XXXVI
Thalias Herz schien stehen zu bleiben. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Phoebe Reese stumm anwies, hinter sie zu treten und hätte sich die Tochter des Zeus nicht völlig auf die Meute vor ihnen konzentrieren müssen, hätte sie der Jägerin dankend zugenickt.
Nyx' Worte lasteten schwer auf ihr. Was meinte die Göttin nur? War Reese nicht die, die sie vorgab zu sein? Hatte sich Thalia einen schweren Fehler erlaubt, indem sie das kleine Mädchen bei den Jägerinnen aufnahm?
Thalia festigte ihren Griff um Aigis. Sie durfte jetzt ja nicht unüberlegt und impulsiv handeln, wie sie es früher oft getan hatte. Ein solches Handeln könnte alles durcheinanderbringen.
Natürlich, die Chance, hier irgendwie leben rauszukommen war erschreckend gering, aber wenn Thalia es schaffen könnte, die Monster so abzulenken, dass wenigstens ein paar Jägerinnen fliehen konnten, dann war ihr jedes Mittel und Risiko recht.
In genau diesem Moment formte sich langsam ein Plan in ihren Gedanken und sie realisierte, was sie tun musste.
Sie bemühte sich um eine unbeeindruckte Miene und starrte Nyx direkt in diese hasserfüllten, tiefschwarzen Augen. ,,Und selbst wenn. Wir werden so viele deiner Anhänger mitnehmen, wie es nur geht", antwortete sie mit fester Stimme.
Die Wölfin neben ihr knurrte und hinter ihr ertönte das zustimmende Gemurmel der anderen Jägerinnen. Thalia spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete, voller Stolz und Zuneigung für ihre Kameradinnen.
Lillian, Vanessa, Meggie, Marie, Sarah... alle Jägerinnen wussten, dass dies ihr Ende sein könnte.
Thalia warf einen ganz kurzen Blick über ihre Schulter.
Normalerweise würde sie das niemals machen, um den Feind nicht aus den Augen zu verlieren, doch dieses Mal tat sie es.
Ihr Blick flog über Kara und Emmy, Silvia, Elea und Lina, über jedes einzelne Mitglied der Jägerinnen, bis er schließlich auf Phoebe landete.
In diesem Moment wusste Thalia, dass ihre Entscheidung die Richtige war.
Phoebe war eine der besten Kämpferinnen der Jägerinnen und sehr erfahren. Sie könnte es vielleicht schaffen, zu entkommen, um Camp Half-Blood zu warnen, wenn Thalia die Monster lange genug ablenken könnte.
So unauffällig wie es nur ging, machte Thalia eine spezielle Geste mit ihrer linken Hand, ein Codezeichen, das jede Jägerin lernte.
Phoebes Blick schien die erste Sekunde lang zu entgleisen, doch sie fing sich in einem Sekundenbruchteil und bedeutete Thalia mit einem leichten Nickten, dass sie verstanden hatte. Sie würde fliehen, so unauffällig wie möglich und so viele Jägerinnen wie möglich mitnehmen.
Der Austausch hatte nur wenige Augenblicke gedauert, sodass nur die Jägerinnen ihn mitbekommen konnten. In den Augen aller stand pure Entschlossenheit.
Thalia richtete unwillkürlich ihr Diadem, das sie als die Leutnantin auszeichnete, und ließ ihren Blick über die Monstermenge schweifen. Sie hatte geschworen, Artemis zu dienen und wenn dies der einzige Weg war, würde sie nicht kampflos untergehen.
Sie straffte ihre Schultern und kniff die Augen zusammen.
,,Dann lassen wir das Spektakel doch mal beginnen", murmelte sie leise.
,,Wie bitte?", fragte Nyx und beugte sich ein wenig vor. ,,Das war doch jetzt nichts Unhöfliches, oder, Tochter des Zeus? Sonst müsste ich deinen Tod noch ein wenig schmerzvoller gestalten. Ach, weißt du was? Das kann ich ja auch so einfach machen! Wie findest du das, Halbgöttin?"
Doch eine Antwort bekam die hämisch grinsende Göttin nicht; Thalia hatte sich entschieden, den ersten Zug zu machen und das Spiel zu beginnen.
Mit einem Aufschrei ließ sie ihre ganze Wut und allen Hass zu elektrischer Energie werden und stürmte auf Nyx zu, nur mit ihren Halbgottkräften und Aigis bewaffnet.
Nyx traf der erste Schlag mit voller Wucht, doch sie hatte sich schnell wieder gefangen. Ihre mit purer Finsternis erfüllten Augen kniff sie zusammen, als sie ihre Hände hob.
,,Dann soll die Schlacht beginnen."
Ihre Worte waren nicht mehr als ein Wispern, doch hatten dieselbe Energie wie als hätte Nyx sie mit all ihrer Macht laut gerufen.
Markerschütterndes Brüllen und Kreischen erhob sich auf der Seite der Monster und Ungeheuer, während sie nach vorne stürmten und sich teilweise gegenseitig über den Haufen rannten, um als erste die Halbgötter zu erreichen.
