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Carsten sah sich um. Er hatte das Bad vorhin gar nicht richtig betrachtet. Es sah aus, als sei es nachträglich in das Haus eingebaut worden und zwar vor gar nicht allzu langer Zeit. Es war mit großen sandfarbenen Fliesen an Boden und Wänden gefliest. Das Waschbecken, die Badewanne und die Toilette sahen aus wie neu. Unter dem Waschbecken stand ein kleiner Putzeimer, auf dessen Rand man ein sorgsam gefaltetes Putztuch und ein paar gelbe Putzhandschuhe gelegt hatte. Natürlich Putzhandschuhe, denn wenn man aus Papier war, dann musste man den Kontakt mit Wasser tunlichst vermeiden. Man wollte natürlich trotzdem eine saubere Wohnung haben und was lag dann näher als Putzhandschuhe zu verwenden?

Von der völligen Trivialität des Eimers mit den gelben Handschuhen und dem Lappen war Carsten eingelullt. Bei der Betrachtung dieser vollkommen normalen und alltäglichen Gegenstände vergaß er gnädigerweise wenigstens für ein paar Momente die ungemütliche Lage, in der er gerade steckte. Er dachte daran, wie er selber immer jeden zweiten Freitag am Vormittag den Wischmop schwang, einmal das ganze Haus wischte. Seinem Abschweifen wurde allerdings ein heftiges Ende gesetzt, denn er hörte Glas zerbrechen.

Carsten hielt sich die Hände vor den Mund. Er konnte das Geräusch zunächst nicht lokalisieren. Es war eine Fensterscheibe gewesen, klar, aber ob sie in der Küche oder in dem Zimmer von Luisa zerbrochen war, das hatte er nicht ausmachen können. Was ging im Haus vor sich? Ein Stuhl wurde gerückt, dann hörte er die Stimme von Henry. Die Stimme von Luisa. Die von Henry. Dann einen kurzen, schrillen Schrei von Luisa. Dann war eine Weile Ruhe. Carsten konnte sein Herz schlagen hören.

Sie mussten in der Küche sein. Henry musste Luisa überrumpelt haben. Was hatte er mit ihr gemacht? Sie hatte geschrien. Vor Schreck? Nur vor Schreck? Oder hatte er sie angegriffen? Was hatte er mit ihr gemacht? Und warum war ihr Schrei so abrupt abgebrochen? Carsten hatte nicht verstehen können, was Henry gesagt hatte.

Die Tür vom Badezimmer hatte kein Schlüsselloch, durch das Carsten hätte schauen können. Er konnte zwar nicht wissen, was passiert war, aber die Geräusche, die er gehört hatte, ließen ihm tausende Möglichkeiten durch den Kopf gehen, was sich gerade in den wenigen Sekunden zugetragen haben könnte. Henry hatte Luisa angegriffen. Warum sonst hätte sie schreien sollen?

Henry hatte Luisa angegriffen und Carsten hockte im Badezimmer und tat nichts. Bravo, dachte er bitter. Er war sich dessen bewusst, dass er Luisa helfen sollte, dass er ihr hätte helfen sollen, aber seine eigene Angst hielt ihn fest. Er schaute den Türgriff an. Er würde den Riegel lösen und einfach den Türgriff herunterdrücken müssen. Und sich Henry stellen.

Aber er konnte nicht. Er gebrauchte die Floskel in seinen Romanen zwar häufig, aber in diesem Moment merkte er, wie es sich wirklich anfühlte, vor Angst wie gelähmt zu sein. Vor Schreck hatte er nicht einmal bemerkt, wie flach sein Atem mittlerweile ging. Carsten ließ sich auf dem Rand der Badewanne nieder und horchte, was passieren würde. Henry würde ihn suchen. Er würde sicherlich versuchen, ins Badezimmer einzudringen, wenn er merkte, dass die Tür geschlossen war. Und deshalb musste Carsten dringend Vorkehrungen treffen, um sich gegen ihn verteidigen zu können.

Er griff sich den Eimer, warf die Handschuhe und das Tuch in die Badewanne und hielt den Eimer unter den Wasserhahn. Das Wasser rauschte hinein. Als Carsten den Hahn zudrehen wollte, stieß er mit einer Hand an den Eimer, sodass der sich etwas zur Seite neigte und ein wenig Wasser auf die Hand floss, die den Eimer festhielt.

Es war ein Gefühl, das Carsten so noch nie erlebt hatte. Besonders nicht, wenn er in Kontakt mit Wasser kam. Ein lähmendes und beißendes Gefühl schoss ihm von der Hand durch den ganzen Arm. Es fühlte sich ein bisschen so an, wie wenn man sich auf einer Herdplatte verbrannt hatte, aber ohne das Gefühl von Hitze. Einfach nur dieses komische Gefühl, als ob die betreffende Stelle für einige Momente taub wäre.

Reflexartig ließ Carsten den Eimer los und trat einen Schritt vom Waschbecken zurück. Kam denn hier kein normales Wasser aus dem Hahn? Wäre es denn zu erwarten gewesen, dass hier normales Wasser aus dem Hahn kam? In dieser total verdrehten Welt des Romans von Carsten, die ihre eigenen Gesetze hatte? Hatte Carsten wirklich erwartet, dass echtes Wasser wie in der echten Welt aus dem Hahn fließen würde?

Aber das Problem war nicht das Wasser gewesen. Carsten warf einen Blick auf seine Hand und hielt einen Augenblick den Atem an, bei dem, was er sah. Seine Hand hatte ihre Struktur verändert. Sie war nicht mehr aus Haut, sie war aus Papier. Dieselbe faserige Struktur, die Luisas Gesicht hatte, die Henry hatte, dieselbe Struktur hatte nun auch Carstens Hand angenommen.

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