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Carsten sah Henry verstohlen an, nickte und betrachtete die Manuskriptseite, die ganz oben lag. Sie endete mit diesem Absatz:
Carsten bebte vor Angst. Henry war ihm überlegen. Er musste mit ihm kooperieren, denn anders sah er keine Gelegenheit, aus der Sache heraus zu kommen. Carsten wusste, dass mit Henry nicht zu spaßen war. Also unterbreitete er ihm den Vorschlag, das Manuskript so zu ändern, dass Lisa wieder auftauchen würde. Henry sagte: "Gut. Aber wehe dir, du versuchst irgendwelche billigen Tricks."
"Steht das denn nicht im Manuskript?", fragte Carsten kühner als beabsichtigt.
"Es endet an der Stelle", sagte Henry widerwillig.
"Wie?", fragte Carsten.
"Es endet hier", sagte Henry.
Carsten überlegte nicht lange. Dieses Mal war es nicht so, wie in dem Badezimmer bei Luisas Cousine. Da war keine Schreibblockade mehr. Carsten fühlte sich mit dem Stift in der Hand so, als wäre vor ihm eine komplett freie Straße und er hatte freie Fahrt. Kein Auto vor ihm, er musste nur Gas geben, nur losfahren. Ab hier gab es kein Manuskript mehr. Kein Manuskript mehr von ... wem auch immer. Es war nicht Carstens eigenes, nein, aber in diesem Moment war es egal. Hauptsache raus hier. Es musste kein ästhetisches Meisterwerk werden. Carsten wollte einfach nur, dass es endete. Er sah zu Henry, der sich in den Türrahmen gelehnt hatte und dann schrieb er unter den letzten Absatz:
Carsten wachte in seinem eigenen Bett auf. Er sah sich um und stellte fest, dass es noch früh am Morgen war. Die Sonne warf ihre ersten Strahlen durch das Fenster. Lisa hatte vergessen, die Rollläden herunter zu lassen. Carsten warf einen Blick zur Seite und da lag sie neben ihm, schlief noch tief und fest.
Dann machte er die Augen zu und wartete einen Moment. Carsten konnte Henrys Blick auf sich förmlich spüren. Aber er versuchte es zu ignorieren. Wenn es funktionierte, dann würde er sowieso gleich weg sein. Also entweder Carsten oder Henry. Als er die Augen wieder öffnete, sah er als allererstes Henry, der in der Tür stand. Und das moderne Wohnzimmer. Er sah dieses furchtbare Wohnzimmer, das bedeutete, dass er sich immer noch in dem verdammten Roman befand. Carsten heulte auf.
"Was ist?", fragte Henry und versuchte vergeblich, die Anspannung in seiner Stimme zu verbergen.
"Es hat nicht funktioniert", sagte Carsten. Hinter seinen Augen hatte sich ein beträchtlicher Druck aufgebaut und er merkte, dass er sich Tränen verdrücken musste. Ihm war regelrecht nach Heulen zumute. Er steckte fest! Die einzige Möglichkeit, aus dem Roman zu entkommen - das Schreiben - hatte nicht funktioniert.
Henry trat mit großen Schritten näher und riss Carsten den Stapel Papiere weg.
"Gib her, was hast du geschrieben?" Henry las die Sätze und auf seinem Gesicht zeichneten Wut und Ärger eine zerfurchte Landschaft auf dessen Stirn.
"Du wolltest mich auf den Arm nehmen!", rief er empört.
"Nein, ich ...", fing Carsten an, aber er wurde von Henry vorne am T-Shirt gepackt und heftig aus der Couch gerissen.
"Ich hab genug davon! Wenn ich nicht auf dich angewiesen wäre, dann würde ich ..."
Das Geräusch der zufallenden Hautür unterbrach Henry. Er lockerte den Griff am T-Shirt und beide, er und Carsten, schauten gebannt zur Tür auf den Flur. Leise Schritte kamen immer näher. Und dann erschien ein Gesicht, dass Carsten gut kannte.
