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Carsten schüttelte den Kopf. Luisa war nur eine Nebenfigur. Sie hatte kaum Auftritte im Roman, außer am Anfang und in den wenigen Rückblenden. Die Erzählung folgte Henry und nicht Luisa, weshalb sich Carsten auch keine weiteren Gedanken darüber gemacht hatte, wie ihr Leben weitergehen könnte. Nach ihrer Trennung von Henry war sie so gut wie ganz aus dem Roman verschwunden. 

Henry stand vom Sofa auf und ging langsam auf Carsten zu. Er schaute ihn mit leicht schief gelegtem Kopf an und Carsten fühlte sich zusehends unwohl, je näher Henry kam. Das war der bedrohliche Gang, den Henry gerne anwandte. Dabei sagte Henry kein Wort, was die Spannung zusätzlich verstärkte. 

Am liebsten wollte Carsten einen Schritt zurückweichen, aber andererseits wollte er Henry gegenüber keine Schwäche zeigen. Nicht ihm gegenüber. Nicht gegenüber seiner eigenen Kreation. Das würde Henry so gefallen und sein Ego noch weiter aufblasen. Carsten blieb, wo er war. Gut einen Meter vor Carsten blieb Henry stehen.

"Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass du nicht weißt, wie es mit Luisa weitergegangen ist?", fragte er lauernd.

Carsten zuckte mit den Schultern, bereute dann aber in derselben Sekunde, dem hünenhaften Mann gegenüber eine so gleichgültige Geste gezeigt zu haben.

"Woher soll ich das denn wissen? Ich schreibe über dich und nicht über Luisa", sagte er vorsichtig.

"... und Luisa sehnte sich nach einem Mann mit mehr Gefühl. Jemand, der sie verstand und jemand, der nicht nur sich selbst im Kopf hatte. Henry war zwar ein attraktiver Mann, doch mit seiner Kälte kam sie nicht zurecht und deshalb ...", zitierte Henry aus dem Gedächtnis und sah Carsten dabei die ganze Zeit über direkt in die Augen.

"Was ist das?", fragte Carsten verwirrt.

"Ein Zitat aus deinem Roman", sagte Henry.

Carsten zog die Stirn in Falten. Er konnte sich nicht daran erinnern, das jemals geschrieben zu haben. Er hatte nie aus Luisas Perspektive geschrieben. Alles, was der Leser über sie wusste, erfuhr er nur über die wörtliche Rede von ihr oder wenn eine andere Figur etwas über sie sagte, aber niemals auf diese Art. Niemals direkt so. Der personale Erzähler folgte nur Henry.

"Das habe ich nicht geschrieben", sagte Carsten prompt.

"Ach so? Es steht aber schwarz auf weiß." Henry zog eine Augenbraue hoch und betrachtete Carsten argwöhnisch.

"Zeig es mir", verlangte dieser.

Als sei das sein Stichwort gewesen, lief Henry auf direktem Weg auf Carstens Büro zu. Carsten folgte ihm. Gezielt zog Henry die unterste Schreibtischschublade auf und holte einen Stapel Papiere heraus. Carsten stutzte, denn in dieser Schublade bewahrte er bloß leere Klarsichthüllen auf. Aber keine Manuskripte. Henry hielt ihm den Stapel hin. Es war bedrucktes Papier. Aber Carsten schrieb seine Manuskripte immer von Hand. 

Er stand im Türrahmen gelehnt und schaute perplex auf den Stapel Papiere, den Henry ihm entgegen hielt. Der kam zu ihm hin und fuchtelte ungeduldig mit den Papieren Carsten vor der Nase herum. "Hier. Lies."

Carsten nahm die Papiere, schaute Henry an, schaute das bedruckte Papier an und ging ins Wohnzimmer. Henry folgte ihm. Carsten ließ sich auf das Sofa fallen und Henry blieb an der Tür stehen und verschränkte die Arme. Carsten fing an zu lesen.


und Luisa sehnte sich nach einem Mann mit mehr Gefühl. Jemand, der sie verstand und jemand, der nicht nur sich selbst im Kopf hatte. Henry war zwar ein sehr attraktiver Mann, doch mit seiner Kälte kam sie nicht zurecht und deshalb entschied sie sich dafür, ihn zu verlassen. Sie wusste, dass ihm das nicht gefallen würde. Deshalb war es ihr sehr unangenehm, ihm das mitzuteilen und sie hätte am liebsten jemand anderen damit beauftragt, es ihm beizubringen. Oder übers Telefon?

