21

"Was ist, warum sitzt du hier herum?", fauchte Carsten Luisa an. Die sah ihn einen Moment lang beleidigt an, fing dann aber an zu kichern und sagte: "Das ist deine Geschichte. Du hast sie doch geschrieben. Was kann ich anderes tun als das, was du mir vorgeschrieben hast?"

"Ich habe dir etwas vorgeschrieben? Hier herum zu hocken, während der wilde Tiger da draußen ums Haus schleicht?", fragte Carsten verständnislos. Die Angst in seiner Stimme war unüberhörbar. Sie klang ein paar Oktaven höher als seine normale Sprechstimme.

Luisa zuckte mit den Schultern und gähnte. Das machte Carsten wütend. Eigentlich war Henry doch genau der Mann, den sie verdient hatte. Er hätte so ähnlich auch reagiert. Bloß immer das Gegenteil von dem tun, was gerade angebracht wäre. Und diese provokante Art! Warum hatte Carsten Luisa sich überhaupt von Henry trennen lassen? Sie hatten doch gut zusammen gepasst ... In seiner Wut vergaß Carsten, dass er Luisas Wesensart so nicht vorgesehen hatte. Sie war nicht desinteressiert und gleichgültig. Sie war eine feinfühlige Frau und deswegen hatte sie es mit Henry auch nicht mehr ausgehalten. Was war denn mit ihr los?

Und vor allen Dingen: Was war das für eine Geschichte, die Carsten geschrieben haben sollte? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals eine solche Szene beschrieben zu haben. Er hatte sich noch nie in seine eigenen Romane eingebaut und selbst wenn, dann hatte er kein Kapitel, keine Passage, keinen Satz in Erinnerung, in dem das passierte, was sich hier gerade abspielte.

Draußen erschien für einen kurzen Moment ein Schatten am Rand vom Küchenfenster, der sofort darauf wieder verschwand. Jetzt war es die pure Panik, die Carsten packte. Das klare Denken verabschiedete sich in diesem Moment von ihm und er handelte nur noch aus dem Instinkt heraus. Bloß weg. Das war sein einziger Gedanke. Bloß weg hier. In einen Raum, in den Henry nicht einfach würde eindringen können.

Mit ein paar Sätzen sprang Carsten ins Badezimmer und donnerte die Tür hinter sich zu. Das Badezimmer hatte nur ein schmales Fenster, das sich zwei Handbreit unter der Zimmerdecke befand. Von außen dürfte Henry es nicht erreichen. Vorausgesetzt, es stand nichts an der Hauswand, an dem er hochklettern könnte. Aber das war Carsten gerade egal. Er schob den Riegel vor und stand einen Moment keuchend an die Tür gelehnt. Das Fenster war sowieso geschlossen und das Milchglas sah einigermaßen dick und stabil aus ... es sah stabil genug aus. Henry würde es nicht einfach einschlagen können, Henry würde hier nicht eindringen können ...

Carstens Blick fiel auf den Schreibblock, den er am Rand des Waschbeckens hatte liegen lassen. Ganz oben war das vollkommen unbeschriebene Papier, auf das er doch sehr wohl geschrieben hatte. Er nahm den Block in die Hand und betrachtete das oberste Blatt. Kaum hatte er etwas darauf geschrieben, hatte es sich einfach ausgelöscht. So würde sein Plan also nicht funktionieren. Er konnte also nicht einfach auf irgendein Papier schreiben und einfach den Lauf der Ereignisse verändern.

Aber wie war das alles denn passiert? Alles beruhte scheinbar einzig auf Carstens Manuskript, denn das war der Ursprung von Henry. Wenn Carsten ihn nicht erfunden hätte, wenn er ihn nicht zu Papier gebracht hätte, dann gäbe es Henry auch gar nicht. Es war Carstens Manuskript, das Henry erschaffen hatte. Langsam ging Carsten ein Licht auf. Er musste an sein originales Manuskript kommen. Wenn sich die Ereignisse nach dem richteten, was in dem Manuskript stand - in dem, das Carsten in seiner Schublade geparkt hatte -, dann würde er es brauchen, um die Ereignisse verändern zu können.

Und das bedeutete, er musste wieder zurück in sein Haus. In sein Haus? In sein Haus, das zu Henrys Haus geworden war. Aber würde er das Manuskript dort finden? Die Küche und der Flur hatten schließlich auch ganz anders ausgesehen, als in Carstens richtigem Haus. Es hatte sich alles verändert. War es also überhaupt Carstens Haus? Existierte Carstens Arbeitszimmer noch? Wenn nicht, dann wäre auch das Manuskript fort und somit auch die Chance, die Geschichte zu verändern.

Um darüber zu grübeln hatte er keine Zeit. Henry war immer noch da draußen und solange er ums Haus patrouillierte, würde Carsten hier drinnen festsitzen. Hier drinnen im Badezimmer. Moment, dachte Carsten. Im Badezimmer! Was hatte ein Badezimmer? Jede Menge Wasser! Carsten richtete sich auf und schaute in den Spiegel über dem Waschbecken. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab. Natürlich! Er war hier drin in Sicherheit. Er hatte Wasser! Henry würde es nicht wagen, hier einzudringen, denn sonst würde Carsten ihn mit der Duschbrause oder mit einem Eimer Wasser empfangen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top