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Carsten nahm das Manuskript aus der Schublade - diesmal sein Manuskript, das handschriftliche - und blätterte zur ersten Seite. Dort befand sich die Szene, in der Luisa sich von Henry trennte. Er zerriss die Seite demonstrativ vor Henrys Augen und holte einen Block mit frischem Papier heraus. Er sah Henry an, der in der Tür stand und zeigte auf das Canapé, das unter dem Fenster gegenüber vom Schreibtisch stand. Es war keine so gemütliche Sitzgelegenheit wie das Sofa im Wohnzimmer, denn Carsten hatte es hauptsächlich aus optischen Gründen gekauft. Der dunkelblaue Überzug war ein wenig kratzig und das Polster war so hart, dass es seinen Namen nicht verdiente. Aber optisch machte es viel her. Es gab seinem Zimmer einen edlen Touch.
"Setz dich und sag mir, wie du sie haben willst", sagte Carsten.
Henry grinste selbstgefällig und nahm Platz. Er schlug die Beine übereinander und sagte direkt: "Sie soll etwas arroganter sein. Dekadent. Mir widersprechen. Sie soll wie Feuer und Eis sein."
Carsten nickte und schrieb es auf. Wort für Wort. So, wie Henry es haben wollte. Er dachte in diesem Moment nicht viel darüber nach, was er da aufschrieb, denn Henrys Anwesenheit behagte ihm nicht. Der Mann machte ihm Angst und die Angst blockierte seine Denkfähigkeit. Die Angst mischte sich mit dem lähmenden Gefühl der Ohnmacht. Carsten steckte in dieser Situation fest. Ein Entkommen schien es im Moment nicht zu geben. Henry hatte ihn im Griff. Und so schrieb er. Und so ging es weiter in dieser Nacht. Henry erzählte und Carsten schrieb.
Als Henry ins Wohnzimmer kam, saß Luisa auf der Couch und lackierte sich die Nägel dunkelrot. Mit angesäuertem Blick schaute sie ihn an. Sie hatte ihn wohl schon früher erwartet, aber er war wieder einmal zu spät, das wusste er selbst.
"Na endlich!", rief sie.
Henry lehnte sich in den Türrahmen und betrachtete sie. Sie sah wunderschön aus, mit ihren langen, dichten braunen Haaren, die ihr über die schmalen Schultern hingen. Henry grinste halb schelmisch, halb schuldbewusst, wie ein Beagle, der das Sofakissen zerfleddert hatte.
"Ich hatte viel zu tun", verteidigte er sich.
"Ja, Henry. Du hast sooo viel zu tun."
Sie stand auf und schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn.
"Das gefällt mir viel besser. Warum nicht gleich so?" Henry schaute Carsten selbstgefällig an. Ein Blick, der Carsten einerseits provozierte, ihn aber andererseits auf seltsame Art beruhigte, denn wenn Henry sich jemandem gegenüber überlegen fühlte, war er am harmlosesten.
"Weißt du, der Leser will ja eine Figur, die spannend ist und ...", fing Carsten an, bis er von Henry unterbrochen wurde.
"Was kümmert es mich, was der Leser will? Du willst mein Leben so gestalten, wie der Leser es will? Wir gestalten mein Leben so, wie ich es will!"
"Was willst du noch?", fragte Carsten matt.
"Eine größere Wohnung. Oder ein Haus. So wie du."
"Okay. Ihr wohnt in einem schönen modernen Haus in einer ruhigen Gegend. Was meinst du, das passt doch zu euch? Modern eingerichtet in weiß und silber?", schlug Carsten vor. Henry strahlte, was bei seinem ernsten Gesicht sehr ungewohnt aussah. Wenn er das tat, schien die Narbe auf seinem Kinn für einen Moment zu verschwinden.
"Ja! Modern eingerichtet. Mit einem riesigen Fernseher und mit einem Kaffeevollautomaten."
"Okay." Carsten schaute Henry ein paar Sekunden lang an, weil er dachte, dass das ein Scherz gewesen war, aber Henry erwiderte den Blick, wurde ungeduldig und sagte: "Was ist? Schreib das auf!"
Carsten schrieb es auf und überlegte dann weiter. Diese Veränderungen würden die Geschichte wahrscheinlich weniger interessant machen. Aber er wollte Henry auf schnellstem Weg loswerden. Also machte er es mit. Damit er ihn in Ruhe ließ. Später könnte er alles wieder umändern. Wenn Henry endlich weg war. Er sah Henry an.
"Noch was?", fragte Carsten und versuchte dabei, möglichst interessiert und nicht so verstört zu klingen, wie er sich fühlte.
Henry schaute mit angestrengtem Blick zur Decke hoch und sagte dann: "Ja. Ich will nicht in diese ominöse Sache involviert sein. Mit John und David. Den Mist meine ich."
Carsten fiel die Kinnlade herunter. Das war doch der Plot! Wenn er das ändern würde, dann könnte er gleich die ganze Geschichte vergessen! Er könnte sein Manuskript in die Tonne kloppen! Ausgerechnet das, worauf die ganze Handlung aufgebaut war, wollte Henry geändert haben. Wenn Carsten Henrys Beteiligung an dem Diebstahl in der Werkstatt streichen müsste, was blieb dann noch übrig?
"Hör mal, Henry, das kann ich nicht streichen", sagte er ernst. Henry erhob sich vom Canapé und ging langsam auf Carsten zu. Oh ja, der drohende, langsame Gang. Carsten hatte ihn erfunden.
"Ach so? Und weshalb nicht?", fragte Henry mit zurückgehaltener Wut.
"Weil das die Handlung ist. Ohne das ..."
"Was haben wir vorhin über den Leser gesagt? Der Leser ist mir egal! Willst du mich in solche dummen Situationen bringen, nur damit es deinem Leser gefällt? Nur wegen dir habe ich jetzt auch noch Höhenangst und du treibst es auf die Spitze, indem du es zulässt, dass mich zwei Schwachköpfe auf einen Sendeturm bringen? Damit der Leser meine Höhenangst auch ja gut sehen kann?"
Jetzt stand Henry einen halben Meter von Carsten entfernt und blickte auf ihn herab. Carsten sah zu ihm hoch. Er wollte aus seinem Bürostuhl aufstehen, aber selbst dann hätte er immer noch zu Henry hochschauen müssen, wegen dem Größenunterschied. Konnte er also gleich sitzen bleiben.
"Henry, der Leser ist der Grund, warum du überhaupt existierst."
Henry schnaubte. "Toll. Und das gibt dir natürlich das Recht, alles mit mir zu machen, was du willst?"
"Nein, ja, aber ..."
Mit einer unvorhergesehenen Plötzlichkeit packte Henry Carsten am Kragen und zog ihn aus seinem Bürostuhl heraus. Carsten erschrak, konnte sich aber nicht aus dem festen Griff befreien. Henrys Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. Und als Henry so nah an ihm war, konnte Carsten etwas erkennen, das ihn stutzig machte. Das Gesicht, das nur eine Handbreit von seinem entfernt war, war nicht ganz scharf. Es war schwer zu beschreiben. Dieses Gesicht sah so aus, als sei es mit Buntstiften gezeichnet worden. Bunte Farben auf faserigem Papier. Zwar sehr gut, wie von einem Meisterzeichner, aber man erkannte dennoch, dass es sich um eine Zeichnung handelte, wenn auch um eine sehr, sehr gute.
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