2
Lisas Idee für die weitere Handlung der Geschichte war die gewesen, dass Henry davon gewusst hatte, dass er ausgehorcht worden war. Henry hatte es gewusst, aber der Leser selbst erfuhr erst jetzt davon, dass Henry das die ganze Zeit über gewusst hatte. Das war ziemlich clever, fand Carsten. Man erfuhr also, dass Henry hintergangen worden war, was an sich schon der Wendepunkt der Geschichte war, und dann erfuhr man, dass Henry diese Tatsache die ganze Zeit schon bewusst gewesen war. Ein doppelter Plot Twist sozusagen. Genial.
Manchmal fragte sich Carsten, warum er der Schriftsteller war und nicht Lisa. Ihre Ideen waren unglaublich einfallsreich und kreativ. Einmal hatte er sie dazu bewegen wollen, auch zumindest eine kleine Erzählung zu schreiben, wenigstens eine Novelle oder eine Kurzgeschichte. Aber Lisa hatte abgewinkt mit der Begründung, sie könne die Charaktere nicht so gut beschreiben wie Carsten. Das war Unsinn. Dass sie das Potenzial hatte, gute Geschichten zu schreiben, hatte sie an jenem Abend hinreichend bewiesen. Aber gut, wenn sie nicht wollte, dann würde Carsten sie auch nicht dazu zwingen. Es war dann eben leider verschenktes Potenzial.
Er selbst hatte an dem Abend, an dem sie ihm die inspirierende Idee gegeben hatte, noch weiter geschrieben und Henry hatte John und David auffliegen lassen. Er hatte gegen die beiden in der Hand, dass sie in der Firma, in der alle drei arbeiteten, Ersatzteile für Autos gestohlen hatten. Zwar hatte Henry ihnen indirekt dabei geholfen, indem die Kameras immer im richtigen Moment - ganz wie durch Zufall - einen Ausfall hatten, aber das würde Henry gekonnt unter den Tisch kehren.
Mit frischem Elan hatte Carsten allerdings nur zwanzig Seiten geschrieben, bis er wieder auf ein Hindernis gestoßen war. Gut, er hatte jetzt beschrieben, wie Henry John und David in eine Falle gelockt hatte und der Diebstahl war drauf und dran, ans Licht zu kommen. Es fehlte nicht mehr viel. Sie würden mit Sicherheit auffliegen. Aber wie weiter? Ab dem Punkt war dann auch nichts mehr weiter gegangen. Es gab nämlich einen Störfaktor. Henry selbst war auch nicht ganz sauber, warum sollte es dann dem Leser gefallen, wenn er zwei andere auffliegen ließ, selbst aber ungeschoren davonkam?
Und genau an diesem Punkt stand Carsten in diesem Moment. Dieses Dilemma hielt ihn davon ab, das Manuskript einfach locker herunter zu schreiben und endlich bei seinem Verleger einreichen zu können. Die Geschichte stockte, weil Carsten sich mit seiner Figur verzettelt hatte. Henry war nicht gerade ein Gentleman, er war einfach kein wirklicher Sympathieträger. Und obendrein hing er auch irgendwie in der Sache mit den Diebstählen mit drin. Warum sollte man es gutheißen, wenn so einer auch noch mit Beihilfe zum Diebstahl davonkam? Er hatte doch die ganze Aktion erst möglich gemacht, indem er die Überwachungskamera manipuliert hatte. Stromausfall, ja ja! Henry war mindestens genauso schuldig wie John und David.
Carsten war klar: entweder musste er den Charakter von Henry ändern oder das Ende. Dadurch, dass Henry ohnehin ein relativ unsympathischer Typ war, zog Carsten erstere Variante vor. Er wollte Henry ändern. Dafür würde er einmal durch das komplette Manuskript gehen müssen, um sich ein vollständiges Bild von seiner Figur zu machen. Es lag schon lange zurück, seit er den Anfang der Geschichte geschrieben hatte. Dann würde er sich überlegen müssen, was genau er an Henry ändern wollen würde, um dann noch einmal durch seine Niederschrift zu gehen und alles zu ändern, was geändert werden musste.
