saß, hatte sie das Gefühl, dass ihr Herz mit jedem Tag mehr zerbrach. Die Versprechungen, die er ihr einst gegeben hatte, verblassten wie der letzte Schein eines untergehenden Sonnenuntergangs. Er hatte sie verlassen, obwohl er es nie so formuliert hatte. Und sie sah die Reue in seinen Augen – aber es war zu spät. Zu spät für sie, zu spät für alles. Der Mann, den sie liebte, hatte sich verändert. Der Mensch, der einst an ihrer Seite gewesen war, war jetzt ein Fremder in der Menge der römischen Elite.

Kiana stand noch immer im strahlend hellen Licht, als sich die Bilder vor ihren Augen ein letztes Mal entfalteten. Doch diesmal war es nicht die Parallelwelt, in der sie sich als Marcus' Geisel wiederfand, sondern Erinnerungen an das Leben, das sie mit ihm und ihrer Tochter Sophia geführt hatte. Erinnerungen an die Jahre, in denen sie nicht nur als Sklavin an seiner Seite war, sondern wo sie auch seine Geliebte und die Mutter seiner Tochter war. In diesem Moment wusste sie tief in ihrem Innern, dass sie immer genau dort gewesen war, wo sie hingehörte.
Marcus hatte recht behalten, als er ihr damals erklärt hatte, dass das Leben als Geisel in Rom mit all seinen politischen und gesellschaftlichen Fesseln für sie nie besser gewesen wäre. Auch wenn ihr Leben nicht einfach war, so hatte er sie nie zu einer einfachen Sklavin in seinem Haus degradiert. In den Momenten, in denen die Schatten der Vergangenheit in ihr wie schmerzhafte Wunden, die nie ganz heilten, aufbrachen, war er immer mehr als nur ihr Herr gewesen. Er hatte ihr stets gezeigt, was wahre Liebe bedeutete.
«Vielleicht war es gut so», flüsterte Kiana, während sie ihre Eltern mit einem nachdenklichen Blick ansah. Ihre Stimme zitterte leicht, doch der Schmerz, der sie lange Zeit geplagt hatte, war jetzt nicht mehr derselbe. Sie fühlte sich ruhig, beinahe befreit. «Das Leben, das wir zusammen hatten, war nicht perfekt. Aber es war mein Leben. Und es war mehr, als ich je hätte erwarten können.»
Ihre Mutter legte eine Hand auf Kianas Schulter und zog sie sanft an sich, ihre Umarmung war warm und tröstend. «Ich hoffe, mein Kind, dass du in deinem Herzen Frieden gefunden hast. Du hast nicht nur überlebt – du hast es mit Liebe erfüllt. Und nun hat er dir deine Freiheit wiedergegeben. Das ist das größte Geschenk, das dir ein Mensch machen kann.»
Kiana schloss für einen Moment die Augen und ließ die Worte ihrer Mutter tief in sich sinken. Sie dachte an Marcus – an seine Stärke, an die Wärme, die er ihr in jedem Augenblick schenkte, an die Art, wie er sie ansah. Ihr Herz wurde voll, als sie an die Liebe dachte, die sie miteinander geteilt hatten, und daran, dass sie mit Marcus und Sophia eine Familie hatte, die sie nie erwartet hatte, aber die sie nun von Herzen liebte.
«Ich liebe ihn so sehr, dass es manchmal weh tut», flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu ihren Eltern. Ihre Augen öffneten sich wieder, als sie das warme Licht hinter ihrer Mutter aufglimmen sah. Das Licht, das den Übergang zur Anderswelt versprach – doch Kiana wusste, dass sie noch nicht bereit war, es zu betreten. Sie wollte mehr von dem Leben mit Marcus und Sophia. Sie wollte es als Freigelassene an seiner Seite leben, nicht mehr als Gefangene der Vergangenheit.
«Ich bin noch nicht bereit, mit euch zu gehen», sagte sie schließlich, ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie in die Ferne sah, wo ihre Zukunft auf sie wartete. Ihre Stimme war ruhig, aber fest. «Ich habe ein Leben, das ich auskosten will. Ein Leben mit Marcus und Sophia. Sie sind jetzt meine Familie.»
Ihr Vater, der sie still und liebevoll ansah, lächelte ebenfalls, als er ihr in die Augen blickte. «Dann geh, meine Kleine. Du bist stark. Und du wirst deinen Weg finden. Du wirst genau da ankommen, wo du hingehörst.»
Kiana nickte, ihre Augen glänzten vor Entschlossenheit. Ein letzter Moment der Zuneigung, ein letzter Blick auf ihre Eltern, und dann drehte sie sich langsam um. Mit einem letzten, tiefen Atemzug wandte sie sich vom hellen Licht ab, dem Tor zur Anderswelt, und ging zurück ins Leben.
Zurück zu dem Mann, den sie von ganzem Herzen liebte. Zurück zu ihrer kleinen Tochter, die ihr so viel Freude und Glück schenkte. Zurück in das Leben, von dem sie nicht mehr zu träumen gewagt hatte.

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* mein kleiner Schatz
** mein Herz
*** Seid gegrüßt, Fürst der Segusiavi
**** Seid gegrüßt, Statthalter der Römer
***** Ihr sprecht wirklich gut unsere Sprache
****** das Bier hilft dabei

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