13
"Setzen wir uns", sagte Carsten. Es kam zwar unvermittelt und wirkte in der Situation etwas unpassend, aber Henry wirkte keineswegs überrascht. Natürlich nicht. Er ließ sich auf der Couch nieder.
"Warum ist deine Lederjacke nicht aus Papier?", fragte Carsten. Henry zog die Augenbrauen zusammen. Carsten setzte hinzu: "Na, ich habe sie vorhin an die Garderobe gehängt. Sie ist aus Leder, ganz eindeutig. Warum ist dein Hemd aus Papier und die Jacke aus Leder?"
Ein überlegenes Grinsen schlich sich auf Henrys Gesicht.
"Das wüsstest du gerne, was? Ist es dir denn selber nicht schon klar geworden? Also gut. Je länger ich hier bleibe, desto mehr werde ich zu einem Menschen. Alles an mir wird echt. Das fängt bei der Kleidung an. Die Jacke wurde zu einer echten Lederjacke. Als nächstes sind vielleicht meine Schuhe dran oder das Hemd, vielleicht auch die Hose. Und Stück für Stück werde ich immer echter. Ich werde ein Teil dieser Welt sein."
Was sollte man dazu noch sagen? Das war eine Logik, die dieser speziellen Nacht würdig war. Henry wurde immer mehr zum Menschen. Doch das war ein Problem. Ein Problem für Carsten. Wenn Henry bald ein echter Mensch sein würde, dann würde ihm ein bisschen Wasser nichts mehr ausmachen. Solange Henry noch aus Papier war, hatte Carsten eine Chance gegen ihn. Sobald er einmal ein echter Mensch sein würde, wäre Henry ihm ohne Zweifel haushoch überlegen. Dann konnte Carsten einpacken.
Was würde dann wohl passieren? Henry würde Carsten womöglich aus seinem eigenen Haus verdrängen. Nein, nicht einmal verdrängen, er würde ihn rauswerfen. Ohne Umschweife. Und er könnte ihm Lisa wegnehmen. Henry würde dann sicher nicht mehr in seine fiktive Welt zurückkehren. Vielleicht würde er es als echter Mensch nicht einmal mehr können, selbst wenn er es wollen würde. Wozu hatte Carsten dann aber eigentlich den Roman umschreiben sollen, wenn Henry sowieso nicht mehr dorthin zurück wollte?
"Und was dann?", fragte Carsten nervös.
Henry zuckte mit den Schultern und stand wieder vom Sofa auf. Er schlenderte im Wohnzimmer umher und sah sich demonstrativ um, wie jemand, der eine Besichtigung machte.
"Ich hätte Lust auf einen Kaffee", sagte er unvermittelt.
"So spät noch Kaffee?", fragte Carsten.
"Es ist eher früher Morgen als späte Nacht", sagte Henry, "also? Machst du mir einen? Einen Cappuccino hätte ich gerne."
"Ich habe nur Filterkaffee. Keinen Vollautomaten, der Cappuccino macht", gab Carsten zurück.
Henry grinste und nickte mit dem Kopf in Richtung Küche. Zögerlich erhob sich Carsten vom Sofa und ging in die Küche. Dort blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Er stand in der Küche, aber es war nicht seine Küche. Es war, als ob jemand die komplette Küche neu eingerichtet hätte, während er und Henry oben im Schlafzimmer gewesen waren. Die Fliesen waren anders, die Möbel und auch die Geräte. Weiße Fliesen mit grauen Fugen, weiße Küchenschränke, ein silber-grauer Kühlschrank, eine Küchenmaschine, eine Mikrowelle, ein Toaster und ... ein Kaffeevollautomat!
Desorientiert sah sich Carsten um. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Hinter ihm stand Henry in der Tür.
"Was ist?", fragte der gelassen.
"Das ist nicht meine Küche", sagte Carsten.
"Nein, das ist tatsächlich nicht deine Küche. Mann, das ist die, die du mir gegeben hast."
Mit beiden Händen fasste sich Carsten an den Kopf und drehte sich langsam um die eigene Achse, um das Unbegreifliche noch einmal in der Rundumsicht zu betrachten. Ja, das war die moderne Einrichtung, die Henry sich gewünscht hatte. Das war Henrys Küche und nicht seine. Carsten ging näher an den Kaffeeautomaten heran, wie jemand, der kurzsichtig ist und sich die Details genauer ansehen möchte.
Die Maschine sah auf jeden Fall nicht aus wie gezeichnet. Carsten fuhr langsam mit dem Finger über das Material. Es fühlte sich kühl an. Das war Metall oder was auch immer es war, woraus Kaffeemaschinen bestanden. Aber Papier war es garantiert nicht.
Carsten hatte nicht bemerkt, wie sich Henry neben ihn gestellt hatte. Erst als die papierne Hand sich ausstreckte und auf einen der Knöpfe an der Maschine drückte, wurde sich Carsten Henrys Anwesenheit wieder bewusst. Die Maschine begann zu rattern. Eine Tasse stand auch schon bereit, nur darauf wartend, den heißen Kaffee aufzufangen. Auch sie passte natürlich perfekt zum Interieur der Küche. Eine schlichte weiße Tasse mit geschwungenem Henkel. Einfach und elegant.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top