20
Carsten wachte in seinem eigenen Bett auf. Er sah sich um und stellte fest, dass es noch früh am Morgen war. Die Sonne warf ihre ersten verhaltenen Strahlen durch das Fenster. Lisa hatte vergessen, die Rollläden herunter zu lassen. Carsten warf einen Blick zur Seite und da lag sie neben ihm, schlief noch tief und fest.
Nachdem er die paar Sätze geschrieben hatte, schloss er die Augen und atmete einmal tief ein und aus. Als er dann wieder die Augen öffnete, hatte sich zu seinem Grauen nichts verändert. Er saß nach wie vor auf dem Rand der Badewanne im Haus von Luisas Cousine, er hatte nach wie vor nur seine Unterhose an und einen Block und einen Stift in der Hand.
Der Block. Er traute seinen Augen kaum, als er auf den Block schaute. Die Sätze, die er eben zuvor geschrieben hatte, waren nicht mehr da! Das Papier sah aus, als sei nie etwas darauf geschrieben worden. Carsten fuhr mit dem Finger über die Stelle, wo die Sätze gestanden hatten, aber dort war das Papier so ebenmäßig, als hätte der Kugelschreiber es nicht einmal im Ansatz berührt.
Ein Schluchzer entwich Carsten und er hielt sich die Hand vor den Mund. Ihm war nach Heulen zumute. Am liebsten hätte er sich auf dem Fußboden zusammengerollt und einfach nur geheult. Die Situation war überfordernd, denn er konnte sich nicht erklären, was vor sich ging und er wollte einfach nur nach hause. Einfach nur in seinem eigenen Bett aufwachen, neben Lisa, die vergessen hatte, die Rollläden herunter zu lassen.
Das Klopfen an der Tür schreckte Carsten auf.
"Alles gut bei dir?", fragte Luisa.
"Ja!", rief Carsten zurück. Er räusperte sich und wischte sich mit der Hand übers Gesicht.
"Anne fährt gleich in die Stadt, soll sie dir etwas mitbringen?"
"Anne?"
"Meine Cousine."
"Ach so. Hm ... vielleicht ein T-Shirt, wenn es geht. Eines aus Stoff?", fragte Carsten durch die Tür hindurch und versuchte nicht so jämmerlich zu klingen, wie ihm zumute war.
"Ich sag ihr Bescheid."
Schritte entfernten sich vom Badezimmer. Carsten legte den Block und den Stift auf den Rand des Waschbeckens und drehte den Wasserhahn auf. Er sah den Wasserstrahl laufen, ganz normales Wasser. Dann wusch er sich das Gesicht. Und gleichzeitig fragte er sich, warum hier Wasser lief, wenn es doch für die Menschen aus Papier gefährlich war.
Den Gedanken verwarf er, weil es ihm allmählich Kopfschmerzen bereitete, über die Logik in der Welt seines Romans nachzudenken. Er verließ das Badezimmer und ging zurück in das Zimmer, in dem er die Nacht verbracht hatte. Beim Betreten des Zimmers sah er, dass sein Bett gemacht worden war. Luisa saß auf ihrem Bett und lächelte ihm zu. Carsten wich erschrocken zurück, weil er aus irgendeinem Grund nicht mit ihr gerechnet hatte.
"Anne hat dir noch etwas von der Lasagne beiseite gelegt, falls du doch noch Hunger hast. Sie schmeckt wirklich gut. Ich sag dir, ich kenne keine bessere Köchin als Anne", sagte Luisa.
"Ist es Gemüselasagne?", fragte Carsten. Auf Luisas Papierstirn zeichneten sich kleine Falten ab.
"Nein, wie ... wie kommst du auf Gemüselasagne?", fragte sie.
"Einfach so ...", sagte Carsten. Er hatte keinen Appetit, aber da Luisa es ihm jetzt mehrfach angeboten hatte und er sich sonst unhöflich vorkam, entschied er sich dafür, doch etwas zu essen.
Die beiden gingen in die Küche und Luisa richtete ihm die Lasagne mit ein paar Salatblättern auf einem Teller an und gab sie Carsten. Sie war noch warm und sah in der Tat köstlich aus. Und der Duft ... Und sie war wohl echt. Nicht aus Papier, sondern echt aus Nudelblättern und Tomatensauce. Wobei die Lasagne, die Lisa ihm immer auftischte auch schmeckte wie aus Papier, dachte Carsten. Und das, obwohl sie die in der echten Welt zubereitete.
Carsten aß die Lasagne eilig auf. Er hatte doch Hunger gehabt. Und sie schmeckte herrlich. Luisa hatte nicht übertrieben.
"Richte deiner Cousine aus, dass sie wunderbar kochen kann", sagte Carsten, nachdem er sich den Mund mit einem Stück Küchenrolle abgewischt hatte. Luisa nickte.
