18
Als Carsten aufwachte, lag Luisa nicht mehr in ihrem Bett. Es befand sich keine Uhr in dem Zimmer und Carsten hatte auch keine bei sich, weshalb er nicht die geringste Ahnung hatte, wie spät es war. Draußen musste es schon seit längerer Zeit hell sein, aber er hatte kein Zeitgefühl mehr und konnte deshalb nicht einmal abschätzen, ob es noch Vor- oder schon Nachmittag war.
Er setzte sich auf und sah sich in dem Zimmer um. Bei Tag sah es anders aus als in der Nacht. Es sah schöner, heller und einladender aus. Erst jetzt bemerkte Carsten, dass das Zimmer in einem angenehmen Hellgelb gestrichen war. Ebenfalls fiel ihm die Ruhe auf. Was fehlte, war das Rauschen der Autos, das Hupen, das Geschrei von spielenden Kindern ... es war einfach herrlich ruhig.
Für einen Moment konnte sich Carsten vorstellen, hier zu leben. Hier in diesen wunderbar alten Haus mit den knarrenden Dielen. In dieser herrlich ruhigen Straße. Dann fiel ihm wieder sein Wunsch ein, mit dem er eingeschlafen war. Er hatte gehofft, dass er in der echten Welt wieder aufwachen würde. Am besten noch in seinem eigenen Bett. Und dass er dann feststellen würde, dass alles nur ein Traum gewesen war.
Dem war eindeutig nicht so. Er war genau dort aufgewacht, wo er eingeschlafen war; auf einer Luftmatratze in einem Bauernhaus. Das einzige, was sich verändert hatte: Luisa war weg. Das musste jedoch nicht unbedingt schlecht sein, denn Carsten dachte, dass wenn er sie gleich nach dem Aufwachen gesehen hätte, wenn er in ihr Papiergesicht geschaut hätte, dann wäre es ihm wahrscheinlich vor Schreck durch Mark und Bein gefahren. Aber dann hätte er eindeutig gewusst, dass er immer noch in dem Roman feststeckte. Und er hatte nach wie vor keine Lösung, wie er wieder heraus kommen könnte.
Carsten seufzte und griff nach seinem T-Shirt. Sowie seine Finger es zu fassen bekamen, merkte er, dass es sich komisch anfühlte. Er sah es sich genauer an und stellte mit Entsetzen fest, dass die Struktur sich verändert hatte. Es war ein ganz normales T-Shirt gewesen, 100% Baumwolle, dunkelblau. Aber das schien es nicht mehr zu sein. Anstatt der gewebten Struktur, die so ein T-Shirt hatte, sah Carsten eine fasrige Struktur wie ... von Papier.
Er entfaltete das T-Shirt und sah, dass es Knitterfalten hatte, wie zerknülltes Papier, das man in den Papierkorb geworfen hatte. Nach einem Moment, in dem er einfach nur sprachlos auf das Kleidungsstück gestarrt hatte, versuchte Carsten, es anzuziehen. Aber es ging natürlich nicht. Es war wirklich aus Papier. Es dehnte sich kein Stück und beim Versuch, es sich über den Kopf zu ziehen, zerriss das T-Shirt an der Naht ... oder an dem, was einmal die Naht gewesen war. Als es noch aus Stoff bestanden hatte.
"Oh nein", wimmerte Carsten. Er griff hektisch nach der Hose. Die war noch echt. Fester Jeans-Stoff. Immer noch weich und dehnbar. Zum Glück. Auch die Schuhe waren noch so, wie Carsten sie vor dem Schlafengehen hingelegt hatte. Die Unterhose, die er trug, war auch nicht aus Papier. Einzig und allein das T-Shirt. Schlimm genug.
Die Tür ging auf und Luisa trat ein. Sie hatte sich frische Sachen angezogen und sah aus, als sei sie schon länger wach.
"Guten Morgen, Carsten! Hast du gut geschlafen?", fragte sie munter.
"Hm ... ja ... hm ... mein T-Shirt", murmelte Carsten. Luisa schaute ihn aufmerksam an.
"Ja?"
"Es ist aus Papier ...", sagte er.
"Ja."
Carsten konnte Luisas Papiergesicht keine Regung entnehmen. Sie sah aus, als sei das, was Carsten ihr gerade gesagt hatte, vollkommen normal. Dein T-Shirt ist über Nacht zu Papier geworden? Ach, kein Problem! Sowas passiert doch jeden Tag!
"Luisa, mein T-Shirt ist aus Papier. Warum ist mein T-Shirt aus Papier?", fragte er drängend.
"Du bist hier in deinem Roman, Carsten. Natürlich wird hier alles zu Papier", sagte sie sanft.
Carsten sah sich im Raum um und sagte dann: "Aber das Haus, dein Auto, das Zimmer, die Möbel. Die sind nicht aus Papier. Wieso dann die Menschen? Und die Kleidung?"
"Ach, Carsten, sei doch nicht albern. Das Haus kann doch gar nicht aus Papier sein. Wie sollte es denn dann stehen? Es würde doch beim kleinsten Windzug umfallen", sagte Luisa.
Carsten reichte diese Erklärung nicht. Er konnte aber Luisas Gesicht ansehen, dass sie keine weiteren Erklärungen zu geben hatte. Es war wohl einfach so. Irgendwie machte es auch Sinn, zumindest in dieser Welt. Natürlich konnte das Haus nicht aus Papier sein. Aber trotzdem, warum war die Kleidung dann aus Papier? Carsten beschloss, das erst einmal hinten anzustellen. Für ihn war es wichtig, wie er hier heraus kam. Über die Logik, die in der Welt des Romans herrschte, konnte er sich später noch Gedanken machen.
Seine Priorität lag darin, dass möglichst nicht noch mehr von ihm zu Papier wurde. Denn wenn das, was Henry gesagt hatte, auch anders herum passierte, dann würde Carsten bald aus Papier sein.
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