Das wollte sie auch nicht, das wäre nicht fair gewesen. Sie wartete auf dem Sofa, bis Henry nachhause kam. Sie hatte schon ihre Sachen gepackt und würde heute bei ihrer Cousine übernachten können. Als Henry die Tür aufschloss, schnellte ihr Puls hoch. Sie könnte noch so tun, als ob nichts wäre und ...

"Henry?", fragte sie.

Henry kam ins Wohnzimmer. Er schaute sie ausdruckslos an. Er sah den Koffer. Den kleinen pinken Koffer, den er so kitschig fand. Luisa blieb nur noch die Flucht nach vorne.

"Henry, ich hab es dir ja schon einige Male gesagt, Wenn du immer nur an dich denkst, dann funktioniert es nicht. Ich werde heute Nacht woanders schlafen."

Er sagte nichts. Sie hatte das befürchtet. Was sollte sie jetzt sagen? Unangenehmes Schweigen erfüllte den Raum. Dann stand sie auf und ging an Henry vorbei durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Sie blieb noch einen Moment lang vor der Tür stehen (fast erwartete sie, dass sie Henry toben hören würde oder dass er hinter ihr her laufen würde), aber nichts passierte und sie ging die Treppen hinunter in die Tiefgarage zu ihrem kleinen Wagen.

Sie würde zu ihrer Cousine fahren, aber nur später, nur zum Übernachten. Zuvor wollte sie bei Carsten vorbeifahren. Sie setzte sich hinters Steuer und holte ihr Handy aus der Tasche. Sie wählte Carstens Nummer. Er nahm beim zweiten Klingeln ab.

"Luisa?"

"Carsten, bist du zuhause?"

"Ja ..."

"Ist Lisa da?"

"Ja, aber sie geht gleich in die Stadt, einkaufen. Sie wird für etwa zwei Stunden weg sein. Ich melde mich, wenn sie losfährt."

"Okay, danke. Bis gleich."

"Bis gleich."

Sie legte auf und packte das Handy zurück in die Tasche. Sie startete den Motor. Als sie aus der Tiefgarage fuhr, stand Henry direkt in der Ausfahrt. Sie erschrak. Er stand genau mittig, sodass sie nicht an ihm vorbeifahren konnte. Hektisch schaltete Luisa die Zentralverriegelung ihres Wagens ein und wartete ab. Sie sah ihn schon in ihrer Vorstellung, wie er mit großen Schritten angelaufen kommen und am Türgriff zerren würde.

Aber nein. Er tat nichts. Er stand einfach nur da und tat nichts und sagte nichts. Luisa hupte. Er reagierte nicht. Sie hupte noch einmal. Diesmal ging er zur Seite. Luisa trat aufs Gaspedal und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Im Rückspiegel sah sie, wie er ihr hinterherschaute. 

Einen quälenden Moment lang empfand sie tiefes Mitleid mit ihm. Dieser Mann, der sie nicht hatte gehen lassen wollen, sodass sie gehupt hatte, bis er zur Seite gegangen war. War sie zu grob gewesen oder er?

Sie fuhr einen Umweg (vielleicht fuhr er ihr doch hinterher?) und dann klingelte ihr Handy. Sie schaltete die Freisprechanlage ein. Es war Carsten. Er rief zurück.

"Hallo?"

"Luisa, hey. Lisa ist gerade weggefahren. Du kannst kommen. Park dein Auto am besten in der Seitenstraße, okay?"

"Okay."

Sie legte auf. Sie war bald da. Wie Carsten es ihr geraten hatte, fuhr sie in eine Seitenstraße, wo sie ihr Auto am Straßenrand parkte. Sie stieg aus und sah sich um. Kein Anzeichen von Henry. Sie lief auf das hübsche kleine Haus zu. Carsten öffnete die Tür noch bevor sie klingeln konnte.

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