2)Ausgerechnet mit dem!
Gemeinsam mit seiner kleinen Schwester stieg Losian die fünf Stufen empor, die zum Hauptportal Schloss Königsteins führten. Er konnte es kaum erwarten, die ungnädige Septembersonne hinter sich zu lassen.
Die schweren Flügeltüren standen offen und von drinnen schlug ihm neben der kühlen Luft vor allem lautes Stimmengewirr entgegen. Ein Großteil der Schüler des Eliteinternats war bereits angereist und tummelte sich nun in der Aula, die für den Empfang hergerichtet war.
Helenas kleine Hand schob sich Hilfe suchend in seine und er blickte lächelnd auf die Elfjährige hinunter.
Sie war schon oft auf Schloss Königstein gewesen, wenn sie ihn, gemeinsam mit ihren Eltern, besucht hatte, doch heute wurde die Sache für sie ernst. Die Sommerferien waren vorbei und sie würde nun auf dieselbe weiterführende Schule gehen wie er.
Losian drückte sanft ihre Hand. „Du musst keine Angst haben. Es wird bestimmt toll."
Sofort verengten sich die braunen Augen seiner Schwester und ihre gleichfarbigen Locken schwangen hin und her, als sie energisch den Kopf schüttelte. „Ich hab keine Angst!", beschied sie ihm energisch.
Er unterdrückte ein Grinsen und nickte stattdessen diplomatisch.
In den letzten sechs Wochen hatte es für seine Schwester kein anderes Thema als ihren bevorstehenden Schulwechsel gegeben. Sie war so aufgeregt gewesen, dass sie ihm mit ihrem unerschöpflichen Fragenrepertoire gehörig auf die Nerven gegangen war. Sie hatte sich wirklich gefreut, auch endlich das Internat besuchen zu dürfen, doch nun, da sie die vielen fremden Schüler und Schülerinnen sah, schien sie eher nervös zu sein.
Losian konnte das nachvollziehen. Ihm war es nicht anders gegangen, als er zum ersten Mal die Hallen des riesigen Guts betreten hatte. Die ungewohnte Umgebung, die unbekannten Menschen, die große Entfernung zu seinen Eltern und das einengende Regelwerk der Schule hatten den aufgeweckten und selbstsicheren Fünftklässler vorübergehend ziemlich eingeschüchtert.
Inzwischen war davon nichts mehr zu spüren. Er hatte einen festen Freundeskreis, war bei Schülern und Lehrern beliebt und gehörte seit einem Jahr zum Kader der Basketballmannschaft.
Er war sicher, dass es seiner Schwester sogar noch leichter fallen würde, sich auf Schloss Königstein zurechtzufinden, denn sie war deutlich unbefangener und kommunikativer als er.
„Komm! Lass uns rein gehen." Er wartete nicht auf seine Eltern. Sie würden nachkommen, wenn sein Vater die Koffer in den jeweiligen Eingangshallen der Wohnhäuser abgeladen hatte. Stattdessen schob er Heli sanft in das Getümmel.
Trotz der Sommerhitze, die draußen vom Himmel brannte, oder vielleicht auch gerade deshalb, hielten sich alle im vermeintlich kühlen Inneren auf. Mütter und Väter standen beieinander, vorzugsweise in der Nähe der langen Tische, die als Empfangs-Kaffee- und Kuchenbuffet am Rand aufgebaut worden waren, und unterhielten sich. Einige mochten über ihren erlebten Urlaub plaudern oder über die Einschulung ihres Kindes. Andere sprachen möglicherweise über das bevorstehende Abitur ihres Nachwuchses oder aber über den Direktorenwechsel. Die Auswahl an Themen war unbegrenzt und das stetige Brummen und Brabbeln ließ Losian an einen überdimensionalen Bienenstock denken. Dabei waren die anwesenden Erwachsenen gar nicht die Hauptursache für diesen unerträglichen Lärmpegel.
