1) Auf der alten Eiche
Nicholas saß hoch oben auf dem breiten Ast der Eiche, die allein auf der Wiese stand. Er lehnte mit dem Rücken am Stamm und beobachtete mit vor der Brust verschränkten Armen das Treiben unter ihm.
Die kreisrunde Grasfläche wurde von der asphaltierten Auffahrt begrenzt. Autos kamen den Berg hinaufgefahren, passierten das schwarze Eisentor des riesigen Anwesens und hielten auf dem Parkplatz. Manche blieben mitten in der Auffahrt stehen, nachdem sie den Rasen halb umrundet hatten; genau vor dem mit Steinplatten ausgelegten Weg, der zum Schlossportal hinaufführte, nur, um ja keinen Schritt zu viel laufen zu müssen. Die vereinzelten Stufen boten schließlich genug Gefahr für Laufmaschen oder abgeknickte Absätze.
Die ganz Reichen und Wichtigen, die glauben, sich alles erlauben zu können und die der Meinung sind, es müsse ein roter Teppich für sie und ihre Sprösslinge ausgerollt werden.
In diesem Moment tauchte eine schwarze Limousine der Marke Mercedes unter ihm auf und Nicholas beobachtete, wie sie genau am Anfang des Weges hielt. Eine schlanke Frau in einem teuer aussehenden Kostüm, das aus einem lachsfarbenen Rock, einem dazu passenden Jäckchen und einer weißen Bluse bestand, stieg auf der Beifahrerseite aus und tastete vorsichtig nach ihrem zu einem Dutt gebundenen blonden Haar.
Nicholas kannte sie und er war überrascht, dass sie nicht noch einen Spiegel aus ihrer Handtasche kramte, um zu überprüfen, ob das Make-up noch perfekt aussah. Andererseits hatte sie das vermutlich bereits vor dem Aussteigen getan.
Erst als sie davon überzeugt zu sein schien, dass die Frisur noch einwandfrei saß, klopfte sie gegen die hintere Scheibe.
„Lennart!", hörte Nicholas sie bis zu seinem Ast hinauf in schneidendem Tonfall sagen. „Bitte nimm endlich diese verfluchten Stöpsel aus deinen Ohren! Guido, sag du doch mal was!", wandte sie sich an ihren Mann, der inzwischen ebenfalls aus dem Fahrzeug gestiegen war.
Dieser ignorierte sie und ging zum Heck des Wagens, um die Koffer herauszuheben.
Ehe die affektierte Tussi noch einmal gegen das Glas trommeln konnte, tat ihr Sohn ihr den Gefallen und bequemte sich endlich von der Rückbank ins Freie. Er streckte sich, als habe die Fahrt nach Schloss Königstein mehrere Stunden gedauert und nicht nur dreißig Minuten, wie Nicholas sehr gut wusste.
Lennart Mühlenkamp wohnte, ebenso wie er selbst, in Heiligenberg, einem Ort, der nicht weit vom Elite-Internat, das sie beide besuchten, entfernt lag. Noch vor zwei Jahren waren sie beste Freunde gewesen, hatten sowohl in der Schule als auch in den Ferien ihre Freizeit miteinander verbracht und so manches Geheimnis geteilt. Nur nicht das Größte, das Nicholas sogar vor sich selbst verleugnet hatte – bis er es leid gewesen war.
Dann war Lennart ihm in den Rücken gefallen, hatte ihre Freundschaft weggeworfen, als wäre sie nicht mehr als eine überflüssige Verpackung, deren Inhalt aufgebraucht war. Nicholas hätte Verständnis für den verwöhnten Anwaltssohn aufbringen können, hätte gesellschaftliche Zwänge und Druck, der von Eltern und Freunden ausgeübt wurde, als Entschuldigung gelten lassen können. Aber das wollte er nicht.
