12
"Du hast das eingefädelt", sagte Henry. Carsten schaute zu ihm hoch.
"Wie bitte?", fragte er tonlos.
"Du hast das so eingefädelt. Du weißt genau, wo Lisa ist. Tu nicht so. Ich weiß doch, wozu du fähig bist."
"Wozu ich ... was?" Carsten stieß einen kurzen, hysterischen Lacher aus. Henrys Gesicht blieb ernst und er verschränkte die Arme vor der Brust. Die Stelle, an der sich die Farbe abgelöst hatte, fiel Carsten jetzt wieder ins Auge. Er und Henry waren nur wenige Schritte vom Badezimmer entfernt. Im Badezimmer gab es ganz viel Wasser ...
"Denk nicht dran", sagte Henry und Carsten zuckte unwillkürlich zusammen. Konnte der Mann nun auch noch Gedanken lesen? War denn vor Henry nichts und niemand mehr sicher? Natürlich musste er Gedanken lesen können. Wie hätte er sonst Carstens Gedanken erraten können?
"Woran?", fragte Carsten betont unwissend.
"Ich weiß, dass Luisa unten im Auto wartet. Du kannst mir nichts vormachen. Du hast es so geschrieben. Ich habe es gelesen. Du rennst gleich nach unten und springst zu ihr ins Auto. Luisa sitzt auf dem Fahrersitz. Sie wird losfahren, noch bevor du dich angeschnallt hast. Noch bevor du die Tür richtig verschlossen hast."
Jetzt fiel Carsten die Kinnlade herunter. Vor Erstaunen über das, was Henry gesagt hatte, vergaß er fast, dass er erleichtert sein sollte, dass Henry doch nicht seine Gedanken gelesen hatte. Nichtsdestotrotz saß der Schreck tief. Beim besten Willen konnte sich Carsten nicht daran erinnern, sich das, was Henry ihm gerade vorgetragen hatte, jemals ausgedacht zu haben. Geschweige denn, es zu Papier gebracht zu haben. Nein, er hatte sich selbst nie, nie und auch wirklich nie als eine Figur in seinem Roman vorgestellt. Da waren nur die ausgedachten Figuren und kein Carsten.
Dazu kam noch die angebliche Beziehung mit Luisa. Nein, Carsten hatte keine Beziehung mit Luisa und er wollte auch keine. Er war glücklich mit Lisa. Mit seiner Lisa Es sollte einfach alles so bleiben, wie es war.
"Was wollten wir eigentlich nochmal hier oben?", fragte Carsten verwirrt.
"Du wolltest mir ein Hemd geben", sagte Henry langsam.
"Ach so."
Carsten ging zu dem großen Kleiderschrank, den er und Lisa sich teilten. Links war seine Seite und rechts ihre. Wobei seine Seite recht mager bestückt war. Außer dunkelblauen T-Shirts und drei Paar Jeans jeweils in Blau, Schwarz und Grau besaß Carsten nicht viele Kleidungsstücke. Er arbeitete meistens zuhause, also musste er auch keine Hemden besitzen. Natürlich hatte er trotzdem zwei Stück. Lisa hatte sie ihm geschenkt.
Insgeheim schien es sie wohl zu stören, dass Carsten immer dieselben T-Shirts trug. Sie hatte ihm zu seinem Geburtstag zwei einfarbige Hemden geschenkt. Eines in Rot und eines in Himmelblau. Carsten mochte keine hellen Farben an sich. Manchen Leuten mochten sie ja gut stehen, aber er fand an sich dunklere Töne gut. Ein, zwei Mal hatte er die Hemden getragen, um Lisa nicht zu beleidigen. Aber dabei war es dann auch geblieben.
Er zog das rote Hemd heraus und hielt es Henry hin. Der nahm es und streifte es sich über. Es sah denkbar seltsam aus. Das Hemd hing an ihm herunter, als hätte man es über einen Kleiderbügel geworfen. Die Struktur des Papiers, aus dem Henrys eigenes Hemd bestand, bildete einen eigenartigen Kontrast zu dem richtigen Hemd aus Baumwollstoff, das Carsten ihm gegeben hatte.
Keiner von beiden sagte etwas. Sie gingen wieder nach unten ins Wohnzimmer. Schweigend, obwohl Carsten so viele Fragezeichen im Kopf hatte.
"Was jetzt?", fragte er, als sie inmitten des Wohnzimmers standen.
"Jetzt sagst du mir endlich, wo Lisa ist", sagte Henry.
"Ich weiß es nicht", sagte Carsten. Henry trat einen Schritt näher. Carsten sagte nichts. Das Papiergesicht schaute verbissen zu Carsten hinab. Henry nutzte seine Körpergröße gerne dazu, andere Leute einzuschüchtern. Und obwohl Carsten es nicht zugeben wollte, funktionierte es auch bei ihm. Der Fluchtinstinkt packte ihn am Kragen und Carsten sah sich so unauffällig wie möglich nach einem Ausweg um.
Trotz der Anspannung fragte Carsten sich, was Henry denn noch von Lisa wollte. Luisa war jetzt nach seinen Wünschen geändert. Warum sollte Henry dann noch zu Lisa wollen? War Luisa ihm doch nicht gut genug? Was für ein grober Kerl er doch war. Er war so roh. So etwas sah ihm doch ähnlich, Carsten verstand seine eigene Überraschung darüber nicht. Aber es war so schon verwirrend genug. Er wollte nur weg. Schnell und unvorhersehbar.
Doch das würde sich durchaus schwierig gestalten, denn Henry wusste es ja schon. Er wusste, dass Carsten vor hatte, zu fliehen. Wozu sollte Carsten sich dann noch die Mühe machen, den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten? Henry wusste es sowieso. Vor wenigen Minuten hatte Henry es ihm doch selbst prophezeit. Du rennst gleich nach unten und springst ins Auto. Luisa sitzt auf dem Fahrersitz. Sie wird losfahren, noch bevor du dich angeschnallt hast. Noch bevor du die Tür richtig verschlossen hast. So war es doch gewesen, das hatte er gesagt. Und genau das sollte gleich auch passieren.
Nur sah sich Carsten in einer Zwickmühle. Wie sollte er davonlaufen, wenn Henry genau wusste, dass er das versuchen würde? Er müsste unerwartet reagieren. Er müsste etwas tun, das Henry nicht vorhergesehen hatte.
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