Das waren vielmehr die Schüler. Die Jüngeren waren völlig aufgedreht, rannten umher und spielten Fangen, obwohl dies innerhalb der Gebäude strengstens verboten war. Dabei lachten sie ausgelassen und kreischten vor wohliger Vorfreude auf, wenn einer den anderen erwischte und sich die Jagd zwar drehte, aber auf keinen Fall endete. Niemand machte sich die Mühe, ihnen Einhalt zu gebieten. An Anreisetagen wurden die Regeln nicht ganz so ernst genommen.
Rechts von der Eingangstür befand sich eine breite Marmortreppe, die sich, in der Form eines durchlaufenden Rechtsecks, vier Etagen weit hinaufschraubte und zu den Unterrichtsräumen führte. Auf den Stufen saßen einige Schüler der Tertia. Manche von ihnen hörten Musik oder starrten desinteressiert auf ihre Smartphones. Andere unterhielten sich lautstark mit ihren Freunden. Im Gedränge, das im weiten Raum der Aula herrschte, trafen Jugendliche aufeinander und begrüßten sich entweder mit Handschlag oder mit gezierten Küsschen auf die Wange.
Aus der elften Klasse war kaum jemand zu sehen. Diejenigen, die sich in der Empfangshalle befanden, standen alle vor dem Schwarzen Brett, um herauszufinden, mit wem sie die nächsten drei Jahre ihr Zimmer teilen würden.
Losian zog es ebenfalls dorthin.
Wenn man auf Schloss Königstein sein Abitur anstrebte, dann erhielt man das Privileg, ab der Obersekunda von einem Vierbettzimmer in ein persönlicheres und komfortableres Zweibettzimmer umziehen zu dürfen.
Bisher hatte er sich mit Lasse, Attila und Tommy sein bescheidenes Reich geteilt. Das war in Ordnung gewesen, denn sie waren befreundet und unternahmen auch in ihrer Freizeit viel miteinander. Besonders mit Attila verstand er sich gut. Der Jugendliche mit ungarischer Abstammung war der ideale Typ zum Pferdestehlen und Losian war selten ohne ihn anzutreffen.
Auch jetzt suchte er über die Köpfe der Anwesenden hinweg nach seinem Kumpel, doch er konnte ihn nirgends entdecken.
„Ich muss dort rüber", sagte Helena plötzlich und deutete auf den Torbogen, der von der Aula in die Tiefen des Gebäudes führte.
Er nickte, wehrte sich aber dagegen, sich von der Kleinen zu der Traube Fünftklässler ziehen zu lassen, die sich unter den Augen einer jungen Lehrerin, Frau Wöllersdorf, zusammenrottete. Hilfe suchend schaute er über die Schulter und verfolgte mit den Augen den Weg, den er genommen hatte, zurück zum Eingang. Doch von seinen Eltern war weit und breit nichts zu sehen.
Er wollte sich schon seufzend geschlagen geben und mit seiner Schwester zum Treffpunkt der Neulinge gehen, als ihm jemand von hinten auf die Schulter schlug.
„Hey, Losi! Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Sonst seid ihr immer früher."
Als er sich umdrehte, blickte er in Attilas funkelnde, grüne Augen. Der amüsierte Blick seines Freundes galt aber bereits seiner Schwester, die noch immer seine Hand hielt.
„Lass mich raten. Heli hat Mr. Snoozie vergessen. Dann hat sie angefangen zu weinen und dein Vater musste noch mal zurückfahren."
„Gar nicht!", verteidigte sich Helena sofort vehement. „Ich habe Mr. Snoozie nicht vergessen!"
Losian grinste Attila über den Kopf der Elfjährigen an. Sie beide wussten, dass sie niemals ihren alten Teddy, der schon so abgenutzt war, dass ihm ein Auge und ein Arm fehlten, vergessen würde. Seitens seiner Eltern hatte es mehrere Versuche gegeben, sie davon zu überzeugen, dass sie nun langsam zu alt für ein Stofftier sei, doch seine Schwester hatte unerbittlich an ihrem Schmuseteddy festgehalten. Schließlich hatten Martin und Anna Becker nachgegeben und ihr ihren Willen gelassen.