Ziemlich viel Arbeit, aber es würde sich lohnen. Denn so, wie Henry jetzt war, konnte er nicht bleiben. Doch Carsten musste jetzt damit anfangen, damit es auch bis Freitag fertig sein würde. Mindestens achtzig Seiten noch, das setzte er sich zum Ziel. Das sollte auch zu schaffen sein, in den drei Tagen. Das war das absolute Minimum. Achtzig Seiten, lieber mehr, aber wenn er die achtzig Seiten hinbekommen würde, dann wäre er schon froh.
Carsten nahm das Manuskript aus der Schublade. Er las. Und beim ersten Mal lesen seit Wochen erschien ihm Henry auf unerklärliche Weise gar nicht mehr so unsympathisch wie er ihn in Erinnerung hatte. In groben Zügen glaubte er zu erkennen, was Lisa an dem Typen cool fand. Ja, Henry war ein verwegener Typ. In dem Punkt könnte sich Carsten vielleicht sogar noch etwas von ihm abschauen. Carsten selbst war ja jemand, der sich vieles nicht traute. Viele Hemmungen, viel Angst, sich zu blamieren. Das Selbstvertrauen war bei Carsten in ungesundem Maße unterentwickelt. Er wusste das selbst. Doch daran zu arbeiten war schwer. Im Vergleich zu Carsten wirkte Henry, als hätte er keine Angst vor nichts. Ein richtiger Draufgänger, entsprungen aus dem Kopf eines Hasenfußes.
Ein Hasenfuß, dachte Carsten, das passt zu mir. Ein Typ, der sich vor vielem scheut. Tja, nun, das ist meine Schwäche. Eine Schwäche! Das Wort leuchtete in Carstens Vorstellung. Natürlich, eine Schwäche! Das war seine Schwäche, aber wo war Henrys Schwäche? Gab es eine? Jeder hatte doch eine Schwäche!
Nein, Henry hatte keine Schwäche. Noch nicht. Carsten würde eine kleine Schwäche in den Charakter von Henry einbauen. Schwächen ließen einen sympathisch erscheinen, denn dann konnten sich die Leute mit einem identifizieren. Wer hatte denn schon keine Schwäche? Wenn jemand keine hatte, dann wirkte er unnahbar. Aber wenn man eine hatte, dann machte das einen doch menschlich. Und so einen Sympathiebonus hatte Henry aus Carstens Sicht auch bitter nötig. Denn wenn man Schwächen hatte - am besten solche liebenswürdigen Schwächen wie die Angst vor Spinnen -, dann waren die Leute nachsichtiger. Und dann würde man Henry auch vielleicht einen Fehltritt verzeihen. Dem fehlbaren Henry, der auch nicht perfekt war. Aber welche Schwäche sollte er haben?
Von dem unerwarteten Einfall inspiriert, überlegte Carsten intensiv. Das erste, das ihm einfiel und das passen könnte, war Höhenangst. Henry sollte also Höhenangst haben. Ja, genau, und John und David sollten davon wissen und ihn unter einem Vorwand auf den Sendeturm bringen. Dort würde Henry natürlich Angst haben. Die Angst würde seinen sonst so schnellen Verstand einschränken. Er würde es kaum wagen, einen Blick nach unten zu werfen. Ihm würde schwindelig werden, er würde sich am Geländer festhalten. Henry wäre außer sich. Das würden die beiden ausnutzen, um ihn dazu zu bringen, dicht zu halten. Es war eine angespannte Situation. Natürlich würde das nichts daran ändern, dass Henry den Diebstahl trotzdem gegen die beiden in der Hand hatte. Er würde etwas tun - was genau, wusste Carsten noch nicht - um aus der Situation zu entkommen. Und dann wären John und David fällig. Ja, das konnte man so machen, denn der Leser würde unweigerlich zumindest eine Spur Mitleid mit Henry haben und John und David müssten den Kopf hinhalten.
Die Handlung stand fest. Also schrieb Carsten. Zehn Seiten, zwanzig Seiten, fünfzig Seiten, hundert Seiten. Draußen wechselte sich das Licht der Sonne mit dem der Straßenlaternen ab und Carsten schrieb immer noch. Lisa lag sicherlich schon lange im Bett und Carsten schrieb immer noch. Als er endlich auf die Uhr schaute, war es kurz nach zwei Uhr morgens. Alles war komplett still, aber das fiel ihm erst jetzt so richtig auf. Erschöpft lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Vor seinen Augen tanzten die Buchstaben. Er hatte kaum aufgesehen, seitdem er sich ans Schreiben gemacht hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top