Wie angewiesen rannte Phoebe los, sobald genügend Chaos geschaffen worden war. Sie packte Reese am Arm und zog sie mit sich, als Marie im gleichen Moment einen andernfalls tödlichen Schlag eines Höllenhundes abfing.
,,Geh!", rief Marie und Phoebe kniff die Lippen zusammen, doch rannte nach einem letzten dankenden Blick weiter. Vanessa und Lillian kämpften Rücken an Rücken und es gelang ihnen, für kurze Zeit eine Schneise in die Masse der Monster zu schneiden. Meggie wehrte in letzter Sekunde einen Schlag ab, der sie sonst vermutlich geköpft hätte.
Elea schoss ihren letzten Pfeil auf einen Höllenhund, der wütend aufjaulte. Lina kam Kara und Silvia zu Hilfe, als diese fast unter einem erneuten Ansturm begraben wurden und Thalia sah, wie schlecht es um sie alle stand.
Sie warf einen erneuten Blitz und vernichtete Monster, doch sie wusste, dass ihre Kraft nicht ewig halten würde, genauso wenig wie die der restlichen Jägerinnen.
Irgendwann würden sie überrannt werden. Phoebe hatte sie schon längst aus den Augen verloren und sie konnte nur hoffen, dass sie es geschafft hatte.
Sie schätzte ab, wie viel Kraft sie noch hatte und fasste blitzschnell einen Entschluss.
Sie erledigte den Höllenhund vor ihr und drehte sich dann zu Elea, die hinter ihr stand.
,,Haut ab", zischte sie.
,,Was?!", antwortete diese entsetzt.
,,Ich kann euch einen Vorsprung verschaffen", erklärte ihr Thalia hastig. ,,Ihr könnt es zu Camp Half-Blood schaffen."
Elea schien, als wollte sie sich weigern, doch ihr Blick fiel auf die anderen Jägerinnen und sie entschied sich, dass wenn es eine Chance gibt, dass zumindest ein paar überleben, sie sie ergreifen müssen. Mit leichten Tränen in den Augen nickte sie fest und stürzte dann davon, während sie auf dem Weg noch Vanessa aufforderte mitzukommen. Ein paar der Wölfe liefen ebenfalls hinterher.
Thalia rief all ihre Kräfte zusammen und betete stumm zu ihrem Vater und Artemis, wissend, dass sie danach zu keinem einzigen Kampfzug mehr fähig wäre.
Mit einem Aufschrei ließ sie ihre gesamte Kraft los und fühlte sich für eine Sekunde schwerelos.
Es erinnerte sie an den Moment, an dem sie vor so vielen Jahren im Sterben lag und dann von ihrem Vater in eine Tanne verwandelt worden war.
Danach umfing sie nur noch eine willkommene Schwärze.
,,Das wars dann wohl", dachte Thalia und merkte erstaunt, dass es ihr wirklich nichts ausmachte, jetzt zu gehen.
Und während sie der Realität langsam entglitt, ihre blauen Augen glasig wurden und sich langsam schlossen, sah sie plötzlich ein helles Licht in dieser warmen Dunkelheit aufleuchten.
,,Das Vlies?", war das erste, das ihr durch den Kopf schoss, doch das konnte nicht sein. Das Vlies befand sich tausende Meilen entfernt im Camp.
War das der Weg ins Totenreich? Thalia hatte es sich immer anders vorgestellt, dunkel und kalt.
Das Licht war so hell und klar, dass Thalia es selbst mit geschlossenen Augen bemerkte, langsam schien es sich auszubreiten, die wirren Gedanken aus ihrem Kopf zu treiben, in alle Teile ihres Körpers zu fahren. Erinnerungen tauchten vor ihrem inneren Auge auf, flirrten wild umher und spielten Szenen wie kleine Filme ab; Jason, Annabeth, Luke, Percy, die Jägerinnen... sie sah sie alle wieder.
Kraft durchflutete sie und obwohl Thalia begann, sich besser zu fühlen, dieses Licht ihre Energie wiederzurückbrachte, begann sie erneut in eine Dunkelheit abzudriften.
Die Erinnerungen wurden blasser, die Lichtfäden zogen sich zurück, doch die Kraft verließ sie nicht erneut. Thalia ließ zu, dass die Dunkelheit sie erneut umhüllte und verlor das Bewusstsein.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann vernahm sie leise Stimmen und andere Geräusche. Irgendetwas kitzelte sie an der Nase und sie zuckte zurück.
,,Thalia? Thalia, bist du wach?", fragte eine weibliche Stimme. War das Phoebe?
Mit Mühe blinzelte Thalia und erspähte ein Gesicht, dass über ihr schwebte.
Sie registrierte die grauen Augen, die irgendwie wie Nebelbänke oder Sturmwolken aussahen und das blonde Haar, das der Person ins Gesicht fiel.
,,Annabeth?", brachte sie stockend hervor.
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