Amüsiert beobachtete er, wie Dorothea Mühlenkamp ihrem Sprössling die glatten, blonden Haare aus der Stirn strich und die blaue Krawatte über dem cremefarbenen Hemd geraderückte. Natürlich trug Lennart bereits die Schuluniform, obwohl es am Sonntag, dem Anreisetag, noch gar nicht notwendig war. Erst am nächsten Morgen, wenn auch der Unterricht wieder beginnen würde, war es Pflicht, den dunkelblauen Anzug, auf dessen Jackett sowohl Logo als auch Name des Internats mit goldenem Faden aufgestickt waren, zu tragen.
Früher hatte Nicholas es genauso gemacht. Sein Vater hatte darauf bestanden – doch heute nicht mehr. Stattdessen saß er mit seiner ausgeblichenen Jeans und einem schlichten schwarzen T-Shirt bekleidet auf seiner Eiche und amüsierte sich über das Leid der Zwänge, denen sein ehemals bester Freund unterworfen war.
Lennart machte einen Schritt zurück und stieß die Hand seiner Mutter beiseite, wobei er etwas murmelte, das Nicholas nicht verstehen konnte.
Guido Mühlenkamps Bariton war hingegen gut zu vernehmen, als er seinen Sohn zur Ordnung rief: „Benimm dich! Solange die Oberschicht Baden-Württembergs und Bayerns ihre Augen auf uns richtet, wirst du ein Vorzeigesohn sein! Hast du verstanden?"
Der schlaksige Blondschopf nickte knapp und griff sich eine große Reisetasche. Dann folgte er seinen perfekten Eltern den Weg zum Hauptgebäude hinauf. Den Mercedes ließen sie unbeachtet am Rand stehen.
Andere Eltern und Schüler, mit Rollkoffern und Rucksäcken beladen, bahnten sich einen Weg um den Luxuswagen herum, um zum Hauptgebäude zu gelangen, in dem der Empfang nach den Sommerferien stattfand.
Nicholas war noch nicht in der Aula gewesen. Er war mit dem Zug gekommen, hatte sein Gepäck vom Bahnhof im Ort den Berg hinauf bis zum Schlosspark geschleppt und es dann einfach am Fuß der Eiche platziert. Dort stand es immer noch und wartete darauf, dass er es endlich in sein Zimmer brachte, aber Nicholas wollte noch warten, bis der schlimmste Trubel vorbei war. Er wollte niemandem begegnen. Oder zumindest nicht mehr Leuten als unbedingt nötig.
„Schau mal, Losi!", drang die helle Stimme eines jungen Mädchens in seine Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe Menschen, die zu Fuß die Auffahrt hinaufkamen. Offenbar hatten sie ihr Auto, wie es sich eigentlich gehörte, auf dem Parkplatz abgestellt. Das Kind hüpfte aufgeregt neben einem älteren Jungen auf und ab, wobei ihre braunen Locken hin und her schwangen.
Nicholas kannte ihn vom Sehen. Losian Becker spielte seit einem Jahr im Basketballteam.
Die Kleine – vermutlich seine Schwester – deutete auf das zweistöckige Gebäude, das ein gutes Stück links vom eigentlichen Schloss entfernt stand. Der Mädchentrakt. „Da werde ich wohnen!"
„Ach was, Heli, wirklich?", kam die ironische Antwort ihres Begleiters, dessen Hand sie nun losließ, um ihm dafür ihren ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase zu halten. Bevor sie ihm allerdings ihre kindliche Standpauke halten konnte, wuschelte er ihr lachend durch die Haare. „Schon gut. Tut mir leid. Ich weiß, du bist aufgeregt."
Die Gesichtszüge des Mädchens entspannten sich und sie nickte. „Hoffentlich mögen die anderen mich."
„Warum sollten sie dich nicht mögen?", erwiderte Becker unbekümmert und zog sie weiter in Richtung des Schlosses.