Carsten lehnte sich in seinem Stuhl zurück und die Lehne knarzte unheilvoll. Eine Weile lang sagte niemand etwas und er überlegte, ob er Luisa von seinem Versuch, aus dem Roman zu entkommen, erzählen sollte. Einerseits brauchte er jemanden, dem er sich anvertrauen konnte, andererseits rechnete er damit, dass sie nicht erfreut sein würde, wenn sie hörte, dass Carsten sich davon machen wollte. Es kam ihm unhöflich vor, in etwa so, wie wenn man bei jemandem zu Besuch war und sich dann durch das Fenster in der Toilette vom Acker machte. Außerdem fürchtete er insgeheim, dass Luisa versuchen könnte, sein Entkommen zu vereitelt. Ihre Blicke und die Versuche, Körperkontakt aufzubauen, waren ihm nicht entgangen.
Wenn Carsten sich dafür entschied, ihr nichts zu sagen, dann musste er auch zusehen, dass er nur in den Momenten, in denen Luisa nicht zugegen war, seine Versuche unternahm, zu verschwinden. Er betrachtete sie. Sie saß entspannt auf ihrem Stuhl und schaute aus dem Fenster.
Die Stille in der Küche wurde jäh unterbrochen durch heftiges Poltern an der Haustür. Carsten zuckte zusammen, aber Luisa richtete nur den Kopf auf, als sei das das Zeichen, auf das sie die ganze Zeit gewartet hatte. Sie wirkte keinesfalls überrascht. In ihrem Blick zeichnete sich mehr Langeweile als Erstaunen ab.
"Was ist das?", fragte Carsten.
"Das wird wohl Henry sein", gab Luisa zurück.
"WAS?", rief Carsten.
"Was hast du denn erwartet? War doch klar, dass er kommen würde. Ich hab sogar noch früher mit ihm gerechnet ..."
Carsten stand vom Stuhl auf und sah sich um. Die Küche lag im Erdgeschoss, ebenso das Bad und das Zimmer, in dem sie geschlafen hatten. Es würde ein Leichtes für Henry sein, hier unten einzudringen. Das Poltern hörte so plötzlich auf, wie es angefangen hatte, und das beunruhigte Carsten fast noch mehr. Wenn Henry nicht an der Haustür hämmerte, dann bedeutete das, dass er um das Haus herum laufen würde. Nach dem Eingang suchend.
Sein Herz raste, während Carsten sich nach allen Seiten umsah und ihm die Möglichkeiten durch den Kopf rasten, die ihm in dieser Situation blieben. Und bei all der Panik, sauste ihm doch eine Frage immer wieder durch den Kopf: Warum saß Luisa einfach so herum? Warum tat sie nichts? Ohne Frage würde Henry ins Haus eindringen und dann ... was er dann tun würde, wusste niemand besser, als der, der Henry erschaffen hatte.
Während Carsten an dem Roman gearbeitet hatte, hatte er auf einem Zeichenblock die Figuren skizziert. Er hatte sie so gezeichnet, wie er sie sich vorgestellt hatte. Er zeichnete dilettantisch und es war mehr provisorisch, aber es hatte ihm immer geholfen, sich die Figuren besser vorstellen zu können. Unter die Zeichnungen der Figuren hatte er dann immer den Namen, das Alter und Eigenschaften der Figur notiert. Für Henry war diese Liste bis auf ein paar Ausnahmen wenig schmeichelhaft ausgefallen. Neben selbstbewusst, kühn und draufgängerisch hatte Carsten ihn als arrogant, berechnend, aggressiv, kalt, egoistisch, unberechenbar und misstrauisch beschrieben. Und Henry erfüllte seine ihm zugeschriebene Rolle.
Aus welchen anderen Motiven außer Egoismus hätte er denn gewollt, dass Carsten die Geschichte umschreiben sollte? Luisa wollte nicht mehr mit Henry zusammen sein, weil sie nicht mit seiner Art zurecht kam. Sie hatte nicht mehr mit ihm zusammen sein wollen, sie hatte sich ja sogar schon getrennt. Und trotzdem hatte Henry Carsten dazu genötigt, die Geschichte umzuschreiben. Er hatte Carsten gezwungen, Luisa zu zwingen, bei ihm zu bleiben. Und dann hatte er doch Lisa gewollt.
Und wie war denn jemand, der so etwas tat? Wie war jemand, der seine Ex-Freundin dazu zwang, mit ihm zusammen zu sein? Dazu gehörte es doch, kalt zu sein. Henry war genau das. Seine Arroganz verbat es ihm, auf Augenhöhe mit seiner Freundin zu sein. Denn wenn er auf Augenhöhe mit ihr gewesen wäre, dann hätte sie ihn sicher nicht verlassen.
Doch was Carsten gerade am meisten ängstigte, war die Unberechenbarkeit dieses Mannes. Unberechenbar und aggressiv war eine gefährliche Mischung und es konnte alles passieren. Nur nichts, was Carsten gefallen würde.
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