„Nein? Na dann hast du vielleicht dein Lieblingskleid nicht eingepackt und ihr musstet deshalb noch mal umkehren", setzte Attila seine Neckerei fort.
„Gar nicht!", wiederholte Heli und streckte seinem besten Freund empört die Zunge raus. „Es war Losians Schuld! Der hat nämlich seinen Rucksack vergessen. Und da ist sein Tagebuch drin."
Als sich Attilas stechender Blick nun wieder auf ihn richtete, spannte er sich unwillkürlich an.
„So, so. Dein Tagebuch." Das schiefe Grinsen im Gesicht des Schwarzhaarigen war schwer zu deuten. War es belustigt? Spöttisch? Oder wohlwollend? Vielleicht eine Mischung aus allem.
Losian wusste, dass Attila Tagebücher für Mädchenkram hielt. Aber er wusste auch, dass sein Freund neugierig darauf war, was wohl darin stehen mochte. Schon oft hatte er kopfschüttelnd gefragt: „Was schreibst du da nur alles auf?"
Er konnte ihm nicht sagen, mit welchen Gedanken er die leeren, weißen Seiten füllte und was er sich alles von der Seele schrieb. Das konnte er niemandem sagen.
Bemüht, gelassen zu wirken, zuckte er mit den Schultern. „Da war nicht nur mein Tagebuch drin. Vor allem ging es um mein Tablet und mein Handyladekabel."
„Na dann!" Attila hakte das Thema ab. Vermutlich ihm zuliebe. Offenbar hatte er gespürt, dass es ihm unangenehm war. „Kommst du mit rüber zum Schwarzen Brett? Ich habe auf dich gewartet. Vielleicht sind wir beide ja auf einem Zimmer."
Losian hoffte es. Zwar mochte er auch Lasse und Tommy, aber mit Attila war es nochmal etwas anderes.
„Ich muss auf meine Eltern warten", erwiderte er mit einem Nicken in Richtung seiner Schwester, auch wenn seine Neugier groß war. „Ich kann Heli nicht einfach hier stehen lassen."
Attila nickte und wandte sich wieder an die Elfjährige. „Weißt du schon, wer deine Klassenlehrerin ist?"
„Ja", bestätigte Heli. „Im Brief stand, dass sie Frau Togert heißt."
„Die ist okay", erwiderte der Halbungar aufmunternd. Nur der ablehnende Blick, den er Losian zuwarf, verriet seine wahren Gedanken. Sie beide wussten, dass Togert ein Drache war. Anderseits schien sich ihre Leidenschaft, Maßregelungen und Einträge ins Klassenbuch zu verteilen, ausschließlich auf Jungs zu beziehen. Also bestand kein Grund dafür, seiner kleinen Schwester Angst zu machen.
„So, da sind wir!", erklang in dem Moment die Stimme seines Vaters und Losian drehte sich zu seinen Eltern um. „Hallo, Attila! Waren deine Ferien schön?"
„Hi!", grüßte Attila zurück. „Ich war mit meinen Eltern in Budapest. Es war stinklangweilig."
„Das tut mir leid." Das Lächeln, das Losians Vater seinem besten Freund schenkte, war milde. Vermutlich tat es ihm wirklich in gewisser Weise leid, andererseits hatte er aber auch Verständnis für die Eltern des Jungen, die nicht erlaubt hatten, dass er allein zu Hause blieb.
„Attila und ich würden gern zum Schwarzen Brett. Heli muss dort drüben hin." Losian deutete auf die Ansammlung der Fünftklässler, die noch immer am Torbogen stand. Dahinter lag der Gang, der zum Sekretariat, den Verwaltungsräumen und dem Büro des Schulleiters führte.