„Losian, pass auf deine Schwester auf, wenn ihr in die Aula geht", mahnte die Frau, die hinter den beiden herlief. „Du weißt, wie voll es da ist."
„Keine Sorge, Liebes, die beiden können auf sich aufpassen." Der Vater legte einen Arm um seine Begleiterin und langsam folgten sie ihren vorauseilenden Kindern.
Nicholas sah ihnen mit gemischten Gefühlen hinterher. Im direkten Vergleich zu Lennarts perfekter Familie hatte diese hier geradezu erfrischend auf ihn gewirkt. Die Mutter trug weder eines dieser teuren Kostüme noch einen Hosenanzug. Auch kein Kleid mit viel Schmuck, so wie viele andere Mütter, die die Versammlung der Oberschicht am ersten Schultag gerne als ihre ganz persönliche Modenschau nutzten. Nein, sie war eine der wenigen Damen, die mit ihrer schlichten, schwarzen Hose und einer kurzärmligen, hellblauen Bluse schon beinahe underdressed wirkte.
Auch der Ehemann war mit Jeans und grünem Poloshirt äußerst leger gekleidet.
Doch es war gar nicht so sehr das Äußere, das Nicholas ins Auge gefallen war, sondern der Umgang, den die Familie miteinander pflegte. Der erst neckische und dann eher milde Tonfall des Bruders. Der liebevolle Blick, mit dem der Vater seine Frau an sich gezogen hatte. Die offene Zurschaustellung von Zuneigung. Eine Seltenheit bei der Klientel, die sich auf Schloss Königstein bewegte. Zuhause, in den eigenen vier Wänden, mochten viele Familien liebevoll miteinander umgehen, aber hier zählte es zum guten Ton, dies nicht im Übermaß nach außen zu tragen. Gesittetes Benehmen, aufgesetzte Höflichkeit, hohle Konversation. Das waren die Dinge, die einen hier für gewöhnlich erwarteten.
Nicholas verzog seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln, als er über die Frage des Jungen nachdachte. „Warum sollten sie dich nicht mögen?"
Er hätte der lieben Heli mehrere Gründe aufzählen können, die dazu führten, dass Mitschüler eines Eliteinternats einen nicht ausstehen konnten. Anders zu sein, in welcher Weise auch immer, war der beste Garant dafür, als Außenseiter zu enden. Davon konnte er ein Lied singen, auch wenn er zugeben musste, dass ein Teil seiner Einsamkeit selbst gewählt war.
„Hey, von Burghofen! Kommst du da auch mal wieder runter?"
Nicholas beugte sich vor und spähte auf den Rasen hinunter. Neben dem Stamm der Eiche stand ein hochgewachsener, blonder Junge und blickte fragend zu ihm hinauf.
„Was willst du, Tobi?"
Unbeeindruckt von Nicholas' kühlem Tonfall nickte sein Zimmergenosse zu seinem Gepäck, das noch immer auf der Wiese lag. „Meins habe ich schon nach oben gebracht. Ich wollte dir mit deinem helfen."
Genervt verdrehte Nicholas die Augen, ließ sich von dem Ast gleiten und landete leichtfüßig vor dem Mitglied der Basketballmannschaft. „Egal, wie nett du zu mir bist, ich will nicht in den Kader."
Tobias zuckte lässig mit den Schultern. „Abwarten."
Nicholas schnappte sich zwei seiner Koffer und überließ es seinem Mitbewohner, den Rucksack zu schultern. Dabei rechnete er Tobias hoch an, dass er ihm keine Fragen darüber stellte, wie es zu Hause lief. Aber so war Tobias schon immer gewesen.
Vielleicht wären sie Freunde, wenn nicht vieles so geschehen wäre, wie es nun einmal geschehen war.
„Da gibt es nichts abzuwarten. Ich habe das Team vor zwei Jahren verlassen und ich habe nicht vor zurückzukommen."
