5
Der Schreck fuhr Carsten durch Mark und Bein. Er wollte schreien, hielt sich aber schnell die Hände vor den Mund. Er wollte nicht, dass Lisa aufwachte und zu ihnen herunter kam. Geschüttelt von gleißender Panik fing er an zu zittern. Da war nichts in Reichweite, was er dazu hätte benutzen können, um sich zu verteidigen. Aber gegen Henry hätte sowieso nichts geholfen. Der Mann hatte schließlich - vor seinem Job in der Werkstatt - einige Jahre als Security gearbeitet. Die Statur und das Aussehen dazu hatten ihn dazu qualifiziert. Natürlich.
Carsten wich zurück. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Henry, das hatte er selbst ja so erfunden, als er Henry detailliert zu Beginn des Manuskripts beschrieben hatte. Aber jetzt, wo er leibhaftig vor ihm stand, war es doch erschreckend.
"Was willst du?", fragte Carsten rau. Henry verschränkte die Arme vor der breiten Brust, was ein Quietschgeräusch verursachte, da er seine dunkelbraune Lederjacke trug.
"Dir auch einen guten Abend, Carsten", gab er kühl zurück.
"Henry ... warum bist du in meinem Haus?", fragte Carsten und versuchte, seine zittrige Stimme unter Kontrolle zu bringen. Henry zog die Augenbrauen zusammen und verengte die Augen.
"Als ob das was Neues wäre! Ich bin immer in deinem Haus. Es ist quasi unser Haus", sagte er.
Die Logik war ebenso überwältigend absurd wie auch einleuchtend. Klar, Henry lebte in Carstens Manuskripten. Die Manuskripte waren in Carstens Haus. Also die Originale. Seinem Verleger schickte er immer eine Kopie davon. Also ja, Henry war zu jeder Zeit in Carstens Haus. Aber Henrys Haus war es deswegen noch lange nicht.
"Aber warum bist du ... echt?", fragte Carsten und fühlte sich dabei wie ein Kind, das zwar nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte, nun diesen aber in persona vor sich stehen sah.
"Warum? Na, weil ich zu Lisa will", sagte Henry als sei es das Trivialste der Welt.
"Was willst du von ihr?", fragte Carsten lauernd.
"Bei ihr sein", sagte Henry wieder mit dieser Stimme, die klang als sei Carsten schwer von Begriff. Als Carsten nichts darauf erwiderte, setzte er hinzu: "Sie findet mich attraktiver als dich und sie macht auch keinen Hehl daraus."
Carstens Augen verengten sich als würde Henry ihn blenden.
"Das stimmt nicht", sagte er scharf.
"Oh, doch. Es stimmt. Und sie hat es dir auch selbst gesagt oder täusche ich mich? Du hattest sie sogar danach gefragt."
Henry lachte über Carstens verdutztes Gesicht. Er schlenderte lässig an Carsten vorbei in Richtung Küche und klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. Er verhielt sich wirklich so, als sei es auch sein Haus. Carsten blieb erst perplex stehen, ging Henry dann aber nach. Dieser stand am Kühlschrank, holte sich eine Flasche Bier heraus, machte den Deckel an der Kante der Arbeitsplatte ab und trank einen Schluck. Carsten starrte ihn an.
"Du bist nicht echt", sagte er.
"So echt, dass ich ein Bier trinken kann", entgegnete Henry gelassen.
"Wie ...?"
"Wie ich hergekommen bin? Ich will zu Lisa. Und wenn man etwas will, dann findet man immer einen Weg um zu kommen. Du weißt ja, wo ein Wille ist ..."
"Vergiss es. Sie schläft. Was kommst du auch mitten in der Nacht?", zischte Carsten.
Henry zuckte mit den Schultern.
"Dann warte ich halt", sagte er gelassen.
"Ich will schlafen", sagte Carsten.
"Dann geh doch ins Bett. Ich finde mich schon zurecht."
"Nein, ich ..."