"Hallo?", fragte die sanfte Stimme schüchtern. Das verwirrte Gesicht, das im Türrahmen erschien, war eingerahmt von einem schrägen Pony.
"Lisa?", fragte Carsten.
"Was macht ihr beide?", fragte sie ohne auf Carsten einzugehen. Sie schaute nur Henry an.
"Wo kommst du her?", fragte Henry.
"Ich hatte dir gesagt, dass ich einen Tag wegfahren würde", sagte Lisa verdrossen. Sie trug ein schwarz-weiß gestreiftes Etuikleid und einen dunkelgrauen Mantel darüber. So seriös hatte Carsten sie noch nie angezogen gesehen. In der Hand hatte sie einen Aktenkoffer, den sie neben sich auf den Boden stellte.
Henry ließ Carsten los und ging auf Lisa zu. Er nahm sie in den Arm und wollte ihr einen Kuss geben, aber sie drehte ihren Kopf weg.
"Nicht jetzt", sagte sie und warf einen kurzen Blick auf Carsten. Der stand da und schaute sich die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte in einer Weise an, wie ein Theaterbesucher sich die Vorführung auf der Bühne ansah.
"Lisa?", fragte er erneut.
"Ach, Carsten, ich wünschte, du hättest es anders erfahren", seufzte sie.
"Was erfahren?", fragte Carsten.
Sie nahm die Aktentasche und legte sie auf die Couch. Dort öffnete sie sie und holte einen ganzen Stapel liniertes Schreibpapier heraus, den sie Carsten entgegen hielt. Mit gerunzelter Stirn sah er die Papiere an, ehe er sie zögerlich in die Hand nahm. Lisa deutete auf die Couch und Carsten setzte sich. Es war ein ganz schöner Stapel.
"Ab Seite 265 ist es wichtig ...", sagte Lisa. Carsten warf ihr einen scharfen Blick zu und blätterte zu der entsprechenden Seite.
Er las und das, was er las, gefiel ihm nicht. Lisa hatte alles aufgeschrieben, was passiert war. Bis auf diese Begegnung gerade eben. Der Text endete damit, dass Carsten und Henry im Haus ankamen. Nur eines fehlte: das Aufeinandertreffen von Carsten, Henry und Lisa. Das kam nicht vor. Aber ansonsten hatte sie ihr ganzes Leben auf diesem Papier aufgeschrieben. Ihres und Henrys. Und es sah nicht danach aus, als ob sie schon damit fertig sei. Sie würde weiter schreiben. Sie würde sich ein schönes Leben machen, gemeinsam mit Henry.
Carsten stand mit einem Ruck auf und schaute auf und sah in Lisas verkniffenes Gesicht. Mit verächtlichem Blick warf er ihr den Stoß Papier vor die Füße. Die Blätter rutschten auseinander. Ohne einen weiteren Blick auf Carsten zu werden, ging Lisa in die Hocke und klaubte die Blätter zusammen. Sie packte sie zurück in die Aktentasche und verschloss diese.
"Du lebst mit Henry zusammen?", fragte Carsten überflüssig.
"Ja. Es tut mir leid, Carsten. Aber es ist einfach so. Wir lieben uns."
"Aber ... ich habe ihn erfunden", sagte Carsten kraftlos.
"Ja, aber du und Henry, ihr seid doch zwei verschiedene Männer", sagte sie entschuldigend.
"Du magst solche Männer?", fragte Carsten fassungslos.
"Was meinst du mit solche Männer? Du hast ihm diese ganzen negativen Charakterzüge gegeben, aber in meinen Augen ist er so nicht. Zu mir ist er gut. Und das zählt", sagte Lisa mit einem Nachdruck, der keine weitere Nachfrage erlaubte.
"Und jetzt?", fragte Carsten.
Lisa kam mit langsamen Schritten auf ihn zu, nahm seine Hand, schaute ihm tief in die Augen und sagte: "Carsten wachte in seinem eigenen Bett auf. Er sah sich um und stellte fest, dass es noch früh am Morgen war."
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