„Dann geht mal, ihr zwei. Wir begleiten Heli zu ihrer Einweisung. Treffen wir uns nachher auf einen Kaffee am Buffet?"
Losian nickte, gab seiner kleinen Schwester einen Kuss auf die Stirn und folgte Attila anschließend zur gegenüberliegenden Seite des Portals. Hier wurde das Gedränge noch schlimmer, weil viele Schüler ihre Zimmereinteilung erfahren wollten und jene, die sie schon kannten, einfach vor den Aushängen stehen blieben, um diese zu diskutieren.
Attila schob unsanft eine kleinere Blondine beiseite, die sich prompt wütend zu ihm umdrehte, wobei sie sich vor ihn stellte, um ihn nicht durchzulassen.
Losian erkannte Felicitas, eine Klassenkameradin.
„Typisch!", giftete sie. „Höflich fragen, ob du durch darfst, ist einfach nicht deine Art, Attila, oder?"
Der Angesprochene hob die Schultern, während er das Mädchen frech anzwinkerte. „Nö. Außerdem dachte ich, du seist fertig."
„Bin ich nicht!"
„Kannst du dann bitte mal schauen, mit wem ich mir ein Zimmer teile?" Als Felicitas nur die Augenbrauen hob und ihn mit einem geringschätzigen Schnauben bedachte, fügte er hinzu: „Bitte, Fee!"
Das Mädchen seufzte theatralisch, drehte sich um und streckte den Kopf in eine Lücke zwischen zwei Schülern vor sich, damit sie einen Blick auf die Liste am Brett erhaschen konnte. „Du bist auf 309. Zusammen mit Tommy."
Losian sah enttäuscht zu Attila hinüber. Das war es dann wohl mit dem gemeinsamen Zimmer.
Es gab eigentlich keinen Grund, weshalb Herr Lunder, ihr Klassenlehrer, eine andere Empfehlung ausgesprochen haben sollte.
Auch Attila wirkte nicht sonderlich erfreut, aber er versuchte es zu verbergen, indem er sagte: „Tommy ist schon okay. Dann bist du wohl mit Lasse zusammen."
„Kannst du mal gucken, Fee?", bat nun auch Losian. Sie stand noch immer näher an der Infotafel und konnte daher besser lesen, was auf den Blättern stand, als er selbst.
„Nummer 313. Du teilst dein Zimmer mit ...", sie stockte kurz verwundert und Losian runzelte irritiert die Stirn „... mit Pascal."
„Was?", fragte er erstaunt.
Pascal war der Außenseiter des Jahrgangs. Er blieb meistens für sich, war eher wortkarg und unzugänglich. Die Klasse konnte ihn nicht ausstehen, einige mobbten ihn sogar. Und auch wenn Losian nicht zu jenen zählte, die ihn verspotteten, sondern seine Freunde dazu anhielt, den Einzelgänger in Ruhe zu lassen, war Pascal auch ihm gegenüber übellaunig und unfreundlich.
Was hatte Lunder sich dabei gedacht, ihn mit diesem Miesepeter in einen Raum zu pferchen? „Ausgerechnet mit dem!", entfuhr es ihm aufgebracht.
Während Losian ungläubig den Kopf schüttelte, schlug Attila ihm in einer Geste des Mitgefühls auf die Schulter. „Mein Beileid, Mann! Das werden drei verdammt lange Jahre für dich. Na ja, vielleicht hast du Glück und Pascal bricht das Abi ab."
Losian schnaubte. „Ja, klar!" Frustriert wandte er sich ab, um aus dem Gedränge zu entkommen. An einem weniger belebten Ort konnte er seinem Ärger über Lunder und die merkwürdige Bettenverteilung ausgiebig Luft machen. Doch er erstarrte mitten in der Bewegung, als er genau in Pascals bleiches Gesicht blickte.
Der kleinere Junge mit dem blassblonden Haar und den dunkelblauen Augen schaute ihn ausdruckslos an, als er feststellte: „Also Zimmer 313, Becker."
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