„Und seitdem ging es bergab. Aber das ist dir ja nicht neu. Ich weiß, dass du dir jedes Spiel ansiehst, Nicky."
Er erwiderte nichts. Tobias wusste so gut wie er, dass die Niederlagen im letzten Jahr nichts mit seiner Abwesenheit zu tun hatten, sondern vielmehr mit der Art, wie Coach Poder das Team geführt hatte. Er beschleunigte seine Schritte, denn je eher sie das Gepäck auf ihr Zimmer brachten, desto schneller konnte er sich verdünnisieren und wieder in seiner Einsamkeit verschwinden.
Tobias ließ allerdings nicht locker. „Wie du auch weißt, hat Quentin letztes Jahr sein Abitur gemacht. Will heißen, es ist ein neuer Kapitän gewählt worden. Poder hat übrigens einen Bandscheibenvorfall. Der musste das Fach Sport und seine Trainertätigkeit abgeben. Außerdem ist Escher in Ruhestand gegangen und der Vorstand muss sich mit einem neuen Rektor und Eigentümer rumschlagen."
„Bla bla bla!", kommentierte Nicholas abweisend. „Interessiert mich alles nicht."
„Nick, hör doch mal richtig zu! Ich bin sicher, auf Schloss Königstein wird dieses Jahr ein neuer Wind wehen. Ich will diese frische Brise nutzen, um meine Segel zu hissen und ein paar Leute an Bord zu holen, damit sie neue Ufer erkunden können."
Nicholas, der inzwischen fast beim Wohntrakt der Jungen angekommen war, der auf der anderen Seite des Hauptgebäudes dem der Mädchen gegenüber lag, drehte sich aufgebracht zu dem anderen Jungen um. In dem Bemühen herauszufinden, ob er ausgerechnet diese Metapher absichtlich benutzt hatte, musterte er ihn abschätzend.
Tobias blieb ebenfalls stehen und schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. „Im Ernst. Als Kapitän brauche ich einen guten Steuermann, der den Laden hier mal ein bisschen aufmischt."
Nicholas, dem inzwischen die Doppeldeutigkeit der Worte klar geworden war, schüttelte den Kopf. „Glückwunsch, dass sie dich zum Kapitän gemacht haben. Aber um diesen verstockten, engstirnigen Snobs hier den Kopf geradezurücken, musst du dir einen anderen suchen. Ich habe nur noch dieses Jahr, Tobias. Und mit meinen Mitschülern bin ich schon lange fertig."
Gerade, als er sich wieder seinem Gepäck widmen wollte, sagte sein Mitbewohner leise, aber bestimmt: „Du schuldest mir etwas."
Nicholas schloss für einen Moment frustriert die Augen. Tobi hatte niemals ein Wort darüber verloren. Seit zwei Jahren war keine Anschuldigung, keine Beschimpfung, kein Vorwurf über seine Lippen gekommen. Und jetzt kam er ihm damit? Er hätte wütend werden sollen. Sich in dieses Gefühl des Zorns hineinzusteigern, hätte bestimmt geholfen, dem anderen seine Bitte abzuschlagen. Stattdessen fühlte er sich wie betäubt. Getroffen.
Langsam nickte er, ohne den neuen Spielführer des Basketballteams anzusehen. „In Ordnung. Ich komme zum Auswahltraining. Aber was den Rest betrifft, musst du dir jemand anderen suchen." Er zuckte zusammen, als er plötzlich einen kräftigen Klaps auf die Schulter bekam.
„Alles klar! Es geht mir auch hauptsächlich um die Mannschaft", erwiderte Tobias gut gelaunt und lief mit geschultertem Rucksack an ihm vorbei. Kein Wort mehr über die Schuld, die Nicholas ihm gegenüber hatte. Sie würde unerwähnt bleiben. Und wenn Nick wirklich durchhielt und sein letztes Schuljahr im Kader des Teams überstand, dann war sie getilgt. Ein für alle Mal. Oder?
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