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Carsten merkte erst jetzt, wie müde er war. Aber er wollte noch die Seiten zählen, bevor er sich auf den Weg ins Bett machen würde. Er hatte eine Vorstellung davon, wie viel er geschrieben hatte, aber er wollte es doch noch einmal nachzählen. Ein leichter Druck hinter seinen Augen wollte ihm die Augenlider zufallen lassen wie zwei kaputte Rollläden. Das änderte aber nichts daran, dass er seine Arbeit vollenden wollte. Jede fünfte Seite versah er mit einer Seitenzahl. Hundertzwanzig. Er hatte hundertzwanzig Seiten geschrieben und zwar alleine in dieser Nacht. Fantastisch. Denn damit hatte er die Seitenanzahl erreicht, die er sich für einen Tag vorgenommen hatte. Nein, er hatte sie sogar weit überschritten!

Aber am Ende angekommen war er noch lange nicht. Er war gerade erst in Fahrt gekommen. Die Handlung wurde immer spannender. Jetzt befand sich Henry auf dem Sendeturm und gab John und David ordentlich Kontra, weil er sich eben nichts von ihnen sagen lassen würde. Klar, dafür hatte er sich sehr zusammenreißen müssen. Aber es war eine unfassbar packende Szene. Bisweilen hatte Carsten sogar das Gefühl gehabt, mit den drei Männern zusammen auf diesem Turm zu stehen. Ein bisschen enttäuscht war Carsten schon gewesen, dass er aus dem Flow herausgekommen war. Wenn er nicht so müde gewesen wäre, dann hätte er gerne noch weitergeschrieben. Aber so würde er es vertagen müssen.

Vielleicht würden morgen noch hundert oder sogar zweihundert Seiten dazu kommen. Und dann würde Carsten sein Manuskript endlich einschicken können. Guten Gewissens sogar. Für heute war er zufrieden. Selbst in dem Zustand, in dem es jetzt war, könnte er es als fertigen Roman einsenden. Es war nämlich perfekt. Das wusste er, ohne noch ein weiteres Mal darüber lesen zu müssen. Es war perfekt aber noch nicht ganz vollendet. Dann hätte es ein offenes Ende, aber das wäre doch perfekt für den Beginn einer Trilogie.

Es wäre Carstens erste Trilogie. Zwölf eigenständige Romane hatte er bisher schon veröffentlicht. Allesamt im Bereich Krimi und Thriller. So auch dieser. Der Titel lautete "Henry", nach seinem Protagonisten. Irgendwie gefiel Carsten der Name, er hatte eine gewisse Ausdrucksstärke, die Carsten selbst nicht recht erklären konnte. Das war der Grund gewesen, warum er ihn als Titel für den Roman gewählt hatte. Gerade jetzt, wo er vor dem Stapel beschriebenen Papiers saß, fiel ihm kein anderer Titel ein. Es konnte gar keinen passenderen Titel geben als "Henry".

Müde aber mit sich zufrieden legte Carsten das Manuskript in die Schublade, schaltete die Lampe auf seinem Schreibtisch aus und schlurfte die Treppe nach oben ins Schlafzimmer. Dort lag Lisa halb aufgedeckt auf der Seite des Doppelbetts, die zum Fenster gerichtet war. Sie musste eine Weile auf Carsten gewartet haben, dann aber eingeschlafen sein. Auf dem Nachttisch neben ihr lag ihre Brille, die sie nur zum Lesen trug. Wahrscheinlich hatte sie versucht, sich mit einem Buch wachzuhalten, hatte dann aber doch vor der Müdigkeit kapituliert. Sie schlief viel und lange und hatte keine Ausdauer, was das Wachbleiben bis tief in die Nacht anging. Carsten selbst konnte gut und gerne bis in die frühen Morgenstunden schreiben, zwei Stunden schlafen und dann topfit in den Tag starten. Aber nach drei solchen Nächten in Folge machte dann selbst er schlapp. Dabei war es für ihn eigentlich nicht nötig, Nachtschichten zu machen, da er seine Zeit selbst einteilen konnte. Außer natürlich, er hatte die Abgabefrist zu lange hinausgeschoben.

Carsten ließ sich neben Lisa auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Von draußen fiel das spärliche Mondlicht durch das Fenster. Lisa hatte vergessen, die Rollläden herunterzulassen. Leise ächzend stand Carsten wieder auf und schlich leise um das Bett herum zum Fenster. Er warf einen Blick nach draußen. Dort lag die Straße in dunkelblauer Finsternis, erhellt von gelben Kreisen des Laternenlichts. Der Mond lag hinter Wolken und spendete nur wenig Licht. Ruhig und einsam lag die Straße vor Carsten. Das war interessant zu sehen, denn tagsüber war hier immer Leben. Das Sprichwort, dass der Bürgersteig nachts hochgeklappt wird, kam Carsten in den Sinn. Das passte hier. Alles schlief.

Er wollte die Rollläden gerade herunterlassen, da bemerkte er, wie sich eine Gestalt außerhalb des Lichtkegels einer der Straßenlaternen bewegte. Sie schien in den Lichtkegel treten zu wollen, überlegte es sich dann aber doch anders. Ein Schreck zuckte durch ihn hindurch. Carsten rührte sich nicht. Er schaute starr nach draußen und wartete darauf, dass sich die Gestalt noch einmal bewegte. Damit er sehen konnte, was es war.

Eine ganze Weile geschah nichts, dann sah Carsten einen Mann in den Lichtkegel treten. Carsten blieb wie angefroren stehen und starrte diesen Mann an, dessen Gesicht er im Schein der Laterne gut sehen konnte. Der Mann schaute zurück, direkt zu ihm hoch. Carsten sah in das Gesicht, dass er selbst genau beschrieben hatte. In das Gesicht, das er erfunden hatte. Die Frisur, die ihre Haltbarkeit großen Mengen an Haargel verdankte, war an und für sich nicht das besondere Erkennungsmerkmal. Aber die Narbe am Kinn schon. Und die markante Nase mit dem kleinen Höcker. Es war Henry, der dort unten stand und seinen Erfinder anschaute.

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