"... passe lieber auf dich auf. Ja, das dachte ich mir. Du traust mir nicht? Dabei hast du mich gemacht." Henry zwinkerte Carsten zu. Provokant. Carsten fasste sich an den Kopf. Der fühlte sich schwer an. Er würde in Zukunft nur noch nette und sympathische Figuren erfinden. Keine Henrys mehr.
"Mir ist nicht ganz wohl dabei, wenn mitten in der Nacht ein Kerl bei mir im Haus herumläuft", sagte Carsten. Er hatte "fremder Kerl" sagen wollen, bemerkte aber noch rechtzeitig, dass das im Grunde falsch war. Henry war genauso wenig fremd in seinem Haus wie Lisa. Henry schaute ihn an und wiegte seinen Kopf hin und her.
"Schon verständlich, aber bei mir brauchst du dich wirklich nicht so anstellen. Was soll ich schon tun?", fragte er.
Carsten schaute ihn wortlos an.
"Na bitte, dir fällt auch nichts ein. Dann bleibe ich." Henry ging mit seiner Flasche Bier in der Hand schnurstracks ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch aus beigefarbenem Kunstleder fallen. Als die Lederjacke sich an der Couch rieb, gab es ein unangenehmes quietschendes Geräusch.
"Kann ich dir die Jacke abnehmen?", fragte Carsten. Henry zog sie aus und reichte sie ihm. Dieser starrte die Jacke einige Sekunden an, dann trug er sie zu der Garderobe im Flur. Während er sie aufhängte, tastete er nach den Taschen. Nichts war darin, außer einer Packung Zigaretten. Er ging zurück ins Wohnzimmer.
"Hast du was gefunden?" Henry grinste ihn breit an.
"Was?", fragte Carsten.
"Du müsstest mich doch von allen Leuten am besten kennen. Du bist sowas wie mein Vater. Also?"
"Tut mir leid", sagte Carsten, ohne es so zu meinen. Henry schien den zynischen Unterton zu ignorieren. Er sagte gönnerhaft: "Macht nichts. Es ist mir schon passiert, dass Leute mir gegenüber misstrauisch sind. Aber bei dir, muss ich sagen, habe ich mir schon eine andere Behandlung erwartet. Wenn du nächstes Mal in meinen Taschen suchst, dann so, dass ich es weder sehen noch hören kann."
Den letzten Satz sagte Henry mit deutlich vorwurfsvollem Unterton.
"Tut mir leid", wiederholte Carsten.
"Okay, schon gut. Kein Stress." Henry verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Er schaute an die Zimmerdecke und schloss einen Moment lang die Augen. Er trug sein rot-blau kariertes Holzfällerhemd. Das, in dem ihn die Sekretärin der Werkstatt immer anhimmelte. Weil er darin so eine rustikale Eleganz ausstrahlte, wie sie es ausdrücken würde.
"Was für eine bequeme Couch ... Du weißt ja, dass ich nur das verranzte Ding von Luisa zuhause habe", sagte Henry anklagend. In welchem Zuhause, fragte sich Carsten in Gedanken.
"Ja. Wie geht es ihr eigentlich?", fragte Carsten beiläufig. Luisa war Henrys Ex-Freundin. Ja, die Ex-Freundin, denn mit Henry hielt es keine Frau längere Zeit aus - weshalb es auch bis zum heutigen Tag nicht in Carstens Kopf ging, dass Lisa ihn "cool" fand.
Luisa war wohl das Gegenteil von Lisa; unabhängig, keck und vorlaut. Und sie hatte Henry verlassen, weil er in erster Linie nur an sich dachte. Sie war dabei zu oft zu kurz gekommen. Henry schaute Carsten ausdruckslos an und sagte in betont gleichgültigem Tonfall: "Keine Ahnung. Hab nichts mehr von ihr gehört. Warum auch, sie hat ja schon wieder einen Neuen. Aber das solltest du am besten wissen."
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